Diese Mediengeschichte in 12 Kapiteln präsentiert sich ausgesprochen bibliophil - den Standards der Reihe ‚Die Andere Bibliothek', nicht so sehr dem Thema verpflichtet: die ersten 7000 Exemplare, gedruckt auf satiniertem Papier, sind numeriert, auf dem roten Rückenschildchen finden sich Autor und Buchtitel in Goldprägung wie bei einem beliebigen Klassiker, allein die Umschlaggestaltung bemüht sich um Sujetnähe. Vor dem Hintergrund einer endlosen Binärziffernreihe - 10101...- findet sich ein farbiger Holzschnitt zu Ehren Johannes Gutenbergs montiert, und statt der klassischen monochromen Buchvorsätze blickt uns Papst Johannes Paul II. an, der sich an seinen Hirtenstab klammert. Ein Fernsehbild, natürlich in Farbe, eröffnet und beschließt die 'Geschichte der Medien'. Das Äußere des Buchs bereitet folglich auf den theoretischen Parcours vor: dieser führt von Gutenberg zur digitalen Welt und von Gottes Wort "im Anfang" zum "Telepapst". Dabei ist sich Jochen Hörisch, Ordinarius für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim, der Antiquiertheit des Mediums Buch im Hinblick auf sein Unterfangen durchaus bewußt, zumal es gelungenere Annäherungen zwischen dem ‚outfit' des Gedruckten und dem Inhalt gibt, beispielsweise bei den Veröffentlichungen des Berliner Verlags Die Gestalten. Aber Design sollte nicht alles sein. Wenn sich in Der Sinn und die Sinne nicht eine einzige Konzession an die neue deutsche Rechtschreibung findet, sondern im Gegenteil fast trotzig das ph in Wörtern wie Telephon oder Photographie beibehalten werden, möchte man fast an eine Voreingenommenheit zugunsten Gutenbergs bzw. der Schriftlichkeit an sich schließen.
Um von den Vorsatzpapieren auf Hörischs Absicht zurückzukommen, so verficht dieser nichts Geringeres als die These, daß alle Geschichte Mediengeschichte sei.
Die Unterscheidung zwischen Sinn und Sinne stiftet nicht die, aber immerhin eine mögliche Ordnung nicht nur erkenntnistheoretischer, sondern auch in medienanalytischer und -historischer Hinsicht. Sie verspricht Antwort auf eine Frage, die die theoretische Anstrengung seit ihren Anfängen beflügelt hat: nämlich ob und wie die Sinne und der Sinn zusammenkommen können.
Die angesprochene Differenzierung bezieht sich auf eine Bemerkung Hegels über die Doppeldeutigkeit, anders gesagt: die gegensätzliche Verwendung des Wortes Sinn. Mal verstehen wir unter Sinn die Bedeutung von Handlungen oder Sätzen, mal sind die Qualitäten unserer Sinnesorgane gemeint, wenn wir etwa von Geruchssinn sprechen.
Jochen Hörisch beginnt seine Medienchronik, die in weiten Strecken eine solche der Technik ist, mit der Urknall-Hypothese, um Sein und Sound zusammenzuführen. Ohne "Noise" kein Planet Erde. Bereits in den Weden, den heiligen Büchern der altindischen Religion, findet sich die Vorstellung einer auf dem Klang basierenden Kosmogonie: OM sei die Keimsilbe des Universums. Weit entfernt von astrophysikalischen Kenntnissen und konträr zur Genesis des Alten Testaments, bekräftigen die Weden, daß das Orale, der unartikulierte Sound - Hörisch verweist auf das Geschrei des Säuglings - den Beginn des Lebens markiert.
Statt: "Im Anfang war das Wort - der logos, die Vernunft - und Gott war das Wort...", hat man sich am Ursprung Lärm, Rauschen, Stimmen, Silben, Glossolalien, Schreie vorzustellen. Die paradiesische präverbale Phase währt indes nicht lange. Hörisch vergleicht die Taufe des sprachlosen Säuglings mit einer medialen - ich würde sagen: sprachlichen - Konditionierung, die noch den Computer-Anwender betrifft. Das sich frei wähnende Subjekt sei tatsächlich Untertan von Mediensystemen, zugespitzt formuliert: allenfalls noch "Schnittstelle". Vom in der Kirche ‚besprochenen' infans bis zum Internet-User. Diese skeptische Betrachtungsweise vertieft der Autor nicht, heißt es doch weiter unten:
Die Erfindung von Schrift ist eine kaum zu überschätzende, wenn nicht die Medienrevolution der Menschheitsgeschichte.
