Dienstag, 30. April 2024

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Der schiefe Turm von Babel. Geschichten vom Übersetzen, Dolmetschen und Verstehen

Dass Goethe - wieder einmal er! - mit dem von ihm gefundenen Begriff der "Weltliteratur" den Austausch nationaler Literaturen wenn schon nicht erstmals in Gang gesetzt, so doch erheblich gefördert und damit in der Folge den Beruf des Übersetzers ge-schaffen hat - wir wissen es. Auch dass Übersetzer für ihre -umfassende Kenntnisse in der Originalsprache und einen siche-ren Umgang mit der eigenen erfordernde - Arbeit so gut wie nie ausreichend honoriert werden, konnte man immer wieder klagen hören. Das hat sich inzwischen, wenn auch nie ganz zufriedenstellend, gebessert: Immerhin rückte der Name des Übersetzers aus der kleingedruckten Verborgenheit des Impressums deutlich sichtbar auf der Titelseite unter den des Autors.

Kyra Stromberg | 16.01.2001
    Dass mit dieser Tätigkeit durchaus eigenwillige Qualitäten verbunden sind, lässt sich neuerdings auf höchst unterhaltsame Weise aus einer Anthologie erfahren, die Ragni Maria Gschwend, vorzüglich ausgewiesene Übersetzerin aus dem Italienischen, in den Straelener Manuskripten herausgegeben und durch eine hintersinnige eigene Geschichte bereichert hat.

    Es ist keine Beispiel Sammlung besonders gelungener Texte prominenter Übersetzer. Vielmehr wird - wie der Titel "Der schiefe Turm von Babel" augenzwinkernd verspricht - der Zustand vor der dann unerlässlichen Tätigkeit der Interpreten auf mannigfache Weise geschildert: der Zustand babylonischer Sprachverwirrung, der Zustand des Kannitverstan, des Missverstehens und der Missverständnisse, Hier werden nicht die Erfahrungen korrekter Philologen aufgeführt, sondern die der Sprachversessenen, Sprachtüftler, Sprachabenteurer. Spracherfahrung von "außen" vom Klang her fürs fremde Ohr, zum Beispiel, wie in Kurt Tucholskis Marginalie "Le Lied", in der man den grauenhaft krächzenden, klangarmen Konsonantismus des Deutschen vom französischen Parodisten vorgeführt bekommt.

    Jedenfalls sind es Erfahrungen von Leuten, denen der Zustand leichten - temporären Irreseins nicht fremd ist, wenn sie, dem Gegenstand, dem Wort, dem Sinn, dem Klang, der Bildhaftigkeit des Originaltextes auf der Spur, erkennen müssen, dass alles Übersetzen nur eine Annäherung an das Original ist - auf Haaresbreite vielleicht, aber dieser Abstand, dieser Unterschied bleibt - eine ebenso schrecklich wie eigentlich wieder schöne Erfahrung, und "Three cheers for the little difference"! So bleibt, ach Europa!, das Wesentliche deines Wesens erhalten.

    Erstaunlich ist, in welchem Ausmaße, welcher Fülle, welcher Vielfalt und in welch abgelegenen Bereichen die Herausgeberin für ihr Thema fündig wird. Mit Babel, wie gesagt, beginnt es: Sprachverwirrung und interpretatorische Entwirrung. Dass mit der rapiden Zunahme der Druckerzeugnisse während des 19, Jahrhunderts auch die Methoden des Übermittelns von einer Sprache in die andere sich verändern, sich beschleunigen müssen, wie der - begreifliche - Wunsch entstand, den komplizierten Prozess zu vereinfachen, lässt sich dem köstlichen Stück von Wilhelm Hauff "Die Scheerauer Übersetzungsfabrik" entnehmen, worin der Autor Gelegenheit hat. dem vielgelesenen, vielschreibenden Zeitgenossen Walter Scott, ganz kollegial, eins auszuwischen. Es klingt ganz aktuell, wenn gefragt wird und ein Kundiger antwortet: "Wird vielleicht durch Verteilung der Arbeit Zeit gewonnen?" Einmal dies... und sodann wird alles mechanisch betrieben; der Professor Lux ist sogar gegenwärtig beschäftigt, eine Dampfmaschine zu erfinden, die Französisch, Englisch und Deutsch versteht, dann braucht man gar keine Menschen mehr."

