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Der Schrecken der Provinz

In dem Roman "Bodenlos" schildert Thomas Lang den Schrecken der Provinz, die bleierne Zeit der 80er-Jahre: Die Jugendlichen des kleinen Ortes Füchten stehen am Beginn des Erwachsenseins, aber sie wollen nicht leben, sie sehnen sich nach dem Tod.

Von Ursula März | 31.01.2010
    Füchten ist der Name der fiktiven Kleinstadt, in der "Bodenlos", der neue Roman von Thomas Lang spielt. Die Stadt liegt im Rheinland, etwa 40 Kilometer östlich von Köln, bei sehr klarem Wetter kann man von einem Turm aus den Rhein sehen oder es sich zumindest einbilden. Füchten ist in diesem Roman aber auch das Synonym für den Schrecken der Provinz, für Starre, Ereignislosigkeit, für ein defensives Lebensgefühl. Der Name der Stadt sagt darüber schon einiges aus: Ein Buchstabe mehr und er verwandelt sich entweder in das Verb flüchten oder in das Verb fürchten.

    Auch in den Achtzigern war die Stadt keine Perle. Nicht einmal zehntausend Menschen bewohnten das lange schmale Tal mit dem weitgehend verrohrten, halb vergessenen Bach im Grunde. Die kleinen, zweigeschossigen Häuser wirkten schon damals mehr oder weniger baufällig. Etwas höher an den Talhängen lagen die Wohnviertel, die ab den Fünfzigerjahren entstanden waren und sich durch nichts als Gesichtslosigkeit auszeichneten. Kein Mensch verirrte sich durch Zufall zwischen die hohen Thujen- und Buchenhecken, von denen man denken konnte, sie wären aus Scham über die allgemeinen architektonischen Versäumnisse gepflanzt worden.

    Außerdem gab es noch ein kleines Viertel, eigentlich nur einen Straßenzug mit Häusern aus der Zeit vor neunzehnhundertvierzehn, die mit ihren klassizistischen Stilelementen im Gesamtensemble Fremdkörper blieben. Noch mehr aber störten die vereinzelten Versuche, Neues in die Stadt zu bringen. Die an sich bescheidenen Wohntürmchen aus den Siebzigern oben auf den Hügeln und der streng funktionale Klinikneubau wirkten im Verhältnis zu den dörflichen Proportionen der sonstigen Bauten grotesk. Das größte Haus der Stadt, ein mehrstöckiges, ohne jedes Formgefühl ins Stadtzentrum geklotztes Mehrzweckgebäude, wäre um ein Haar zur Bauruine geworden. Das Haus bot immerhin Platz für ein paar größere Geschäfte und wenig beliebte Mietwohnungen. Der angeschlossenen Tiefgarage wurde wegen zu hoher Deckenhöhe nach kurzer Zeit die Betriebserlaubnis entzogen. Obwohl sie rundum mit schwarzem Kunstschiefer verkleidet war, wirkte diese Betonburg von Anfang an schäbig. Jan hatte seinen Vater einmal sagen, man könne, wenn man vorn in dem Bau einen Eimer Wasser auskippe, dieses hinten komplett wieder auffangen, so schief sei der Boden.


    So sachlich realistisch, fast journalistisch diese Stadtbeschreibung sich entwickelt, so unübersehbar schlägt sie zum Ende hin einen Bogen zum Metaphorischen und Allegorischen. Die Mehrzweckhalle dieser literarischen Kleinstadt, schwarz verkleidet, halb leer stehend, ist ein Unding aus Ruine und Mausoleum, eine architektonische Grabesstätte, hervorgebracht von den Bausünden der 70er-Jahre, die in westdeutschen Kleinstädten für noch größere und folgenreichere Verwüstungen sorgten als in Großstädten.

    Aber nicht nur die Kulisse, in der sich "Bodenlos", der vierte Roman des 1967 in der rheinischen Kleinstadt Nümbrecht geborenen Schriftstellers Thomas Lang entfaltet, wird hier pointiert gezeichnet. In dem gespenstischen Gebäudemonstrum, das die Füchtener Innenstadt dominiert, spiegeln sich die zentralen Themen des Romans: Tod und Sterben und zwar in jungen Jahren. Das Gebäude, das gleichsam bei der Fertigstellung schon einer Ruine ähnelt, versinnbildlicht die rabenschwarze Seelenlage, von der die Romanfiguren beherrscht werden. Sie sind jung, 17, 18, 19 Jahre alt, ihr Leben hat noch nicht begonnen, sie stehen am Eingang zur "Erwachsenheit", aber sie wollen sie nicht betreten, sie wollen nicht in, sondern aus dem Leben, sie leiden unter adoleszenter Todessehnsucht, dies aber nicht in einer Epoche romantischer Verklärung, sondern in einer Epoche, die dem historischen Gedächtnis nah ist: In den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts.