Hörischs Ausführungen zur menschlichen Kommunikation beschränken sich m.E. zu sehr auf den teleologischen Aspekt des Phänomens. Sie folgen einer Logik des Mangels und Begehrens, gewissermaßen einer beschränkten Ökonomie:
Ohne Differenz, ohne Distanz, ohne Abwesenheit (...) keine Medien. (...) Einheit und Übereinstimmung wäre das Ende aller Medien.
Die Aporie scheint mir in der Gleichsetzung von Medien mit Kommunikation zu liegen, einschließlich deren utilitaristischer Definition:
Kommt Kommunikation doch genau dann zum Erliegen, wenn Einigkeit herrscht.
Paradoxerweise gilt auch das Gegenteil, nur gedacht an das pikiert bis wütende Schweigen zerstrittener Gesprächspartner, zwischen denen keinerlei Konsens, geschweige denn "Einigkeit" mehr vorstellbar ist. In eine ähnliche Sackgasse führten die meisten Auslegungsansätze beispielsweise der 20-30 000 Jahre alten Höhlenmalereien in Frankreich oder Spanien. Handelte es sich nicht um Jagdzauber - der vorgeschichtliche Mensch zeichnete also jene Tiere, die er zu erlegen hoffte -, so könnte es sich schlicht um zweckfreie Produktionen geistig Unterentwickelter handeln. Ein gewisser Humphrey, von Hörisch zitiert, vergleicht 1999 die Felsmalereien mit der Bildnerei autistischer, "sprachlich und kognitiv stark retardierter" Kinder der Gegenwart. An Kunst oder Kultus wird kein Gedanke verschwendet. Andere Funde bestätigen dagegen den Primat von Ökonomie und Recht bei der Ausbildung von Schreibsystemen. So sind die Zählzeichen der Sumerer, sogenannte Token, noch älter als die Keilschrift - sie datieren von 9000 vor unserer Zeitrechnung.
Abstrakte Frühformen von Zahlen und nicht etwa sinnliche Bilder sind die Geburtshelfer der Schriftlichkeit.
Man versteht, daß es zunächst um elementare Praktiken der Mnemotechnik und der Dokumentation ging. Eine kleine Ewigkeit, d.h. Jahrtausende trennt die Bilder-Rätsel in der Höhle von Lascaux vom ersten phonetischen Alphabet mit 24 Buchstaben, das im 9. Jahrhundert v.Chr. in Griechenland eingeführt wurde. Die Zwischenstufen lassen sich als Pictogramme bezeichnen - sei es die Keilschrift der Sumerer, die ägyptischen Hieroglyphen, bereits eine teilphonetische Schrift, oder das chinesische Notations-System. Bemerkenswerterweise hielten die Chinesen bis heute an ihren kompliziert zu handhabenden Ideogrammen fest. Denn
phonographische' Schriften haben den Vorteil rationaler Anwendbarkeit (24 Buchstaben), während ‚logographische' Schriften wie das Chinesische (mehr als 70 000 Zeichen) auswendig gelernt werden müssen.
Zwar stellen die Unübersichtlichkeit der Aussprache nebst komplexen Betonungsregeln zusätzliche Hürden des Chinesischen dar, aber ein Auseinanderdriften zwischen Schriftbild und Aussprache läßt sich auch bei den phonetischen Schriftsystemen mühelos konstatieren. Mit dem Erlernen des ABCs ist es ja nicht getan, der Europäer lernt ebenfalls den Zusammenhang zwischen willkürlichen Zeichen und Bezeichnetem ‚auswendig'.
Ein gesonderter Exkurs ist den ‚eminenten' Medien der Homogenisierung, der Schrift und dem Geld, gewidmet. Dem Autor zufolge helfen beide dem homo sapiens, Mein und Dein, Ich und Du, das Selbst und den Anderen voneinander zu unterscheiden. Das Schriftsystem, ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. das uns vertraute lateinische Alphabet, wäre nicht allein die Prämisse für Handel und Recht, sondern insbesondere für Subjektivität: letztere ließe sich folglich als eine Art Wirkung von "Medientechniken" begreifen:
Schrift und Geld homogenisieren - unterschiedliche Epochen, verschiedenste Güter, differenteste Äußerungen, Vergangenheit und Gegenwart, das Tun und Lassen des einen und des anderen.
Wie verhält es sich dann mit der Subjektivität jener Menschen in Kulturen, die über kein Schriftsystem verfügen? Von den schätzungsweise 5000 lebendigen Sprachen seien weniger als 10% Schriftsprachen, bemerkt Hörisch, der McLuhans Diktum "the medium is the Message" so deutet, daß sich mentale Unterschiede, unabhängig von den Inhalten, qua Mediennutzung ergäben. Die Welten des Analphabeten, des Lesers, des Televisionärs oder die des Internet-Freaks wären je verschiedene.
