Archiv


Der Rest vom Fest

In Avignon wird im Sommer überall Theater gespielt und geguckt. Das Festival d’Avignon will das Schauen auf das Theater neu schärfen und konditionierten. Und so haben die Poeten-Regisseure wie Joël Pommerat und Wajdi Mouawad das Wort, die weder nur Stücke schreiben oder inszenieren, sondern die Aufführungen komplett schreiben.

Von Eberhard Spreng |
    Da steht ein Conferencier im dunklen Anzug vor dem glitzernden Vorhang auf der Vorderbühne und kündigt für das Ende des Theaterabends seien Tod an. Aber was nun folgt, ist keine kohärente Crime-Story, sondern eine hingetupfte Folge von kurzen Szenen, Chansonauftritten, stummen Bildern mit einer Erzählerstimme aus dem Off, die sich nicht sofort in eine dramatische Folge und Logik fassen lassen.

    Im Gegenteil: Joël Pommerats Theater der Magie und der Wunder sucht einen assoziativen Zugang zur Wirklichkeit der Menschen im 21. Jahrhundert. Es erzählt von einem Mann, der auf der Höhe seiner Karriere als Top-Manager plötzlich von seiner Umgebung für verzichtbar gehalten wird und so wenn nicht sein Leben so doch seine Existenz verliert, von einer Frau, die sich operieren lässt, um den Erwartungen ihres Mannes besser zu entsprechen, und von ihm dann aber auf Stelle verstoßen wird.

    Pommerats Stück "Je tremble" scheut trotz seiner feenleicht dahinschwebenden Bilder keine Härte, um die Brutalität der zwischenmenschlichen Beziehungen in einer Epoche offen zu legen, die die Menschen zu selbstsüchtigen und verwirrten Egomanen gemacht hat, die das grundlegende Wissen um ihre Verbundenheit verloren haben. Nicht ohne Pathos und große Gefühle will dieses Kabarett der Schlüsselerfahrungen die Seelen aus dem mörderischen Irrgarten der individualistischen Wünsche und Begierde herausführen und das Theater zu einem Ort der Heilung machen. Ein großer Theaterabend steht damit am Ende der letzten Premierenserie in Avignon, die wieder einmal beweist, dass das klassische Theater der Arbeitsteilungen von Autor und Regisseur für die großen Theaterkünstler des Nachbarlandes obsolet geworden ist. Joël Pommerat:

    "Man hatte sich an die Idee gewöhnt, dass Theater immer auf einem Text basiert, der irgendwann auf die Bühne gebracht wird. Theater wurde also als ein Prozess begriffen, der mit dem Schreiben auf Papier beginnt, gefolgt vom Moment, in dem diese heilige Materie auf die Bühne kommt, wobei man dachte, dass der Autor auf keinen Fall geeignet erschien, seinen eigenen Text zu inszenieren, weil eine zusätzliche Instanz und eine dialektische Reibung zwischen Bühne und Text gefordert wurde. "

    Die Arbeiten der letzten Festivalwoche waren also von jenen Theatermachern geprägt, die weder nur Stücke schreiben oder inszenieren, sondern, wie Pommerat es nennt: Aufführungen schreiben, also für alle Elemente des Bühnengeschehens, vom Licht über die Bewegung, von den Musiken und Texten bis hin zum Bühnenbild die künstlerische Alleinverantwortung tragen.

    Mit simpelsten Elementen wie Tischen, Stühlen und Holzpaneelen arbeitet dabei François Tanguy, der in Le Mans seit langem ein eigenwilliges Theaterlabor unterhält. So als bräche unvermittelt die kleine Poesie des Lebens in ein Möbellager und in den Kostümfundus ein, lässt er in kurzen Szenen für Momente eine Welt entstehen und wieder zerfallen, eine Rumpelkammer für Melancholien, melodramatische Gefühlchen und vergangene Seelenzustände, inmitten schiefer Wände und angestoßen von einer Sammlung von Texten und Musiken aus den verschiedensten literarischen und musikalischen Horizonten. Anders als Tanguy, dessen kollagierte Arbeiten keinen narrativen Rest, keine Spur von einer erzählten Geschichte mehr enthalten, hat Wajdi Mouawad mit seinem Solo "Seuls" autobiografische Motive zu der ergreifenden Geschichte eines Exil-Libanesen zusammengeführt, der eine wissenschaftliche Arbeit über die Ästhetik im Theater des Robert Lepage schreiben will. In dieser Hommage an den berühmten Frankokanadier arbeitet Mouawad auch mit den Projektionen, Dopplungen und zauberhaften Verwandlungen, die Lepages Performances prägen, und verarbeitet aus seiner Perspektive des Exil-Libanesen seinerseits die in Lepages Theater virulente Frage nach Identität und biografischen Widersprüchen.

    "Das größte Problem für den inszenierenden Autor, so Wajdi Mouawad, ist, dass er wie versteinert auf die eigene Arbeit starrt, dass er sie auf der Bühne verteidigt, statt sie anzugreifen. Aber genau das ist bei Proben wichtig: Alles was ihm beim Schreiben irgendwie ans Herz gewachsen ist, wird plötzlich zum Feind. Und irgendwie sucht jeder Künstler letztlich nach einer Möglichkeit, seiner eigenen Diktatur zu entkommen. Dann wird gestrichen, Entscheidungen werden revidiert, ganze Monologe verschwinden."

    Nachdem Romeo Castellucci zu Beginn des diesjährigen Festivals die Rolle des künstlerischen Beirats in dem Sinne vorbildlich einlöste, dass er das Schauen auf das Theater neu schärfte und konditionierte, haben die Poeten-Regisseure wie Joël Pommerat und Wajdi Mouawad zum Schluss auch wieder das Wort und den Text rehabilitiert, die im Triumph von Castelluccis machtvollen Bildern verschwunden waren. Der letztere, Wajdi Mouawad, wird diesen Weg als künstlerischer Leiter des nächsten Festival d'Avignon fortsetzen.