    Die zweite Stunde ging zu Ende, Jan blieb sitzen und schrieb weiter. Es war längst niemand mehr in der Klasse. Als das Blatt bis zur letzten Ecke voll war, ging er zu den Fenstern, einem Band von Schiebeelementen mit Rahmen aus dunkel eloxiertem Aluminium, durch die es zog und die schlecht auf den Führungsschienen glitten. Ein paar waren so verklemmt, dass sie sich gar nicht öffnen ließen.

    Als Torsten ihn fand, wahrscheinlich zufällig, hatte Jan den Kopf durch einen Fensterspalt gesteckt und schob mit einer Hand am Griff das Schiebeelement zu. Auf diese Weise strangulierte er sich selbst. "Scheiße, Mann, was machst du da?" Jan ließ den Fenstergriff los. Der Druck blieb jedoch. Jan hatte das Gefühl, sein Kehlkopf würde platzen. Er spürte, wie der Spalt sich öffnete und Torsten ihn von der Fensterbank zog. Er hustete, auch das tat weh. "Bist du ok?" - "Hrr-gh." Jan grinste blöde und musste gleich wieder husten. "Komm, pack deinen Kram und lass uns rausgehen." Torsten ging an Jans Platz und begann, die paar Sachen, die noch dalagen, in die schlabbrige Umhängetasche zu stopfen. Er stellte keine Fragen. Torsten war der einzige Mensch, vor dem es Jan nicht peinlich erschien, in dieser Lage erwischt zu werden. Als der Blick seines Freundes über die offen daliegenden Blätter glitt, zog er für einen Moment die Brauen zusammen, dann stopfte er sie in die Tasche und versuchte ein Lachen. "Was ist das für ein Schwachsinn, ey? Sterben, ich will sterben." Wir sind doch alle längst tot, weißt du das nicht? Lauter Puppen.


    Mit einiger Subtilität, fast lautlos, wie nebenbei und deshalb umso unheimlicher, entwirft der Roman eines wahres Szenario des Todes. Drei Kleinstadtjugendliche, erfährt der Leser, kamen kurz hintereinander bei Verkehrsunfällen auf der Landstraße ums Leben, ein Mitschüler von Jan und Torsten stirbt im Lauf der Romanhandlung ebenfalls bei einem nächtlichen Verkehrsunfall. Torstens älterer Bruder hat Selbstmord begangen, sein jüngerer Bruder bringt sich in der zweiten Romanhälfte um - woraus sich nach der Logik der Ereignisse die düstere Frage ergibt: Und wann ist Torsten dran? Zu sterben scheint für die Figuren dieses zeitgenössischen Entwicklungs- und Bildungsromans die nahe liegendere Option zu sein als zu leben, womit die Gesetze der Gattung genau genommen auf den Kopf gestellt werden. Ein zugleich trüber und gnadenloser Nihilismus liegt über dem Milieu der Jugendlichen und Gymnasiasten der im Abseits liegenden deutschen Kleinstadt.

    Auf dem Weg zur Theke zog er das Buch aus der Tasche. "Gibst du mir noch ein Bier, ich geb dir das dafür." Er hielt den schmalen roten Band hoch. "Ich les keine Bücher. Was ist"n das?" Benni fasste es nicht an, er packte Jans Handgelenk und zog seinen Arm samt Buch heran. "Der Fremde. Fremde interessieren mich nicht." – "Das ist das beste Buch aller Zeiten. Über ... es geht damit los, dass seine Mutter gestorben ist." "Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht." Jan konnte die ersten Sätze noch, aber er konnte sie nicht mehr zitieren ohne zu lallen. "Das tut mir leid." – "Was?" – "Das mit deiner Mutter. Unter diesen Umständen." -# Nicht meine Mutter. Seine, Mersaults Mutter. Er erschießt einen Araber, und er wird dafür hingerichtet." – "Von wann ist"n das?" – "Von Camus." – "Von wann, nicht von wem."