Damit es zum "ersten industriellen Massenprodukt überhaupt", dem Buch, kommen konnte, bedurfte es zum einen der Erfindung der beweglichen Lettern, zum anderen eines Verfahrens zur Papierherstellung - das man aus China übernimmt. Das preiswertere Material - Druckmedium - löst das dauerhaftere wie Stein, Muscheln, Tierknochen, Papyros, hölzerne Kodizes oder Pergament ab. Gutenbergs Bibel, Hörisch nennt sie das "schönste Buch der Welt", inauguriert 1454 den Buchdruck. Immerhin arbeitete die Mainzer Werkstatt fast drei Jahre an den 1282 Seiten der Bibel, die nach dem Druck per Hand durch Illuminationen veredelt wurden. Die kleine Auflage von 200 Exemplaren, teils auf Papier, teils auf Pergament gedruckt, erklärt sich größtenteils durch die begrenzte Zielgruppe: weniger als 1% der Deutschen, also weniger als 100 000 Personen waren des Lesens kundig - ganz abgesehen vom lateinischen Text. Obgleich die breiteren Schichten bis 1534 auf Luthers Übersetzung des Neuen Testaments warten mußten, fürchtete der Klerus schon das subversive Potential des Buchdrucks. Würde dieser doch die Verbreitung von Übersetzungen aus dem Lateinischen fördern, was einer Entweihung der Heiligen Schrift gleichkäme. Es sollte ganz anders kommen: nicht zuletzt dank der Drucktechnik spaltet sich ein Teil der Christenheit vom Katholizismus ab. Kalender und Bibel sind die ersten ‚Bestseller' der Zeit.
Die beginnende Neuzeit verschreibt sich psychodynamisch einem Trainingsprogramm für profane Kontingenzbewältigung. Zeitungen, Lotterielose und Werbeanzeigen sind wesentliche Bestandteile dieses Programms. Ihre Botschaft: Alles könnte auch anders sein, als es ist. Der Erbfolgekrieg könnte anders ausgehen, das Los ein hoher Gewinn und keine Niete sein, man könnte dies, aber eben auch anderes kaufen.
Die ersten wöchentlichen Nachrichten erscheinen auf deutsch 1605 in Straßburg, 1650 druckt man in Leipzig eine Tageszeitung. Zum preiswerten Massenmedium werden Zeitungen aber erst, als sie sich im 17. Jahrhundert - wie heute - über Werbeanzeigen finanzieren. Schließlich mußte auch die Alphabetisierungsrate aufholen, diese liegt erst um 1900, eine Folge der preußischen Schulpflicht, über 90% der Bevölkerung. Kurioserweise gleicht der Tenor der ‚Medienkritiker' zu Goethes Zeiten dem gegenwärtigen: gewarnt wird vor den Gefahren abusiver Lektüre, das Lesen entfremde, Romane seien imstande, vor allem Frauen sittlich zu verderben - kurz: Mann wie Frau riskierten, sich zu Tode zu amüsieren! Noch heute führt, um eine jüngste Statistik zu zitieren, die Leserin in puncto Belletristikrezeption. Alles in allem dürften sich die Verhältnisse so radikal nicht verändert haben. Die Mehrheit las eben nicht Goethe, Nietzsche mußte den Druck seiner Bücher eines Tages selbst finanzieren, Baudelaire und Poe beendeten ihr Leben in Armut, die Erstauflage von Wittgensteins Tractatus betrug 50 Exemplare - um nur diese Beispiele anzuführen.
Unbestritten bleibt die Bedeutung der Presse sowohl für die Aufklärung - als auch die Verblendung, die Desinformation der Massen, muß man hinzufügen. Ohne Thesen, Pamphlete, Flugblätter, Zeitungen wären wohl weder die Reformation noch die Französische Revolution möglich gewesen. Desgleichen aber auch totalitäre Regime nicht, sobald die Presse zensiert und/oder gleichgeschaltet wird. Es sei daran erinnert, daß in der DDR ein ‚Normalsterblicher' vom Gebrauch eines Fotokopierers ausgeschlossen war... Die kleine medientechnische Revolution, die mit der Erfindung der billigen Xerokopie einherging, wäre ein eigenes Kapitel wert, aber halten wir fest: öffentliche Meinung entstand als Effekt der Presse. Ab dem 19. Jahrhundert stellt die doxa - die herrschende Meinung - die vierte Gewalt dar.
