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Der Schmerz ist ein dunkler Wald

Es beginnt alles wunderschön: Händels berühmte Arie "Lascia ch'io pianga" aus der Oper "Rinaldo" ertönt: Vom grausamen Schicksal ist darin die Rede und von der Sehnsucht nach Freiheit. Vom Leiden und von Angst ...

Von Rüdiger Suchsland | 10.09.2009
    Das Bild auf der Leinwand ist in Schwarzweiß gehalten, mit klaren, kräftigen Kontrasten. In Zeitlupe sieht man in Nahaufnahmen ein Paar beim Sex unter der Dusche, dazu Spielzeug, ein Kinderzimmer ... Draußen schneit es, Schnee kommt hinein durchs offene Fenster, auf dem Tisch stehen drei Figuren: "Schmerz", "Trauer", "Verzweiflung" heißen sie ...

    Ein Glas stürzt um, und Wasser läuft aus. Ein Kind verlässt sein Bett. Ganz sachte deutet sich inmitten all der Schönheit die Katastrophe an. Denn das Kind stürzt durchs Fenster in den Schnee zu Tode und markiert den Sex für alle Zeiten als Sündenfall.

    Dies alles war nur der Prolog, die ersten Minuten zu Lars von Triers neuem Film "Antichrist".

    In der strengen Struktur von vier Akten, plus Epilog erzählt der Däne von jenem Paar, das sein Kind durch einen Unfall verliert und das sich in einem Teufelskreis aus Trauer, Schuldvorwürfen und Wahn verstrickt.

    In der letzten halben Stunde aber beginnt der eigentliche Skandal des Films, der viele Kritiker bei seiner Premiere bei den Filmfestspielen von Cannes staunen, schweigen, kopfschütteln und mitunter auch einfach nur schäumen ließ.

    Bis dahin ist dies ein zähes Beziehungsdrama: intensiv gespielt von Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe aber durchaus im gewohnten Stil des europäischen Autorenkinos zeigt es fast kammerspielartig die Selbstzerfleischung des Paares, erzählt von missglückter Psychotherapie und einer Wanderung in einen symbolüberfrachteten Wald namens "Eden".

    Dann aber beginnt das Chaos zu regieren, und der Film wandelt sich in einen Horrorfilm mit Splatterelementen.
    Schon zuvor hatte man expliziten Sex gesehen, nun sieht man unter anderem einen Penis Blut ejakulieren, einen Männerfuß, an den ein Mühlstein festgebunden wird, eine Frau, die sich selbst verstummelt.

    Dies sind nur die Grausamkeitshöhepunkte des Films. Was genau in Eden passiert, liegt im Auge des Betrachters: Der "Antichrist" des Titels, das könnte die Frau und Mutter sein, eine Hexe im religiösen Wahn. Es könnte auch der Gatte sein - stellvertretend für all jene Männer, die über Jahrhunderte wie auch diesmal Frauen quälten, sexuell freizügige, emanzipierte Weiber zu Hexen stempelten, folterten, verbrannten. Hier setzt sich die Frau einmal zur Wehr.

    Aber der Schmerz ist ein ganz dunkler Wald. Und darum könnte sich der "Antichrist" sogar im Kind selbst verbergen, das am Anfang so ruhig fast lächelnd und mit überlegenem Blick sich in die Tiefe stürzte.

    Blut und Sex nahe an der Pornographie hatte Lars von Trier schon im Vorfeld angekündigt - ob das nun als Drohung gemeint war oder als Versprechen, darüber kann man sich bei diesem Mann eigentlich nie sicher sein. Schon immer war von Trier gut gewesen für Provokationen auf höchstem Niveau. So offen wie nie, ließ der Meister nun verlauten, würde er seine eigene Seele entblößen, so tief wie nie, könne man nun in die Abgründe seines Herzens blicken.

    Tatsächlich: Der Film ist eine erschütternde Erfahrung. Eine erschöpfende auch. Manchmal geht er einem einfach auf die Nerven. Im Rückblick kann man dann sagen: Das war Absicht. Von Trier wollte uns Betrachter einlullen, uns vorbereiten auf die Aufgaben, die noch kommen.

    "Antichrist" ist gepflastert mit Zeichen in barocker Fülle und Plastizität: Man sieht sprechende Füchse, erschlagene Vögel, ein Reh dem eine Todgeburt aus dem Bauch heraushängt, Goya-Zeichnungen anderes über Wahnsinn, Hexen und böse Priester. Man hört einen Dialog über den Gegensatz von Natur und Vernunft.

    Aber auf die Frage, warum er diesen Film gemacht hat, bleibt von Trier vorerst die Antwort schuldig. So fragt man sich vorerst: Ist Lars von Trier ein Frauenfeind oder doch ein heimlicher Feminist? Ist er ein perverser Zyniker oder ein Genie? Nur die Ableitung von alldem aus der Biografie Lars von Triers ist etwas zu primitiv.

    Unter anderem ist das natürlich egozentrisch, arrogant und manieriert. Aber einmal mehr entpuppt sich von Trier als Kino-Hexer, der sein Publikum verzaubert und dabei in Rage versetzt. Von Trier erzählt von dem Zusammenhang vom Schönen und vom Bösen als Erzählkraft, und von der Bedeutung des Rätselhaften, der Fantasie ...

    Sein Film will genau das, was alle Kunst am Ende will: das Ausreizen menschlicher Extreme und die Konfrontation mit ihnen. Und die allerinteressanteste Erfahrung nach der Begegnung mit "Antichrist" ist nun die Unsicherheit darüber, was man von dem Film zu halten hat. Wenn Kunst das leistet, ist sie schon gewonnen.