Zum Skandal hat wohl auch beigetragen, daß in diesem Roman frei nach Nietzsches "Leib bin ich ganz und gar" der Körper als das Essentielle verstanden wird. Das heißt nicht, daß Bergsson die Psyche vernachlässigen würde, und sie scheint ihm am kompliziertesten bei den einfachen Leuten, von denen stammt er selbst ab, aus einer lesefeindlichen Fischerfamilie. Um sein Studium zu finanzieren, arbeitete er in Reykjavik, dann ging er nach Barcelona, blieb dort hängen und fing an zu schreiben. Ein Sonderfall, so sieht sich Gudbergur Bergsson selbst: "Ich war, glaube ich, der erste und fast der einzige Isländer und Autor, der nur er selbst war, ich habe nichts hinter mir stehen, keinen, der mir hilft, ich kann nicht meine Manuskripte nehmen und jemandem zum Lesen geben, ich bin nur ich selbst. Zum Beispiel bekomme ich auch keine Unterstützung von den skandinavischen Ländern, und deshalb bin ich viel freier als andere Autoren. In Spanien habe ich gelernt, daß es zwei Arten von Freiheit gibt, und die beste Freiheit ist die innere Freiheit, die Freiheit, die in dir selbst ist."
Einer von Bergssons früheren Romanen erschien schon 1990 auf deutsch. Er heißt "Das Herz lebt noch in seiner Höhle" und ist ein bizarrer Stadtroman, in dem ein Mann auf einer 24stündigen Odyssee durch ein groteskes Reykjavik seiner geschiedenen Frau nachirrt; das soll, ein bißchen ironisch, natürlich an Dublin und Leopold Bloom erinnern, und die Geschichte wird noch ironischer, weil dieser namenlose Mann, der auf der ständigen Suche nach einem möblierten Zimmer und seinem inneren Gleichgewicht ist, ausgerechnet Psychologe und seine Frau Sozialarbeiterin ist. Auch dieses Buch hat Bergsson begeisterte Anhänger eingebracht, aber auch Leute, die sich genarrt fühlten.
Mit seinem neuen Buch mit dem Titel "Der Schwan" kehrt Bergsson, der Modernist und Stadtromancier, zur traditionelleren Prosa zurück. Ein neunjähriges Mädchen wird von ihren Eltern zur Strafe für einen Ladendiebstahl aufs Land geschickt. Die gastgebenden Bauersleute sind schweigsam, aber nett, ihre studierende Tochter, von einem Unbekannten schwanger, treibt ab, was sie nur schwer verdaut, und "die Kleine", wie die Neunjährige genannt wird, freundet sich mit dem rätselhaften, aber auch irgendwie aufgeschlossenen Saisonknecht an, der neben dem Mädchen schönsten Figur des Buches.
Wie kaum ein anderer Autor betont Bergsson die Identität seiner Figuren mit sich selbst. Bergsson zum Thema der Kindheit und der Beziehung des Autors zu seinen Personen: "Ich war an der Kindheit immer sehr interessiert, denn dort fängt ja wirklich alles an. Ich darf wohl sagen, ich hatte verschiedene Kindheiten. Meine Kindheit zu Haus, in meinem Dorf, wo ich geboren wurde, und dann ein wenig Kindheit - und Jugend -, als ich nach Reykjavik ging, wo ich studierte und arbeitete. Meine dritte Kindheit war in Spanien, wo ich ein neues Leben begann. In Spanien fing ich an zu schreiben, und es kam sehr plötzlich, und ich habe damit ein Land geschaffen, ein Vaterland: Ich glaube, das eine Vaterland, das ich habe, ist meine Literatur. Und dieses Vaterland, diese Literatur birgt mein ganzes Leben, meine Gedanken, meine Überzeugungen, und ich glaube, in einem Roman existieren keine Personen, es gibt keine Kinder, es gibt keine Frau, die Maria heißt zum Beispiel, es ist immer der Charakter oder die Meinung des Autors, was da spricht, und das wird in die verschiedenen Personen aufgeteilt und eine Person wird eben Maria genannt, es kann auch ein Hund sein, aber im Grunde spricht immer der Autor, was er denkt und meint."