Eine weitere medienhistorische Zäsur ereignete sich ebenfalls erst vor einem Jahrhundert. Sie betrifft generell die Beschleunigung der Übertragungsmedien, den Wettlauf Nachricht-Mensch, von Paul Virilio "Dromologie" getauft. In Sachen Nachrichtentechnik erweist sich abermals der Krieg als Motor von Innovationen. Was mit Rauchzeichen, Brieftauben, Kurieren begann, wird sukzessive abgelöst von Telegraphie, Telephonie, Faxtechnologie und Internet. Die einst an Boten und Fahrzeuge gebundene Nachrichtenübermittlung wird von den Faktoren Entfernung und Zeit nahezu unabhängig, zudem ist sie gleichsam immateriell geworden. Der Übergang vom Zeitalter der Mechanik zu dem der Elektrizität, dann dem der Elektronik stellt einen Quantensprung dar.
Die Medientechnologie des 19. Jahrhunderts, die es erstmals ermöglicht, diesseits der Zeichen Licht- und Schallwellen zu speichern (...), zu transportieren (...) und in ihrer Bewegung wiederzugeben (...), hat die Metaphysik und ihre Sinnfixierung über- beziehungsweise ‚verwunden'.
Nur schafft das avancierteste Medium das ältere nicht zwangsläufig ab. Deshalb widmet Hörisch den "Medien hinter den Medien" eine Meditation, in welcher er Goethes Frage im Wilhelm Meister nach dem, "was Menschen eigentlich zusammenhält", auf seine Weise zu beantworten sucht. Dem erweiterten Begriff ‚Medium' wäre alles zu subsumieren, was sich austauschen läßt, was Gemeinschaft generiert, ganz gleich, ob es sich um die Hostie, die Münze oder die CD-Rom handelt:
Abendmahl, Geld und elektronische Medien ,
heißt es bei Hörisch,
sind die aufeinanderfolgenden und einander überformenden, mittlerweile vergleichsweise friedlich koexistierenden Leitmedien unserer (...) Kultur. (...) Abendmahl, Geld und elektronische Medien ermöglichen Zugänge zu der knappen Ressource Sinn.
Die Analogisierung von Religion und Ökonomie, des Sakralen und des Profanen, gelingt nur, indem man beide Sphären auf ihre Funktion als Speicher-, Gedächtnis- oder Übertragungsmedien reduziert. Sie koordinierten Interaktion und versprächen die "Korrelation von Sein und Sinn". Es mag zwar zutreffen, daß die Ökonomie heute die einzige universelle Religion mit dem Geld als letzter Gottheit darstellt, dennoch ist die Hostie kein eigentliches Medium, sondern vielmehr Symbol für eine Opferung. Beim rituellen Opfer, beim Fest, beim Spiel - vom Karneval über das Theater, den Stierkampf bis hin zum Fußball - vollzieht sich die Kommunikation durch die leibhaftige, physische Partizipation. Eine Erfahrung, ein Erlebnis werden geteilt. Eine virtuelle Kommunion - sollte sie das Ziel aller Kommunikation sein - ist nichts anderes als eine Farce, es sei denn, man glaubt der Rede gewisser Kulturkritiker, die den Fernseher als "Hausaltar" schmähten.
Schrift und Buch sind von Ewigkeit zu Ewigkeit auf Sinn fixiert ,
schreibt Hörisch.
Die klassischen AudioVisions-Medien Phono- und Photographie sind, nomen est omen, auf die Sinne dieser endlichen Welt fokussiert.
Er gibt zu bedenken, daß Phonographie wie auch Fotografie die Monopolstellung des in "Buchstaben geronnene(n) Sinn(s)" in Frage stellen, da nun nicht mehr allein der Sinn "speicherfähig" sei, sondern darüber hinaus viele "Sinnesdaten". Die Lösung vom Logozentrismus gilt um so mehr für den noch vor der Jahrhundertwende aufkommenden Film, wobei der Ton- und Farbfilm die erste "wirklich synästhetische Kunst und Medientechnik" darstellt.
Der Übergang von den Sinn- zu den Sinn-Sinne-Medien bedeutet und bedingt eben auch den Untergang zentrisch-hierarchischer Kommunikationsverhältnisse.
Das trifft gewiß für Demokratien zu. Vergegenwärtigen wir uns aber - und dies zählt nicht zu den geringsten Verdiensten von Hörischs Buch - , in welcher Weise die Nationalsozialisten das Radio für ihre Zwecke instrumentalisierten, wird die Zweischneidigkeit von Massenmedien evident. Zum Glück favorisierten die Nazigrößen nicht das seit 1935 technisch mögliche Fernsehen, da sie sich dort visuell verkleinert vorkamen - im Kontrast zu den Kino- und Wochenschauen!
