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Der Reiz der Kontraste

Hans Werner Henze verkörpert ein großes Stück bundesdeutscher moderner Musikgeschichte. In seiner 1966 uraufgeführten Oper "Bassariden" hat Henze seine erste Erfahrung mit Werken Gustav Mahlers verarbeitet: den Reiz der Kontraste, das Nebeneinander von Trauer und Freude, die starken Emotionen. In der Neuinszenierung von Christof Loy sind die "Bassariden" der Höhepunkt der Münchner Opernsaison.

Von Wolf-Dieter Peter |
    Die Spannung zwischen apollinischer Klarheit und dionysisch entgrenzter Verzauberung - zwei Welterfahrungen: die von Vernunft und Ordnung einerseits sowie Rausch und Ekstase andererseits. Dementsprechend hat Hans Werner Henze in seinen "Bassariden" zwei Klangwelten gegeneinander gestellt, um den antik-griechischen Antagonismus allen menschlichen Daseins zu fassen: Bläserfanfaren gegen süß-schwebenden Schöngesang.

    Das war 1966 die seismografische Vorwegnahme der gerade wieder hochlodernden Diskussion um "1968". Wenn dann ein sensibel interpretierender Künstler wie Christof Loy auf diesen Antagonismus schaut, öffnet er das Zeitfenster noch weiter: Vor den ersten Takten zeigt ein fast 15-minütiger Stummfilm auf einem Zwischenvorhang wie auf einem Laufband Männer, Frauen und Kinder, meist grau bis schwarz ordentlich bürgerlich gekleidet - keine uniforme, aber eine "formierte" Gesellschaft. Dann fährt die Leinwand hoch - es war der abgefilmte Staatsopernchor, der nun in gleicher Kostümierung fast wie in Hellingers "Familienaufstellungen" auf der weiten leeren Bühne steht.

    Zwischen den ganz heutig kostümierten Figuren schwelen die Konflikte: zwischen dem autoritären Ordnungspolitiker Pentheus, seiner gelangweilt spöttischen Mutter Agaue, dem sich modisch transvestierenden Seher Teiresias und dem trocken hilflosen Ex-Herrscher Kadmos. Sie schwelen nur bis zum Auftritt des wie in sich selbst ruhenden Latin Lover-Fremden, der "das ganz Andere" verheißt und schönsingt - wie von Henze schon 1966 gewünscht, immer wieder einmal mikrofonverstärkt und weich verhallt im ganzen Theaterraum.

    Loys ganz auf die leere, weiße Plastikbahn in der Bühnenmitte reduzierte und konzentrierte Personenregie baut eine gefährlich leise Hochspannung auf. So wirkt allein die Entkleidung der Frauen bis auf ihre weiße Unterwäsche schon "enthemmt" genug. Sexuelle Selbstverwirklichung wird im wieder eingefügten Satyrspiel "Das Urteil der Kalliope" als Charade in Barock-Opernkostümen grotesk weiter gesteigert - und gipfelt im schauerlichen Mord Agaues am Sohn Pentheus. Blackout.
    Ohne jeden moralinsaueren Zeigefinger gelingt es Loy dann, die vermeintliche Rückkehr zur sogenannten "Normalität" in ihrer Oberflächenberuhigung wie in ihrer Verlogenheit zu entlarven: Alles ist ein in griechischer Namensgebung kostümiertes Gleichnis auf uns - auf unsere Vergangenheit in diktatorischen und autoritären Systemen samt Verdrängung - auf unsere Auf- und Ausbrüche in evasive und am Ende oft tödliche, ja rauschmörderische Pseudofreiheiten bis hin zu "Ehrenmorden" und Kindstötungen …

    Loy bezieht am Ende erschreckend ehrlich Stellung: Nach dem zerfleischten Herrscher Pentheus ist auch Dionysos als nur scheinbarer Heilsbringer - der zerstört "in den Trümmern der eigenen Rache" sitzt - einsam. Das scheinbar griechische Musiktheater ist zum herausfordernden Menetekel geworden.

    Ovationen für glänzende Solisten wie Gabriele Schnaut, Reiner Goldberg, Hanna Schwarz, überragt von dem herrlichen Dionysos-Tenor Nikolai Schukoffs und der beispielhaft textdeutlichen wie dramatisch packenden Pentheus-Studie Michael Volles. Ovationen für Chor, Orchester und Dirigent Marc Albrecht - und über alle Ovationen hinweg eine Verbeugung des 82-jährigen Henze vor Christof Loy und seinem Team. Zurecht: dies ist der Höhepunkt der Münchner Opernsaison.