Freitag, 29. März 2024

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Der schwere Weg in ein besseres Leben

Auf einem Betonplatz, umgeben von Mauern und einem Netz, spielen halbwüchsige Kinder Basketball, fahren Skateboard, in einer Ecke lassen die Kleinsten Murmeln kullern. – Freude an erzielten Körben, an gelungenen Kunststücken, ab und zu Streit, überschäumender Eifer. – Kinder, so scheint es, wie überall auf der Welt. Doch diese Kinder sind anders.

Von Thomas Kruchem | 21.01.2004
    Ich bin in Rutile aufgewachsen, einem Dorf im Norden Sierra Leones. Eines Tages griffen Rebellen unser Dorf an, und wir mussten fliehen. Mehrere Wochen irrte ich mit meinem Onkel durch den Busch, bis wir erneut auf Rebellen stießen. "Helft uns Reis, Kleider und Waffen tragen!" befahlen sie uns. "Ich bin krank", sagte mein Onkel. Da erschossen sie ihn einfach – vor meinen Augen. Mich nahmen sie mit. – Seit diesem Tag denke ich fast jede Nacht an meinen Onkel. Er war der Einzige gewesen, der sich in unserem Dorf und im Busch um mich gekümmert hatte. Jetzt habe ich niemanden mehr.

    Der 16-jährige Moses – klein, etwas verwachsen – presst, fahrig mit den Händen gestikulierend, Worte aus sich heraus – beruhigt und ermuntert von Vater Thomas, einem aus Indien stammenden Priester. Vor einem halben Jahr hat Vater Thomas Moses gefunden – einen nahezu autistisch in sich versunkenen Jungen, der auf dem Markt Lasten schleppte und nachts auf Verkaufstischen schlief. – Neben Moses sitzt der bullige Alfred Joe – misstrauisch blickend, wie auf dem Sprung. Eben hat er mit den Kleinsten Murmeln gespielt, gestern bei einer Schlägerei ein blaues Auge kassiert. – Auch Alfred wurde von Rebellen entführt; auch er lebte zuletzt auf der Straße.

    Drei Rebellen kamen in unser Haus und wollten mich mitnehmen. Meine Mutter aber hielt mich fest. "Lass' ihn los!" schrieen die Rebellen und hackten ihr einen Arm ab. Wegen des Lärms kam dann mein Vater, der ein entzündetes Bein hatte, ins Haus gehumpelt. Ihn erschossen sie und nahmen mich mit. Über ein Jahr lang trug ich ihre Waffen durch den Busch. Einmal versuchte ich zu fliehen; und die Kommandantin unseres Trupps warf mich zur Strafe in einen reißenden Fluss. Monica, eine Rebellin aus Liberia, rettete mich und passte von da an auf mich auf.

    Freetown, Sierra Leone, ein Heim der katholischen Don-Bosco-Salesianer für ehemalige Straßenkinder und Kindersoldaten. – Sierra Leone an der Westküste Afrikas – so groß wie Bayern, fünf Millionen Einwohner – durchlebte zwischen 1991 und 2001 den wohl grausamsten Bürgerkrieg der jüngeren afrikanischen Geschichte. Wechselnde Fraktionen kämpften auf dem Rücken der Bevölkerung um die Reichtümer des Landes – um Gold, Holz und Diamanten. Vor allem die Rebellenbewegung RUF, aber auch Milizen des bis heute regierenden Präsidenten Ahmed Tejan Kabbah rekrutierten Kinder, ließen die Kinder, teils unter Drogen – grausamste Verbrechen begehen.

    In Kono gingen wir einmal in das Haus einer reichen Familie. Meine Kameraden zertrümmerten die ganze Einrichtung und griffen sich dann einen kleinen Jungen, der arg laut weinte. Sie hackten ihm das rechte Bein ab. Als dann die Eltern zu weinen und zu schreien begannen, hackten sie dem Kind auch noch die rechte Hand ab – und dann den Kopf.

    "Ich habe nur zugeschaut bei solchen Verbrechen", sagt jeder, mit dem ich spreche im Heim der Salesianer. "Ich habe nicht vergewaltigt. Ich war nur Opfer." – Freetown muss ein Städtchen von betörendem Charme gewesen sein, bevor Beton und Wellblech die grünen Hügel des Hinterlandes überwucherten. – Die Kissy Road östlich der Altstadt ist gesäumt von vier- bis sechsstöckigen Mietskasernen, dazwischen grau-brauner Brei aus Wellblech- und Bretterverschlägen. Hier hat Bruder Edward vom Orden der "Christlichen Brüder" sein Büro. Die christlichen Brüder kümmern sich – wie die Salesianer – um Straßenkinder, um ehemalige Kindersoldaten und von denen vergewaltigte Mädchen, um Kinder aus im Krieg zerbrochenen Familien. – "Erwachsen gewordene Straßenkinder waren der Auslöser des Bürgerkriegs", meint Bruder Edward.