Andererseits könnte man unterstellen, daß das Fernsehen indirekt zur Beendigung des Vietnamkriegs geführt sowie den eisernen Vorhang beseitigt hat.
Wohin führt die multimediale Reise in Zeiten, da ‚Big Brother' nicht mehr eine Metapher für Überwachung und staatliche Bedrohung, sondern ein Programm mit europaweitem Erfolg ist? Gestalten dank Hightech künftig die einstigen Rezipienten die Programme?
Der Kalauer,
muß Jochen Hörisch zugeben,
daß das Leitmedium Fernsehen zugleich ein Light-Medium und ein Leid-Medium vieler Kulturkonservativer ist, ist schwer zu vermeiden.
Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Gemäß dieser Einsicht hat der Autor übrigens eigens eine Audio-CD zum Buch produziert.
Um von den Vorsatzpapieren auf Hörischs Absicht zurückzukommen, so verficht dieser nichts Geringeres als die These, daß alle Geschichte Mediengeschichte sei.
Die Unterscheidung zwischen Sinn und Sinne stiftet nicht die, aber immerhin eine mögliche Ordnung nicht nur erkenntnistheoretischer, sondern auch in medienanalytischer und -historischer Hinsicht. Sie verspricht Antwort auf eine Frage, die die theoretische Anstrengung seit ihren Anfängen beflügelt hat: nämlich ob und wie die Sinne und der Sinn zusammenkommen können.
Die angesprochene Differenzierung bezieht sich auf eine Bemerkung Hegels über die Doppeldeutigkeit, anders gesagt: die gegensätzliche Verwendung des Wortes Sinn. Mal verstehen wir unter Sinn die Bedeutung von Handlungen oder Sätzen, mal sind die Qualitäten unserer Sinnesorgane gemeint, wenn wir etwa von Geruchssinn sprechen.
Jochen Hörisch beginnt seine Medienchronik, die in weiten Strecken eine solche der Technik ist, mit der Urknall-Hypothese, um Sein und Sound zusammenzuführen. Ohne "Noise" kein Planet Erde. Bereits in den Weden, den heiligen Büchern der altindischen Religion, findet sich die Vorstellung einer auf dem Klang basierenden Kosmogonie: OM sei die Keimsilbe des Universums. Weit entfernt von astrophysikalischen Kenntnissen und konträr zur Genesis des Alten Testaments, bekräftigen die Weden, daß das Orale, der unartikulierte Sound - Hörisch verweist auf das Geschrei des Säuglings - den Beginn des Lebens markiert.
Statt: "Im Anfang war das Wort - der logos, die Vernunft - und Gott war das Wort...", hat man sich am Ursprung Lärm, Rauschen, Stimmen, Silben, Glossolalien, Schreie vorzustellen. Die paradiesische präverbale Phase währt indes nicht lange. Hörisch vergleicht die Taufe des sprachlosen Säuglings mit einer medialen - ich würde sagen: sprachlichen - Konditionierung, die noch den Computer-Anwender betrifft. Das sich frei wähnende Subjekt sei tatsächlich Untertan von Mediensystemen, zugespitzt formuliert: allenfalls noch "Schnittstelle". Vom in der Kirche ‚besprochenen' infans bis zum Internet-User. Diese skeptische Betrachtungsweise vertieft der Autor nicht, heißt es doch weiter unten:
Die Erfindung von Schrift ist eine kaum zu überschätzende, wenn nicht die Medienrevolution der Menschheitsgeschichte.
Hörischs Ausführungen zur menschlichen Kommunikation beschränken sich m.E. zu sehr auf den teleologischen Aspekt des Phänomens. Sie folgen einer Logik des Mangels und Begehrens, gewissermaßen einer beschränkten Ökonomie:
Ohne Differenz, ohne Distanz, ohne Abwesenheit (...) keine Medien. (...) Einheit und Übereinstimmung wäre das Ende aller Medien.
Die Aporie scheint mir in der Gleichsetzung von Medien mit Kommunikation zu liegen, einschließlich deren utilitaristischer Definition:
Kommt Kommunikation doch genau dann zum Erliegen, wenn Einigkeit herrscht.
