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Der Roman der 22 Lebensläufe

"Imaginäre Lebensläufe", wie sie sich der französische Schriftsteller Marcel Schwob vor gut hundert Jahren ausgedacht hat, sind Biographien, die das Wesen des Genres, dem sie angehören wollen, unterwandern. Ohne einen durchgehend authentischen Tatsachenbezug vermögen wir uns Biographien auch heute noch kaum vorzustellen. Nicht so Marcel Schwob, der im Vorwort zu seinem unverwechselbar-eigentümlichen kleinen Buch schrieb, der Biograph habe sich nicht zu bemühen, wahr zu sein; er solle vielmehr selbst Schöpfer sein inmitten eines Wirrwarrs menschlicher Züge. Und so wählt Schwob Figuren aus der Geschichte aus, bevorzugt solche, über die wenig oder nichts bekannt ist, und erzählt ihre Leben noch einmal neu, mit dem Schwung der dichterischen Phantasie, einem Schuß dekadenter Verderbtheit und einer lakonischen Kürze, die in der französischen Literatur damals noch neu war.

Gernot Krämer |
    Vieles an diesen Erzählungen ist überliefert und wahr, anderes führt uns gänzlich in die Irre. Oft sind gerade die Dinge, die am wahrsten scheinen, die wir am liebsten glauben möchten, erfunden. Daß "Biographie" eine Fiktion sei, wie wir heute zu wissen meinen, hätte Marcel Schwob vielleicht nicht bestritten. Daß aber seine Erdichtungen letzten Endes die Wahrheit sagten, daß sie wirklicher und wahrhaftiger als das Leben selbst seien, obwohl, ja gerade weil sie das Authentische unentwegt an das Imaginäre verraten, darauf bestand er. Die ästhetische Attitüde, die darin zum Ausdruck kommt, ähnelt ein wenig der seines Freundes Oscar Wilde.

    Seit Jakob Hegner 1925 die Vies imaginaires, das späteste unter den wenigen literarischen Werken Marcel Schwobs, übersetzte, kennt man sein Buch unter dem Titel Der Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe. Daran hat auch der neue Verleger, Christian Pixis in München, nichts ändern wollen, obwohl sich die Zahl der Lebensläufe in der Neuausgabe auf dreiundzwanzig erhöht hat: In einer Zeitung fand sich vor einigen Jahren eine Erzählung, die Schwob in die Buchausgabe nicht aufgenommen hatte und die Eugen Helmlé jetzt nachträglich übersetzt hat.

    Von jeher sind es vor allem die Dichter gewesen, die Marcel Schwob verehrten. Unter seinen Zeitgenossen waren es so seltsam verschiedenartige wie Rainer Maria Rilke und Alfred Jarry, einige Jahrzehnte später dann Jorge Luis Borges, der gestand, seine Universalgeschichte der Niedertracht sei von Schwobs "Imaginären Lebensläufen" angeregt worden.

    Jeder dieser Lebensläufe ist ein wenig wie eine Legende erzählt, in der sich anschauliche und konkrete Dinge mit einer Art künstlich hergestellter Verschwommenheit verbinden. Charakteristisch ist die kühle und zuweilen ironische Distanz, die Schwob zu seinen Figuren hält: "Niemand weiß etwas über seine Geburt, noch wie er auf die Erde kam. Er erschien an den goldenen Ufern des Flusses Akragas, in der schönen Stadt Agrigent, ein wenig nach der Zeit, da Xerxes das Meer mit Ketten hatte züchtigen lassen. Überliefert ist allein der Name seines Stammvaters Empedokles, einer sonst unbekannten Persönlichkeit. Damit sollte wohl bezeugt werden, daß er ein Sohn seiner selbst war, wie es einem Gotte zukommt." So beginnt Marcel Schwob die Erzählung über "Empedokles, einen Mann von göttlicher Natur". Auf Empedokles folgen noch andere Gestalten der Antike, unter ihnen der Brandstifter Herostrat, die Zauberin Septima und der Dichter Lukrez. Der zeitliche Rahmen des Mittelalters wird neben anderen mit den Lebensläufen des Ketzers Frate Dolcino und des Straßenmädchens Kathrein durchmessen, die Indianerfürstin Pokahontas entführt uns in die Neue Welt und die Piraten des achtzehnten Jahrhunderts in die ihre, bis die beiden schottischen Massenmörder Burke und Hare zu Beginn des letzten Jahrhunderts den Band auf eine makaber-ironische Weise beschließen. Die Vorliebe Schwobs für ausgefallene, fragile, monströse Figuren ist nicht zu übersehen. Oft genügen ihm dabei vier oder fünf Seiten, um eine Figur mit einer plastischen Intensität zum Leben zu erwecken, die andere Autoren in dickleibigen Romanen nicht erreichen.

    Tragik und Komik wohnen in diesem Buch nah beieinander. Im Grunde berichtet jeder der dreiundzwanzig Lebensläufe die Geschichte eines, wenn auch zuweilen großartigen, Scheiterns; keiner der Lebenspläne geht auf, niemandem gelingt es, dauerhaft festzuhalten, was er an sich gebracht hat, und nur die wenigsten von Schwobs Figuren - Helden möchte man sie gar nicht nennen - hauchen ihr Leben friedlich aus. Fast alle scheinen in einer Art Wahn befangen, der sich erst in den oft düsteren Schlußpointen auflöst. So muß das Begräbnis des ebenso notorischen wie erfolglosen Schatzsuchers William Phips mit dem einzigen Silberbarren bezahlt werden, den er geborgen hat. Und das bemalte Stück Pergament, das man nach seinem Tod in der Hand des ewig nach der vollkommenen Form suchenden Malers Paolo Uccello findet, erweist sich als ein kaum zu deutendes Gekrakel. So wird der letzte Satz der Erzählung oft zum Epilog, zum tragikomischen Nachruf auf die Existenz des Verblichenen.

    Einzig dem Mörderduo Burke und Hare, das seine Morde als Kunstwerke inszeniert und die Opfer dann dem Universitätsarzt Doktor Knox zur Sezierung im Anatomiesaal verkauft, glückt dank einer unvermuteten Intervention des Erzählers ein Abgang auf dem Scheitelpunkt seiner Karriere:

    "Hier werde ich", schreibt Schwob, "im Widerstreit mit der Mehrzahl der Biographen die Herren Burke und Hare mitten in ihrem Glorienschein belassen. Warum eine so prächtige Kunstwirkung zerstören, wozu, immer matter, die beiden bis an das Ende ihrer Laufbahn weiterführen und ihren Niedergang und ihre Enttäuschungen aufdecken? Man braucht sie nicht anders als mit ihrer Maske in der Hand zu sehn, durch die Nebelnächte irrend. Denn das Ende ihres Lebens war gemein und ähnlich dem so vieler andrer. Es scheint, daß der eine am Galgen starb und daß der Doktor Knox die Universität Edinburgh verlassen mußte. Mister Burke hat der Welt keine andern Werke geschenkt."

    Zu unserem großen Bedauern hat auch Marcel Schwob nach dem Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe der Welt keine andern Werke mehr geschenkt. Er lebte noch bis 1905, von einer schweren Krankheit gezeichnet, die wahrscheinlich Tuberkulose war. Bei seinem Begräbnis zog Alfred Jarry, um seiner freundschaftlichen Verehrung Ausdruck zu geben, ausnahmsweise die Radlerhose aus den Socken und setzte einen Pelzhut auf. Er freute sich, weil eine Schleife auf dem Sarg die Aufschrift des Théâtre de la Gaîté trug.