Erstaunlich, wie allgemeingültig sein Roman trotzdem ist. Er ist nicht nur eine geheimnisvoll gelungene Einfühlung in ein neunjähriges Mädchen, sondern er verhandelt auch die großen Fragen, die überall gestellt werden, ob in der isländischen Einöde oder in irgendeiner Weltmetropole. Zum Beispiel geht es um den schmalen Grat zwischen Leben und Tod, den die Kleine plötzlich erkennt, als sie am Rand eines Torfgrabens steht und sich ihre "Schuhsohle im Wasser spiegelt".
"Bei dieser Empfindung spürte sie die Hitze von Tränen in ihren Augen, ohne daß sie weinte. Das Universum schwebte auf sie zu", heißt es dann weiter. Das sind große Worte, die hier aber völlig natürlich wirken und alles andere als prätentiös. Bei Bergsson hat man den Eindruck, daß jeder Satz wichtig ist - und das ist beim Genre des Romans, bei dem es ja auf das große Ganze ankommt, nicht so selbstverständlich. Noch andere große Themen werden berührt und eben nicht nur berührt, sondern Bergsson schafft es in seinem nicht sehr dicken Buch, alles wunderbar herauszuarbeiten und greifbar und begreifbar zu machen: ob es um die Lüge geht, um die Einsamkeit, um die Trauer oder um - immer wieder - das Erwachen der Kleinen aus der Unschuld und ihren "Eintritt in das metaphysische Alter", wie es Milan Kundera anläßlich der französischen Ausgabe des "Schwans" nannte. "Ich meine, daß der Autor immer ein Gebender ist, er gibt sich selbst", so Bergsson. "Ein Roman ist ein Geschenk. An wen? An die Welt. An alle. An alle, die dies Geschenk annehmen wollen. Es sind nicht viele. Vielleicht ein oder zwei Personen. Und das ist genug. Und es ist auch ein Geschenk an den Autor. Ein Geschenk, das er sich selbst gemacht hat. Ein Geschenk, das ein isolierter Mann sich selbst überreicht. Eine Gabe der Einsamkeit."
Fürwahr ist dieses Buch ein Geschenk und ebenso tröstlich und traurig und schwebend wie Gudbergur Bergssons Aussage. Und dazu gehört auch der souverän uneindeutige Umgang mit der Erinnerung.
"Abends saß der Knecht am Tisch und schrieb in sein Tagebuch und sagte, wenn die Kleine ihm zuschaute: 'Es ist am allerbesten, die Vergangenheit zu vergessen. Trotzdem rate ich dir, anzufangen ein Tagebuch zu führen."'
Und uneindeutig muß ein solches Buch auch enden: Am Schluß erhebt sich die Kleine mit einem Schwan in die Lüfte, bei Gaston Bachelard ist das ein androgynes Symbol. Dieses Buch der Trauer und des Trostes, der Verwandlung und der Magie, wird zu den schönsten gehören, die in diesem Herbst erscheinen.
Einer von Bergssons früheren Romanen erschien schon 1990 auf deutsch. Er heißt "Das Herz lebt noch in seiner Höhle" und ist ein bizarrer Stadtroman, in dem ein Mann auf einer 24stündigen Odyssee durch ein groteskes Reykjavik seiner geschiedenen Frau nachirrt; das soll, ein bißchen ironisch, natürlich an Dublin und Leopold Bloom erinnern, und die Geschichte wird noch ironischer, weil dieser namenlose Mann, der auf der ständigen Suche nach einem möblierten Zimmer und seinem inneren Gleichgewicht ist, ausgerechnet Psychologe und seine Frau Sozialarbeiterin ist. Auch dieses Buch hat Bergsson begeisterte Anhänger eingebracht, aber auch Leute, die sich genarrt fühlten.
Mit seinem neuen Buch mit dem Titel "Der Schwan" kehrt Bergsson, der Modernist und Stadtromancier, zur traditionelleren Prosa zurück. Ein neunjähriges Mädchen wird von ihren Eltern zur Strafe für einen Ladendiebstahl aufs Land geschickt. Die gastgebenden Bauersleute sind schweigsam, aber nett, ihre studierende Tochter, von einem Unbekannten schwanger, treibt ab, was sie nur schwer verdaut, und "die Kleine", wie die Neunjährige genannt wird, freundet sich mit dem rätselhaften, aber auch irgendwie aufgeschlossenen Saisonknecht an, der neben dem Mädchen schönsten Figur des Buches.