    Der 18-jährige Jan ist die Hauptfigur des Romans, der zwar in der dritten Person erzählt ist, sich aber so nah an Jans Perspektive, an seine Gedanken- und Erfahrungswelt hält, dass er einer Ich-Erzählung nahe kommt. Jan ist melancholisch, vergrübelt. Das letzte Schuljahr, das er bis zum Abitur absolvieren muss, liegt bleiern vor ihm. Die Romanhandlung setzt mit dem Beginn der Sommerferien ein, die mindestens so bleiern vor Jan liegen wie die anschließende Schulzeit. Andere aus seiner Klasse fahren in den Urlaub, in den Süden, haben eine Freundin, mit der sie das gemeinsam tun, Jan bleibt zu Hause, jobbt in den Ferien im Elektrogeschäft der Kleinstadt. Wahrhaft keine abenteuerliche, wilde, befreiende Aussicht für einen jungen Mann - knapp zwei Jahrzehnte nach 68, nach dem antiautoritären Aufruhr und der sogenannten sexuellen Revolution.

    Jan ist der Introvertierteste der kleinstädtischen Jugendclique, er ist vergrübelt, einzelgängerisch, voller Selbstvorwürfe und Selbstzweifel, der wichtigste betrifft seine sexuelle Unerfahrenheit. Jan hatte noch keine Freundin - von Sehnsüchten und Wünschen gemartert, weicht er zugleich Annäherungen von Mädchen aus. Seine heimliche Liebe gilt einem japanischen Mädchen, das mit seiner Mutter zu Romanbeginn nach Füchten gezogen ist, in Jans Nachbarschaft wohnt und neuerdings in seiner Schulklasse ist. Kiku und Jan kommen sich näher, verwirrt merkt Jan, dass seine Gefühle für Kiku eher platonisch als erotisch sind, er verehrt Kiku, in ihrer Exotik spiegelt sich sein diffuses Fernweh.

    Am Scheitelpunkt der Kurve, nicht weit von der Stelle, an der sich in einem schützenden Fichtenwäldchen die Bühne verbarg, sah er das Mädchen plötzlich vor sich. Er traute seinen Augen, nicht einen Moment lang zweifelte er, dass sie es war, die da über die Sträucher gebeugt stand, als wollte sie Beeren pflücken. Sie erschrak nicht, sie lächelte ihm entgegen. Wie bei einem heimlichen Stelldichein begrüßten sie sich verstohlen.

    Thomas Lang, der im Jahr 2005 für einen Auszug aus seinem Roman "Das Seil" mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, ist ein Autor, der mit der Ruhe und der technischen Disziplin eines Konstrukteurs sein Erzählmaterial organisiert. Seine stilistisch unaufgeregten, sprachlich eher leisen Romane und Prosatexte ähneln bisweilen Versuchsanordnungen, denen es indes - und das ist das Besondere ans Langs Literatur - keineswegs an Empathie für die Figuren mangelt. Ein wichtiges Konstruktionselement in der Versuchsordnung von "Bodenlos" betrifft das Verhältnis zwischen Jan und seiner älteren Schwester An. Eine Spur mythisches Wälsungenblut fließt durch die Adern dieser Kleinstadt- und Jugendgeschichte.

    Jedoch, als hätte der Gleichklang ihrer Namen tatsächlich Wirkung gezeigt, waren die beiden sich nah und liebten sich, wie Geschwister sich nur lieben können. Er war vier Jahre jünger als sie, dreidreiviertel, wie er als Junge häufig betonte, und er sah zu ihr auf, er hing von ihr ab, er lernte alles von ihr. Er spürte das auch und sein schmaler Trost in den frühen Jahren nährte sich ganz aus dem Umstand, dass An in Jan enthalten war und nicht umgekehrt.

    Erst als Erwachsener erkannte er, dass seine Schwester sich von ihm auch im Wesen unterschied. Von außen betrachtet lag das auf der Hand: Sie war forsch, eigensinnig, mit einem starken Drang nach Unabhängigkeit; er dagegen scheu und vorsichtig. Wenn er zu ihr flüchtete, weil er die Stupidität der Schule nicht mehr ertrug - sie fälschte für ihn die Unterschrift der Mutter, solange er noch nicht achtzehn war -, saß er oft stundenlang da und sie sprachen kaum ein Wort, sie mussten nicht sprechen. Für An war Jan, jedenfalls glaubte er das, wie ein Stück von ihrem Inventar, ein teures Stück, über das man sich freut, wenn es aus dem Vergessen auftaucht. Sie dagegen war für ihn die große Lehrerin, er sah ihr zu, er saugte ihre Aura ein, ihre Bewegungen, ihre seltenen Worte - er wollte sein wie sie. Es hatte nichts mit einem Entschluss zu tun oder einem Entwurf, es passierte; Jan war das Blatt auf einer von dunkler Farbe glänzenden Matrize, in die An ihr Muster geprägt hatte und es nun durch einfaches, absichtsloses Drehen ihrer selbst immer stechender auf ihm abbildete. Und ihr zu gleichen - abgesehen von ein paar Details, die seine aufkeimende Männlichkeit betrafen - schien ihm gut, schien ihm geradewegs das einzig Mögliche. In Ans und Jans Umgebung war indes alles, alles Lüge. Es konnte gar nicht anders sein. Kurz nachdem Jan sich in der Garage beinahe vergiftet hatte, fuhren die Geschwister zum Fotografieren in den Wald.