    Nur noch ein Schritt und wir sind beim allwissenden, alles könnenden Computer. Ach, wäre er es nur? Aber von Datenwüsten und unübersehbaren Informationsmassen weiß der Übersetzer Reinhard Kaiser ein Lied zu singen, Allerdings räumt er ein, dass die Verwirrungen im Netz auch einmal dazu beitragen können, einem endlich zur richtigen - Bedeutung eines Worts zu verhelfen. "Der Wust lebt", teilt er voller Glück mit. Es kann auch anders kommen, wie sich der Story von Volkmar Braunbehrens entnehmen lässt, in der ein Lyrik-Rezensent beim Nachvollziehen der Übersetzung eines Gedichts von John Donne in deren Sog, beziehungsweise eine totale Stagnation gerät und sich bei der Erkundung eines anzüglichen Details auf der lexikalischen Suche nach einem -Mittel gegen handgreifliche sexuelle Triebe (und Umtriebe) erschöpft.

    Die Figur eines Sprachenthusiasten, der an die Grenze seines kreativen Sprachvermögens stößt, beschreibt auch Peter Handke in dem Stück "Nichts Eigenes mehr!" Ein alter Übersetzer trifft sich mit dem Autor in dessen Wohnort in einer Kneipe, um Einzelheiten zu klären und schildert ihm und einem unsichtbaren Publikum seine Erlösung aus der Fron des Schreibens und das Glück des Übersetzens: "Nur im Übersetzen eines sicheren Textes genieße ich meine Geistesgegenwart und fühle mich klug. Zwar quäle ich mich immer wieder, aber ich leide keine Qualen mehr... Der Übersetzer hat die Gewissheit, er wird gebraucht. Übersetzer, der ich bin und nichts sonst, ohne Hintergedanken, bin ich ganz, der ich bin, habe, während ich mir seinerzeit als Verräter vorkam, das tägliche Erlebnis, treu zu sein." Der Schluss wirft ein Zwie-licht auf die Szene, spielt an auf die einstige Vertreibung des alten Mannes aus dieser Stadt, auf seine Vertreibung auch aus der einst eigenen Sprache

    Die Spitze traduktorischer Ansprüchlichkeit hält in dieser Versammlung zweifellos Vladimir Nabokov, der zwar in Dieter E, Zimmer einen adäquaten Übersetzer seiner eigenen Arbeiten fand, aber wirkliche große Dichtung - wie Shakespeare oder Puschkin - übersetzen zu wollen, für absurd hielt, Da nähert er sich dem schnöden (Vor)Urteil "traduttore - traditore": Übersetzen als Verrat an der Originalität des Originals. Dass das Verhältnis zwischen Autorund Übersetzer immer keineswegs einfach und auch nicht immer ungetrübt ist, dass immer noch erstaunliche Patzer und (Nach)-Lässigkeiten selbst bei qualifizierten Übersetzern vorkommen, wissen diese, die Autoren und nicht zuletzt die sprachsensiblen Leser durchaus. Freund- und Feindschaften zwischen den Übersetzern und ihren Autoren (oder umgekehrt) werden hier an illustren Beispielen von Goethe bis zu Peter Nadas nachgewiesen.

    Mit einem witzigen und wie immer Kenntnis verratenden Phantasiestück zu Hermann Hesses "Steppenwolf' reiht sich die Herausgeberin als Autorin und Übersetzerin im "Vermischten" ihres Buches ein. Entstanden ist ein Lesebuch von großer Vielfalt, ein vergnügliches und nachdenkliches Divertimento mit exakten Quellennachweisen zum Weiterlesen, womit sich die "Straelener Manuskripte", die Edition des Übersetzerkollegiums, ein weiteres Mal profilieren und empfehlen.