Paradoxerweise gilt auch das Gegenteil, nur gedacht an das pikiert bis wütende Schweigen zerstrittener Gesprächspartner, zwischen denen keinerlei Konsens, geschweige denn "Einigkeit" mehr vorstellbar ist. In eine ähnliche Sackgasse führten die meisten Auslegungsansätze beispielsweise der 20-30 000 Jahre alten Höhlenmalereien in Frankreich oder Spanien. Handelte es sich nicht um Jagdzauber - der vorgeschichtliche Mensch zeichnete also jene Tiere, die er zu erlegen hoffte -, so könnte es sich schlicht um zweckfreie Produktionen geistig Unterentwickelter handeln. Ein gewisser Humphrey, von Hörisch zitiert, vergleicht 1999 die Felsmalereien mit der Bildnerei autistischer, "sprachlich und kognitiv stark retardierter" Kinder der Gegenwart. An Kunst oder Kultus wird kein Gedanke verschwendet. Andere Funde bestätigen dagegen den Primat von Ökonomie und Recht bei der Ausbildung von Schreibsystemen. So sind die Zählzeichen der Sumerer, sogenannte Token, noch älter als die Keilschrift - sie datieren von 9000 vor unserer Zeitrechnung.
Abstrakte Frühformen von Zahlen und nicht etwa sinnliche Bilder sind die Geburtshelfer der Schriftlichkeit.
Man versteht, daß es zunächst um elementare Praktiken der Mnemotechnik und der Dokumentation ging. Eine kleine Ewigkeit, d.h. Jahrtausende trennt die Bilder-Rätsel in der Höhle von Lascaux vom ersten phonetischen Alphabet mit 24 Buchstaben, das im 9. Jahrhundert v.Chr. in Griechenland eingeführt wurde. Die Zwischenstufen lassen sich als Pictogramme bezeichnen - sei es die Keilschrift der Sumerer, die ägyptischen Hieroglyphen, bereits eine teilphonetische Schrift, oder das chinesische Notations-System. Bemerkenswerterweise hielten die Chinesen bis heute an ihren kompliziert zu handhabenden Ideogrammen fest. Denn
phonographische' Schriften haben den Vorteil rationaler Anwendbarkeit (24 Buchstaben), während ‚logographische' Schriften wie das Chinesische (mehr als 70 000 Zeichen) auswendig gelernt werden müssen.
Zwar stellen die Unübersichtlichkeit der Aussprache nebst komplexen Betonungsregeln zusätzliche Hürden des Chinesischen dar, aber ein Auseinanderdriften zwischen Schriftbild und Aussprache läßt sich auch bei den phonetischen Schriftsystemen mühelos konstatieren. Mit dem Erlernen des ABCs ist es ja nicht getan, der Europäer lernt ebenfalls den Zusammenhang zwischen willkürlichen Zeichen und Bezeichnetem ‚auswendig'.
Ein gesonderter Exkurs ist den ‚eminenten' Medien der Homogenisierung, der Schrift und dem Geld, gewidmet. Dem Autor zufolge helfen beide dem homo sapiens, Mein und Dein, Ich und Du, das Selbst und den Anderen voneinander zu unterscheiden. Das Schriftsystem, ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. das uns vertraute lateinische Alphabet, wäre nicht allein die Prämisse für Handel und Recht, sondern insbesondere für Subjektivität: letztere ließe sich folglich als eine Art Wirkung von "Medientechniken" begreifen:
Schrift und Geld homogenisieren - unterschiedliche Epochen, verschiedenste Güter, differenteste Äußerungen, Vergangenheit und Gegenwart, das Tun und Lassen des einen und des anderen.
Wie verhält es sich dann mit der Subjektivität jener Menschen in Kulturen, die über kein Schriftsystem verfügen? Von den schätzungsweise 5000 lebendigen Sprachen seien weniger als 10% Schriftsprachen, bemerkt Hörisch, der McLuhans Diktum "the medium is the Message" so deutet, daß sich mentale Unterschiede, unabhängig von den Inhalten, qua Mediennutzung ergäben. Die Welten des Analphabeten, des Lesers, des Televisionärs oder die des Internet-Freaks wären je verschiedene.