    Bevor der Krieg begann, hatten über 20 Jahre immer mehr junge Männer unsere Straßen bevölkert – arbeitslose Analphabeten ohne Chance auf einen Job, zunehmend erfüllt von Frust und Bitterkeit. – Mächtige Leute haben dann diese frustrierten jungen Männer benutzt für ihre politischen Zwecke. Der Krieg war insoweit auch eine Antwort der Armen auf krasse soziale Ungerechtigkeit. Die Massen der Straße haben eine Art Revolution versucht – nachdem sie so lange am untersten Rand der Gesellschaft verharrt hatten.

    Nach dem Krieg haben Sierra Leones Regierung und allerlei internationale Organisationen 30.000 jugendliche Kämpfer durch so genannte Demobilisierungsprogramme geschleust – mit dem Ergebnis, dass die meisten arbeitslos blieben und heute wieder auf der Straße stehen. – Streetworker der "Christlichen Brüder" und der "Don-Bosco-Salesianer" gehen einen anderen Weg. Sie nehmen mit dem einzelnen Kind, dem einzelnen Jugendlichen Kontakt auf, bieten an, sie auf dem schweren Weg in ein besseres Leben zu begleiten. – Die Salesianer lassen anschließend stark traumatisierten Kindern eine Rundumbetreuung angedeihen. In einem liebevoll eingerichteten Heim werden sie systematisch resozialisiert, sprechen mit einer Psychiaterin über ihre Erlebnisse, beten mit Priestern um Vergebung für eventuelle Verbrechen. Die Kinder gehen zur Schule, wer das Wort "RUF" auf die Brust tätowiert hat, wird per Operation davon befreit und anschließend von der hauseigenen Schwester gepflegt. Später werden die Kinder, soweit möglich, mit ihren Eltern zusammen geführt oder in Pflegefamilien untergebracht. – "Ein von amerikanischen Priestern implementiertes und sicher hochwirksames Konzept", meint Bruder Edward lächelnd, "nur leider zu teuer für das ärmste Land der Erde, wo Zehntausende verlorene Kinder auf Rettung warten." – Die "Christlichen Brüder" arbeiten ausschließlich ambulant. In einer ersten Phase der Betreuung können Kinder und Jugendliche ein Hilfszentrum als Anlaufstation nutzen, erhalten nach Bedarf Kleider, Ratschläge, psychologische Hilfe – mit dem Ziel, die Kinder reif zu machen für die Rückkehr in ein geregeltes Leben

    Wenn wir glauben, dass ein Jugendlicher bereit ist für die zweite Phase, stellen wir ihm die entscheidende Frage: "Willst Du endgültig die Straße verlassen und wieder in Deiner Familie oder einer Pflegefamilie leben?" Sagt der Jugendliche "Ja", bieten wir ihm eine Berufsausbildung an. Er kann Schneider werden, Schweißer oder Maurer; Schreiner, Elektriker oder Friseur. Im von ihm gewählten Beruf erhält er dann eine Ausbildung von 18 Monaten.

    Etwa 20 Prozent der in der ersten Phase betreuten Kinder erreichen auch die zweite – unter ihnen viele Mädchen, die nach schlimmsten Kriegserlebnissen auf der Straße landeten.

    Während des Kriegs wurden viele Mädchen entführt – von Rebellen, manchmal von Soldaten der regulären Armee. Diese Mädchen wurden in eheähnliche Verhältnisse gezwungen, sie mussten Lasten tragen, kochen und putzen. Oft wurden sie auch als Spione eingesetzt – weil eine verletzlich aussehende Frau weniger Verdacht erregt. Davon abgesehen wurden natürlich alle entführten Mädchen vergewaltigt.

    Eine andere Gruppe von Mädchen ist auf der Straße gelandet, weil sie als Vertriebene kein Zuhause mehr hatten oder in bitterster Armut keine Alternative sahen. An den Stränden Freetowns finden Sie Tausende solcher Mädchen – Mädchen, die versuchen, als Prostituierte zu überleben. Sie stammen zumeist aus dem Landesinnern und sind irgendwann in Freetown gestrandet, wo Freunde zu ihnen sagten: "Auch Du kannst Geld verdienen." In x-beliebigen Strandbars verkaufen sie jetzt ihren Körper für Geld.

    600 von der Straße gerettete Jugendliche erhalten derzeit in Zentren der "Christlichen Brüder" eine Berufsausbildung – finanziert vor allem von der Freiburger Hilfsorganisation "Caritas International". "Caritas International" hat insbesondere den Bau der Werkstätten bezahlt – zum Beispiel den des "Edmund House" in Freetown.