    Ein Vorhaben, das an das berühmteste Geschwisterpaar der Märchenliteratur erinnert, an Hänsel und Gretel, die von den eigenen Eltern im Wald ausgesetzt werden und von einer Hexe fast verspeist. Solche Spuren und Hinweise im Subtext, gleichsam im Untergeschoss der Erzählung, dienen der Intensivierung und der stofflichen Weite des Romans ebenso wie sein historisch-politisches Gewölbe.

    Der verklemmte, verzagte, fast möchte man sagen: festgefahrene Zustand, in dem sich Jan befindet - ein Zustand, den seine lautstarken Kumpels und Mitschüler nur kaschieren - spiegelt die Mentalität des Jahrzehnts, in dem der Roman spielt, das gesellschaftliche Gefühl erstarrter Furcht. Denn die 80er-Jahre waren nicht nur die Ära von New Wave und Dauerparty, von "Modern Talking", Dekonstruktivismus und aberwitzigen Schulterpolstern. Es war die Ära des NATO-Doppelbeschlusses, des zugespitzten atomaren Rüstungswettlaufs, die Ära von Pershing II, der Stationierung von Mittelstreckenraketen. Die Ära, in der Begriffe wie "atomarer Holocaust" und "Euroshima" in der politischen Auseinandersetzung auftauchten. Es war die Ära von Helmut Kohl, der am 1. Oktober 1982 ins Bundeskanzleramt gewählt wurde - und es war die Ära der großen bundesrepublikanischen Friedensdemonstrationen. 300.000 Menschen versammelten sich am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten, um gegen den Rüstungswettlauf und für atomare Abrüstung zu demonstrieren. Es war die größte Demonstration, die es bis dahin je in Deutschland gegeben hatte und sie verlief vollkommen friedlich. Sie war der Auftakt und das Vorbild für die Protestmärsche, die es bis weit in die 80er-Jahre hinein in zahlreichen deutschen Städten gab. Der Kalte Krieg reicht mitten hinein in die Theater-AG des Gymnasiums, das Jan besucht. Die atomare Drohung, die Destruktionskraft der Kernspaltung, wird in der Gruppe zur Realität.

    Wie nicht anders zu erwarten, ging es um die Anti-Nachrüstungs-Demo, die am folgenden Samstag stattfinden sollte. Eine Volksversammlung für den Frieden in Stuttgart, Hamburg, West-Berlin und vor allem in Bonn, wo schon in den letzten beiden Jahren Hunderttausende demonstriert hatten. Der Wahnsinn der immer weiter anschwellenden Waffendepots musste ein Ende nehmen. Schon jetzt verfügten die Blockstaaten über ausreichend Nuklearwaffen, um die Erde mehrfach zu zerstören. Aber sie wollten immer-immer mehr. Über die Wichtigkeit der Angelegenheit waren sich alle einig, nicht aber über den weiteren Verlauf des Nachmittags. Die Gruppe spaltete sich schnell. Ein Teil meinte, den Nachmittag für die politische Diskussion nutzen zu müssen. Andere wollten neue Szenen entwickeln, die den Bezug des Theaterstücks auf die neue Mentalität in den konservativ regierten Ländern Europas deutlich machen sollten. Der Rest wollte einfach weiterproben. Andreas verteidigte dabei als Einziger die Politik der Raketenstationierung und war mit seinen Ansichten bald jämmerlich isoliert. "Geh doch zum Bund", schrie Stephan ihn an, "da kannst du dich auf eine Pershing binden und auf den bösen Feind schießen lassen". - "Geh doch BWL studieren", sagte Cordula. Schließlich teilte sich die AG. Die Aktivisten gingen zusammen weg. Diejenigen, die blieben, wollten tags darauf ebenso an den Demo-Vorbereitungen teilnehmen.