Damit es zum "ersten industriellen Massenprodukt überhaupt", dem Buch, kommen konnte, bedurfte es zum einen der Erfindung der beweglichen Lettern, zum anderen eines Verfahrens zur Papierherstellung - das man aus China übernimmt. Das preiswertere Material - Druckmedium - löst das dauerhaftere wie Stein, Muscheln, Tierknochen, Papyros, hölzerne Kodizes oder Pergament ab. Gutenbergs Bibel, Hörisch nennt sie das "schönste Buch der Welt", inauguriert 1454 den Buchdruck. Immerhin arbeitete die Mainzer Werkstatt fast drei Jahre an den 1282 Seiten der Bibel, die nach dem Druck per Hand durch Illuminationen veredelt wurden. Die kleine Auflage von 200 Exemplaren, teils auf Papier, teils auf Pergament gedruckt, erklärt sich größtenteils durch die begrenzte Zielgruppe: weniger als 1% der Deutschen, also weniger als 100 000 Personen waren des Lesens kundig - ganz abgesehen vom lateinischen Text. Obgleich die breiteren Schichten bis 1534 auf Luthers Übersetzung des Neuen Testaments warten mußten, fürchtete der Klerus schon das subversive Potential des Buchdrucks. Würde dieser doch die Verbreitung von Übersetzungen aus dem Lateinischen fördern, was einer Entweihung der Heiligen Schrift gleichkäme. Es sollte ganz anders kommen: nicht zuletzt dank der Drucktechnik spaltet sich ein Teil der Christenheit vom Katholizismus ab. Kalender und Bibel sind die ersten ‚Bestseller' der Zeit.
Die beginnende Neuzeit verschreibt sich psychodynamisch einem Trainingsprogramm für profane Kontingenzbewältigung. Zeitungen, Lotterielose und Werbeanzeigen sind wesentliche Bestandteile dieses Programms. Ihre Botschaft: Alles könnte auch anders sein, als es ist. Der Erbfolgekrieg könnte anders ausgehen, das Los ein hoher Gewinn und keine Niete sein, man könnte dies, aber eben auch anderes kaufen.
Die ersten wöchentlichen Nachrichten erscheinen auf deutsch 1605 in Straßburg, 1650 druckt man in Leipzig eine Tageszeitung. Zum preiswerten Massenmedium werden Zeitungen aber erst, als sie sich im 17. Jahrhundert - wie heute - über Werbeanzeigen finanzieren. Schließlich mußte auch die Alphabetisierungsrate aufholen, diese liegt erst um 1900, eine Folge der preußischen Schulpflicht, über 90% der Bevölkerung. Kurioserweise gleicht der Tenor der ‚Medienkritiker' zu Goethes Zeiten dem gegenwärtigen: gewarnt wird vor den Gefahren abusiver Lektüre, das Lesen entfremde, Romane seien imstande, vor allem Frauen sittlich zu verderben - kurz: Mann wie Frau riskierten, sich zu Tode zu amüsieren! Noch heute führt, um eine jüngste Statistik zu zitieren, die Leserin in puncto Belletristikrezeption. Alles in allem dürften sich die Verhältnisse so radikal nicht verändert haben. Die Mehrheit las eben nicht Goethe, Nietzsche mußte den Druck seiner Bücher eines Tages selbst finanzieren, Baudelaire und Poe beendeten ihr Leben in Armut, die Erstauflage von Wittgensteins Tractatus betrug 50 Exemplare - um nur diese Beispiele anzuführen.
Unbestritten bleibt die Bedeutung der Presse sowohl für die Aufklärung - als auch die Verblendung, die Desinformation der Massen, muß man hinzufügen. Ohne Thesen, Pamphlete, Flugblätter, Zeitungen wären wohl weder die Reformation noch die Französische Revolution möglich gewesen. Desgleichen aber auch totalitäre Regime nicht, sobald die Presse zensiert und/oder gleichgeschaltet wird. Es sei daran erinnert, daß in der DDR ein ‚Normalsterblicher' vom Gebrauch eines Fotokopierers ausgeschlossen war... Die kleine medientechnische Revolution, die mit der Erfindung der billigen Xerokopie einherging, wäre ein eigenes Kapitel wert, aber halten wir fest: öffentliche Meinung entstand als Effekt der Presse. Ab dem 19. Jahrhundert stellt die doxa - die herrschende Meinung - die vierte Gewalt dar.
Eine weitere medienhistorische Zäsur ereignete sich ebenfalls erst vor einem Jahrhundert. Sie betrifft generell die Beschleunigung der Übertragungsmedien, den Wettlauf Nachricht-Mensch, von Paul Virilio "Dromologie" getauft. In Sachen Nachrichtentechnik erweist sich abermals der Krieg als Motor von Innovationen. Was mit Rauchzeichen, Brieftauben, Kurieren begann, wird sukzessive abgelöst von Telegraphie, Telephonie, Faxtechnologie und Internet. Die einst an Boten und Fahrzeuge gebundene Nachrichtenübermittlung wird von den Faktoren Entfernung und Zeit nahezu unabhängig, zudem ist sie gleichsam immateriell geworden. Der Übergang vom Zeitalter der Mechanik zu dem der Elektrizität, dann dem der Elektronik stellt einen Quantensprung dar.