    37 Mädchen und zwei Jungen lernen Schneider im zweiten Stock des Gebäudes an der Kissy Road. In selbst gefertigten orangefarbenen T-Shirts und schwarzen Hosen oder Röcken sitzen die 39 Azubis an leider nur – sagt Ausbilder Yusif Cham – 14 Nähmaschinen, von denen einige oft kaputt sind. Trotzdem machen Azubis wie die 17-jährige Magdalene Magay rasante Fortschritte

    Ich lerne Schneiderin, weil ich mir eine Zukunft aufbauen will. Welche Chancen habe ich denn ohne einen Beruf? – Ja, ich will so viele Kleiderschnitte wie möglich lernen, um richtig Geld zu verdienen. Vielleicht finde ich ja irgendwann meine Eltern und kann für die dann sorgen.

    Eine Ausbildung, unterteilt in sechs Quartale, nach denen geprüft wird. Der Lohn für das bestandene Abschlussexamen: ein Existenzgründungskredit.

    25 unserer Absolventen haben wir bis heute einen Kleinkredit gewährt. Manche, die dafür in Frage kommen, haben allerdings Angst, sich zu verschulden. Sie befürchten Probleme, wenn sie das Geld nicht zurückzahlen können. Immerhin – 25 haben es gewagt; und allen Schneiderinnen und Schneidern unter ihnen haben wir eine Nähmaschine finanziert.

    "Gott liebt die Kinder dieser Welt", singen die drei- bis fünfjährigen Vorschulkinder. Auf kleinen Stühlen und am Boden sitzend, spielen sie mit von Erzieherinnen genähten Stoffpuppen, mit aus Papierbrei geformten Bananen und Mangofrüchten. Einige halten Buchstabentafeln aus Pappe in der Hand. – Rokupa heißt die Siedlung direkt am Meer, zu der eine halsbrecherisch glitschige Treppe hinunter führt. Bretter- und Wellblechverschläge, bedeckt mit zerrissener Plane. Dazwischen Frauen, die Wäsche waschen oder Kassawa stampfen; Hühner und Enten, einige Ziegen, Kinder mit aufgeblähten Bäuchen. – "Auch Rokupa wurde vom Krieg schwer getroffen", sagt Saidu Kargbo, der Vorsteher der Siedlung.

    Während des Kriegs haben Rebellen unseren Chief und einen Schüler der Grundschule umgebracht. Von Lungi aus, der Halbinsel dort drüben, schickten sie eine Rakete, die mehrere Häuser beschädigte. Wenig später brannten sie unsere Hütten nieder. Alles – unsere Kleider, unsere Möbel, unsere Kühlschränke – trugen sie davon. Jetzt besitzen wir gar nichts mehr.

    Immerhin gehört ihnen das Land, auf dem sie leben. Die kleine Gemeinschaft von Fischern und Holzverkäufern hat gewaltige Mengen Steine und Erde bewegt, um dies Land dem Meer abzuringen. Für bereits vorhandenes Land fehlte das Geld. – Eine am Rande des Existenzminimums lebende Gemeinschaft. Die Männer fahren nachts mit schmalen, kunstvoll bemalten Booten auf’s Meer; den meist kargen Fang tragen die Frauen zum Markt. Es gibt keine Toiletten, der Brunnen führt nur bis kurz nach der Regenzeit Wasser; Cholera und Malaria raffen viele Kinder dahin. Sierra Leone hat die höchste Kindersterblichkeit der Welt; die Lebenserwartung liegt bei 38 Jahren. – Der tägliche Überlebenskampf in solchen Slums beansprucht vor allem die Frauen bis an ihre Grenzen, meint "Caritas"-Mitarbeiter Achim Ritzmann, Frauen, die oft Schreckliches hinter sich haben und stete Gewalt frustrierter Männer ertragen müssen. " Diese Kinder", sagt Ritzmann, "müssen wir frühzeitig dagegen immunisieren, die Straßenkinder und Kindersoldaten von morgen zu werden."

    "Caritas international" finanziert ein umfassendes Programm zur Förderung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen in Sierra Leone. Ein Teil davon ist das landesweite Vorschul-Erziehungsprogramm. Die katholische Kirche ist hier der Hauptträger der Vorschul-Erziehung in Sierra Leone, weil dort die Grundsteine für das spätere Leben sozusagen gelegt werden. – Es gab vor dem Krieg schon ein funktionierendes Vorschulwesen hier, das auch schon seit 1991 von "Caritas international" gefördert wurde. Durch den Krieg sind viele Sachen wieder neu aufzubauen. Das Personal muss wieder neu ausgebildet werden, und das braucht alles viel Zeit und viel Geld.