    "Bodenlos" ist der Titel des Romans - und zugleich der Nachname seiner Hauptfigur, sie heißt: Jan Bodenlos. Den Witz, ihn "Jan Hodenlos" zu nennen, lassen sich seine Mitschüler natürlich nicht entgehen. Egal, was es nun ist, was Jan fehlt, ein Fundament, auf dem er sich sicher ins Leben bewegen könnte oder geschlechtliche Identität - der Roman porträtiert ihn als jungen Mensch mit Defizit, der dieses mit nichts anderem auszugleichen sucht als mit Kunst, mit Literatur. Ohne jedes Pathos verknüpft Thomas Lang diese Adoleszenzgeschichte mit der Dramaturgie eines Künstlerromans. Die küchenpsychologische Einsicht, dass künstlerische Produktion auf Sublimation beruht, wird hier auf plausible Weise bestätigt.

    Er klappte sein Notizbuch auf und las ein paar Verse, die er verfasst hatte. Sie waren ihm peinlich. Für ein noch zu schreibendes besseres Gedicht notierte er sich "Gestammsel" als Reimwort auf Amsel. Jan hörte, wie die Hunde in den Garten kamen. Sie sprangen aufgekratzt herum, demnach begleiteten sie jemand. Ein warmes Gefühl schoss in seinen Bauch, er wusste schon, bevor er sie sah oder hörte, dass es nur An sein konnte. Schnell klappte er die Klappe zu und setzte sich drauf. Dabei war seine Schwester die letzte, von der er eine blöde Bemerkung über seine Schreibversuche zu befürchten hatte. Als sie durch das Laubenfenster hereinsah, zeigte sie keine Spur der Überraschung.

    Der Leser ahnt, auf welches Drama die Geschichte des Romans zwangsläufig zielt, in welchem Ereignis sich die narrativen und die metaphorischen Fäden verknüpfen: Die suizidale Todessehnsucht von Jan und Torsten; das klaustrophobische Kleinstadtgefühl und der tödliche Fluchtinstinkt, der Jugendliche reihenweise dazu bringt, auf den Ausfallstraßen der Stadt mit wahnwitzigem Tempo herumzurasen; die Geschwistersymbiose von An und Jan, der die beiden Buchstaben des Namens der Schwester gleichsam aus seinem eigenen Namen vertreiben muss, um als eigenständige Person zu überleben. Vollkommen unspektakulär tritt das Drama ein, das alles verändert. Ein Leben geht zu Ende, ein anderes kann, symbolisch gedeutet, dadurch erst jetzt beginnen.

    An sei nicht bei Bewusstsein, sagte Karin. Sie habe alle möglichen Verletzungen, mehrere Wirbelbrüche, einen Milzriss, eine Leberquetschung. Auch ihr Kopf sei verletzt. Eine Hand sei bei dem Unfall abgetrennt und nicht mehr aufgefunden worden. Auf diese verloren gegangene Hand starrte Jan. Er ging nicht mit ins Krankenhaus, er wollte sie nicht sehen, er wollte seine Schwester nicht so sehen. Noch nicht, dachte er. Ich will warten, bis es ihr ein bisschen besser geht. Er fühlte sich dumpf, selbst wie betäubt. Nachts schlief er nicht. Tags blieb er im Bett liegen und versuchte weiter, Raskolnikow zu folgen. Aber er las mechanisch. An anderen Tagen lief er in den Wald, bis das Licht verlöschte, und kehrte durchgefroren, leer nach Hause. Er sah Drago vor sich, wie er zwischen Bäumen und Büschen durchhetzte, die Hand im Maul. Hatten die Dachse sie weggeschleppt? Es war wahrscheinlich kurz nach Einbruch der Dunkelheit geschehen. An fuhr auf der Bundesstraße, sie pendelte nicht zwischen ihrem Appartement und dem Elternhaus. Niemand wusste, wohin sie unterwegs gewesen war. Ein Lkw stand mit qualmendem Motor in der Kurve. Sie sah ihn zu spät. Sie konnte nicht mehr anhalten und versuchte auszuweichen.

    An überlebt den Unfall nicht. Sie stirbt. Für Jan beginnt das Leben, er schließt die Schule ab, er findet eine Freundin, er verlässt die Stadt Füchten und geht zur Bundeswehr, er wird, das lässt das Ende des Romans erahnen, zu schreiben beginnen. Wie ein Naturgesetz entwickelt sich die Logik der Grausamkeit, die das Figurenensemble dieses Zeitromans beherrscht. Seine besondere Qualität liegt darin, wie er diese Logik ohne symbolische Überfrachtung, ohne politischen Pamphletismus mit der Vernichtungslogik eines Aufrüstungswahn in Verbindung bringt, der historisch weiter von uns entfernt scheint als nur drei Jahrzehnte.

    Thomas Lang: Bodenlos
    C. H. Beck Verlag 2010. 460 Seiten. 21,95 Euro