Die Medientechnologie des 19. Jahrhunderts, die es erstmals ermöglicht, diesseits der Zeichen Licht- und Schallwellen zu speichern (...), zu transportieren (...) und in ihrer Bewegung wiederzugeben (...), hat die Metaphysik und ihre Sinnfixierung über- beziehungsweise ‚verwunden'.
Nur schafft das avancierteste Medium das ältere nicht zwangsläufig ab. Deshalb widmet Hörisch den "Medien hinter den Medien" eine Meditation, in welcher er Goethes Frage im Wilhelm Meister nach dem, "was Menschen eigentlich zusammenhält", auf seine Weise zu beantworten sucht. Dem erweiterten Begriff ‚Medium' wäre alles zu subsumieren, was sich austauschen läßt, was Gemeinschaft generiert, ganz gleich, ob es sich um die Hostie, die Münze oder die CD-Rom handelt:
Abendmahl, Geld und elektronische Medien ,
heißt es bei Hörisch,
sind die aufeinanderfolgenden und einander überformenden, mittlerweile vergleichsweise friedlich koexistierenden Leitmedien unserer (...) Kultur. (...) Abendmahl, Geld und elektronische Medien ermöglichen Zugänge zu der knappen Ressource Sinn.
Die Analogisierung von Religion und Ökonomie, des Sakralen und des Profanen, gelingt nur, indem man beide Sphären auf ihre Funktion als Speicher-, Gedächtnis- oder Übertragungsmedien reduziert. Sie koordinierten Interaktion und versprächen die "Korrelation von Sein und Sinn". Es mag zwar zutreffen, daß die Ökonomie heute die einzige universelle Religion mit dem Geld als letzter Gottheit darstellt, dennoch ist die Hostie kein eigentliches Medium, sondern vielmehr Symbol für eine Opferung. Beim rituellen Opfer, beim Fest, beim Spiel - vom Karneval über das Theater, den Stierkampf bis hin zum Fußball - vollzieht sich die Kommunikation durch die leibhaftige, physische Partizipation. Eine Erfahrung, ein Erlebnis werden geteilt. Eine virtuelle Kommunion - sollte sie das Ziel aller Kommunikation sein - ist nichts anderes als eine Farce, es sei denn, man glaubt der Rede gewisser Kulturkritiker, die den Fernseher als "Hausaltar" schmähten.
Schrift und Buch sind von Ewigkeit zu Ewigkeit auf Sinn fixiert ,
schreibt Hörisch.
Die klassischen AudioVisions-Medien Phono- und Photographie sind, nomen est omen, auf die Sinne dieser endlichen Welt fokussiert.
Er gibt zu bedenken, daß Phonographie wie auch Fotografie die Monopolstellung des in "Buchstaben geronnene(n) Sinn(s)" in Frage stellen, da nun nicht mehr allein der Sinn "speicherfähig" sei, sondern darüber hinaus viele "Sinnesdaten". Die Lösung vom Logozentrismus gilt um so mehr für den noch vor der Jahrhundertwende aufkommenden Film, wobei der Ton- und Farbfilm die erste "wirklich synästhetische Kunst und Medientechnik" darstellt.
Der Übergang von den Sinn- zu den Sinn-Sinne-Medien bedeutet und bedingt eben auch den Untergang zentrisch-hierarchischer Kommunikationsverhältnisse.
Das trifft gewiß für Demokratien zu. Vergegenwärtigen wir uns aber - und dies zählt nicht zu den geringsten Verdiensten von Hörischs Buch - , in welcher Weise die Nationalsozialisten das Radio für ihre Zwecke instrumentalisierten, wird die Zweischneidigkeit von Massenmedien evident. Zum Glück favorisierten die Nazigrößen nicht das seit 1935 technisch mögliche Fernsehen, da sie sich dort visuell verkleinert vorkamen - im Kontrast zu den Kino- und Wochenschauen!
Andererseits könnte man unterstellen, daß das Fernsehen indirekt zur Beendigung des Vietnamkriegs geführt sowie den eisernen Vorhang beseitigt hat.
Wohin führt die multimediale Reise in Zeiten, da ‚Big Brother' nicht mehr eine Metapher für Überwachung und staatliche Bedrohung, sondern ein Programm mit europaweitem Erfolg ist? Gestalten dank Hightech künftig die einstigen Rezipienten die Programme?
Der Kalauer,
muß Jochen Hörisch zugeben,
daß das Leitmedium Fernsehen zugleich ein Light-Medium und ein Leid-Medium vieler Kulturkonservativer ist, ist schwer zu vermeiden.
Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Gemäß dieser Einsicht hat der Autor übrigens eigens eine Audio-CD zum Buch produziert.