    Sparsam eingesetztes Geld, versteht sich. Die Eltern von men für ihre Vorschule nur Sand, Zement und Wellblech. Gebaut haben sie die Schule selbst. Mit kreativen Spielen und Sport, mit spielerischem Basteln und Lernen fördern die Erzieherinnen nun sehr früh Motorik und kognitive Fähigkeiten der Kinder. "Außerdem", sagt Erzieherin Bridget Sowa, "versuchen wir, bei Kindern und Eltern ein Bewusstsein zu schaffen für gesunde Ernährung, Hygiene und richtige Prioritäten." Ein mühsames Unterfangen.

    Diese Eltern wissen einfach nicht, wie sie für ihre Kinder zu sorgen haben. Sie zeigen den Kindern keinerlei Liebe und Zärtlichkeit; es ist ihnen egal, ob die Kinder etwas Ordentliches zu essen haben in der Vorschule; sie setzen einfach falsche Prioritäten. Und wir müssen ihnen sagen: "Kauft keine teuren Kleider, sondern investiert Euer weniges Geld in Eure Kinder."

    Skeptisch zuckt Bridget mit den Achseln.

    Ich habe den Eindruck, dass die Kinder hier nicht so aktiv sind wie die in unseren anderen Vorschulen. Bisweilen blicken sie nur stumpf vor sich hin, wirken müde und apathisch. Schauen Sie die dicken Bäuche an – eine Folge chronischer Mangelernährung, die natürlich auch die Lernfähigkeit beeinträchtigt. Aber wir tun unser Bestes, diesen Kindern zu helfen.

    Achim Ritzmann lehnt Nahrungsmittelverteilungen an die Familien solcher Kinder ab. Derlei mache nur abhängig. Aber…

    In Einzelfällen muss man schon drüber nachdenken, ob man eine Zusatzernährung anbietet – also nicht eine komplette Übernahme, aber dass man dann drüber nachdenkt, ob man einmal, zweimal, dreimal pro Woche zum Beispiel Eltern der Community zusammenbringt, die für die Kinder kochen und man eben das Essen stellt.

    Vielleicht mindert eine solche Einbindung der Eltern in die Arbeit der Vorschule auch häusliche Gewalt – hofft Erzieherin Jenneh Koroma. Es sei immer wieder das Gleiche: Vater und Mutter leben mit sechs, sieben Kindern in einem Raum, streiten und schlagen sich vor den Kindern und lassen allzu oft ihre Wut an ihnen aus.

    Morgens, wenn sie ihre Kinder zu uns bringen, zerren sie die Kleinen hinter sich her; und bleibt ein Kind auch nur für einen Moment stehen, gibt die Mutter ihm eine Ohrfeige. – Diese Eltern übertragen ihre Kriegs-Traumata auf die Kinder und haben überhaupt keine Geduld. – Die Kinder leben deshalb in ständiger Angst, dass sie – zum Beispiel – ihre Taschen verlieren. Sie wissen, dass sie dann von den Eltern geschlagen, dass sie windelweich geprügelt werden.

    Junge Leute tanzen, in sich versunken, im Gemeindehaus der katholischen Kirche St. Edwards. "Somebody wants you. Irgendjemand mag Dich." – Wer aber mag jene verbitterten jungen Männer, die zu Tausenden die Straßen von Freetown bevölkern – vielfach drogensüchtige Männer, für die es keine Jobs gibt, bei denen kein Resozialisierungs- oder Ausbildungsprogramm mehr greift; seelisch völlig verwüstet. Männer wie diese, sagt Bruder Edward Bull, haben den Bürgerkrieg ausgelöst; irgendwann könnten sie einen weiteren auslösen.

    Was sollen wir mit diesen jungen Männern machen? – In der Stadt Bo zum Beispiel haben wir junge Männer in Gruppen organisiert und ihnen in diesem Rahmen ermöglicht, eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Wir haben ihnen Handkarren finanziert, die Grundausstattung für kleine Läden und so weiter. – Meist begann ein solches Projekt auch viel versprechend. Dann aber zerstritt sich die Gruppe; einer betrog die anderen und brannte mit dem Geld durch; kurz, alles endete im Desaster. – Diese arbeits- und haltlosen jungen Männer, wissen Sie, sind die schwierigste Gruppe unserer Gesellschaft überhaupt. Und zu allem Überfluss tragen sie massiv bei zum Problem der Straßenkinder. An erwachsenen Männern als Kern der Szene orientieren sich ja die Jüngeren; sie lassen sich von den Älteren auf die Straße und in irgendwelche Gangs locken. – Ohne diese Männer da draußen hätten wir nur sehr wenige Straßenkinder.