Wie kaum ein anderer Autor betont Bergsson die Identität seiner Figuren mit sich selbst. Bergsson zum Thema der Kindheit und der Beziehung des Autors zu seinen Personen: "Ich war an der Kindheit immer sehr interessiert, denn dort fängt ja wirklich alles an. Ich darf wohl sagen, ich hatte verschiedene Kindheiten. Meine Kindheit zu Haus, in meinem Dorf, wo ich geboren wurde, und dann ein wenig Kindheit - und Jugend -, als ich nach Reykjavik ging, wo ich studierte und arbeitete. Meine dritte Kindheit war in Spanien, wo ich ein neues Leben begann. In Spanien fing ich an zu schreiben, und es kam sehr plötzlich, und ich habe damit ein Land geschaffen, ein Vaterland: Ich glaube, das eine Vaterland, das ich habe, ist meine Literatur. Und dieses Vaterland, diese Literatur birgt mein ganzes Leben, meine Gedanken, meine Überzeugungen, und ich glaube, in einem Roman existieren keine Personen, es gibt keine Kinder, es gibt keine Frau, die Maria heißt zum Beispiel, es ist immer der Charakter oder die Meinung des Autors, was da spricht, und das wird in die verschiedenen Personen aufgeteilt und eine Person wird eben Maria genannt, es kann auch ein Hund sein, aber im Grunde spricht immer der Autor, was er denkt und meint."
Erstaunlich, wie allgemeingültig sein Roman trotzdem ist. Er ist nicht nur eine geheimnisvoll gelungene Einfühlung in ein neunjähriges Mädchen, sondern er verhandelt auch die großen Fragen, die überall gestellt werden, ob in der isländischen Einöde oder in irgendeiner Weltmetropole. Zum Beispiel geht es um den schmalen Grat zwischen Leben und Tod, den die Kleine plötzlich erkennt, als sie am Rand eines Torfgrabens steht und sich ihre "Schuhsohle im Wasser spiegelt".
"Bei dieser Empfindung spürte sie die Hitze von Tränen in ihren Augen, ohne daß sie weinte. Das Universum schwebte auf sie zu", heißt es dann weiter. Das sind große Worte, die hier aber völlig natürlich wirken und alles andere als prätentiös. Bei Bergsson hat man den Eindruck, daß jeder Satz wichtig ist - und das ist beim Genre des Romans, bei dem es ja auf das große Ganze ankommt, nicht so selbstverständlich. Noch andere große Themen werden berührt und eben nicht nur berührt, sondern Bergsson schafft es in seinem nicht sehr dicken Buch, alles wunderbar herauszuarbeiten und greifbar und begreifbar zu machen: ob es um die Lüge geht, um die Einsamkeit, um die Trauer oder um - immer wieder - das Erwachen der Kleinen aus der Unschuld und ihren "Eintritt in das metaphysische Alter", wie es Milan Kundera anläßlich der französischen Ausgabe des "Schwans" nannte. "Ich meine, daß der Autor immer ein Gebender ist, er gibt sich selbst", so Bergsson. "Ein Roman ist ein Geschenk. An wen? An die Welt. An alle. An alle, die dies Geschenk annehmen wollen. Es sind nicht viele. Vielleicht ein oder zwei Personen. Und das ist genug. Und es ist auch ein Geschenk an den Autor. Ein Geschenk, das er sich selbst gemacht hat. Ein Geschenk, das ein isolierter Mann sich selbst überreicht. Eine Gabe der Einsamkeit."
Fürwahr ist dieses Buch ein Geschenk und ebenso tröstlich und traurig und schwebend wie Gudbergur Bergssons Aussage. Und dazu gehört auch der souverän uneindeutige Umgang mit der Erinnerung.
"Abends saß der Knecht am Tisch und schrieb in sein Tagebuch und sagte, wenn die Kleine ihm zuschaute: 'Es ist am allerbesten, die Vergangenheit zu vergessen. Trotzdem rate ich dir, anzufangen ein Tagebuch zu führen."'
Und uneindeutig muß ein solches Buch auch enden: Am Schluß erhebt sich die Kleine mit einem Schwan in die Lüfte, bei Gaston Bachelard ist das ein androgynes Symbol. Dieses Buch der Trauer und des Trostes, der Verwandlung und der Magie, wird zu den schönsten gehören, die in diesem Herbst erscheinen.