Archiv


Der Sog des Unaufregenden

In der Fortsetzung des zehnteiligen Telefongesprächs "Life and Times - Episode 2" berichtet Kristin Worrall wieder Episoden aus ihrer Jugend - offenbar erneut ebenso banal wie authentisch. Das Geheimnis der Anna O. wird geknackt in der Inszenierung von "Die Pappenheimer - Das O der Anna O.".

Von Beatrix Novy |
    "Oh! And also I had this friend named Valerie Wilson."

    Da gab es also diese Valerie Wilson, deren Familie hatte nie Geld, und sie wollte Stripperin werden, dabei war sie erst 13 oder so, und nach einem Jahr zog sie sowieso wieder weg. Das sind die Geschichten und Nicht-Geschichten, die Kristin Worall erzählt. Als das Nature Theatre of Oklahoma im letzten Jahr die erste Episode ihrer Lebensgeschichte aufführte, warteten ahnungslose Zuschauer noch stundenlang auf irgendetwas: Da musste doch mal was kommen? Ein Familiengeheimnis? Missbrauch? Mord? Das sind wir doch so gewöhnt!

    Aber nein. Sechs Schauspielerinnen sangen den Text mit allen Ähs und Hms und Alsos, und sie tanzten dazu im Ostblock-Sport-Stil. Das war so banal, dass es allmählich einen Sog entwickelte, den zu begründen allerdings schwer fiel, auch wenn hin und wieder ein Satz frappierte, der die Kindheit einer Durchschnittsamerikanerin in den Suburbs hell anleuchtete. Aber es geht Kelly Cooper und Pavol Liska vom Nature Theatre nicht um Soziologie, sondern um die Erhöhung des Unaufregenden. In dieser zweiten Episode - Kristin Worall, die Erzählerin, steuert auf die Pubertät zu - überholt die Form den Inhalt derart, dass manchmal die Konzentration für den Text nachlässt. Fumiyo Ikeda von Anna Teresa de Kersmakers Tanzgruppe Rosas ist dazugestoßen und hat das Spektrum der Bewegungen über die Schrittchoreographie hinaus erweitert. Die Geschichte, wechselweise von allen und dann immer wieder zusammen vorgetragen, stößt musikalisch in die Gefilde der Sing up!-Bewegung vor.

    Auch wo es sich geradezu nach Musical anhört, bleibt alles streng formalisiert: Jedes Wort ist gleichwertig, inklusive der unerträglich häufigen Füllwörter, das ewige "Also", die Kichergeräusche. "Das Material ist banal, die Musik nicht großartig, das Tanzen nicht virtuos" sagt Pavol Liska selbst. Hinzu kommt: Die Schauspieler sind nicht mal besonders attraktiv. Und das ist ein großes Plus. Ihre enorme Energie trägt viel dazu bei, dass die Idee, gerade aus der Summe der Belanglosigkeiten ein Kunstganzes zu machen, trägt - bisher. Jetzt warten nur noch circa zwölf Stunden Telefonaufzeichnung zu Kristin Woralls Leben auf weitere Umsetzung.

    Auch eine Entwicklungsgeschichte ist die der Anna O. , Sigmund Freuds legendärer Patientin und Hysterie-Urgestalt; auf sie ist der Wiener Schriftsteller Franzobel verfallen, nicht von allein allerdings, sondern im Auftrag der Volksbank, die im jetzt frisch umgebauten früheren Haus der Pappenheims im neunten Wiener Bezirk residiert, und Anna O., das war das Pseudonym der Bertha von Pappenheim.
    Passenderweise wird Franzobels Stück "Die Pappenheimer oder Das O der Anna O" im Schauspielhaus aufgeführt, das liegt ebenso im neunten Bezirk, unweit der Berggasse, wo die Freud-Wohnung, das Heiligtum der Psychoanalyse, sich befindet. Um allen Komponenten des Auftrags gerecht zu werden, verknüpfte Franzobel die Zeitebenen, also die Freud-Pappenheim-Ära und die Bankenkrise-Ära, und bringt stilistisch alle Sorten des Wiener Volkstheaters unter.

    Bankdirektor, Sekretärin und Hausmeister treffen nächtens in der Volksbank höchst burlesk im Nestroy-Stil aufeinander, verwandeln sich dann à la Raimundsches Zauberstück in die Familie Pappenheim und klären auf diese Weise das Geheimnis der Anna O. auf - die hat nämlich nur simuliert. Am Ende verwandeln sich alle zurück in Zeitgenossen und bessere Menschen - Besserungsstück - , Direktor und Hausmeister reichen sich über die protestierende Sekretärin hinweg die Hand. Da ist von allem etwas angetippt, mal wirklich witzig, mal kalauernd der Marke "Du bist das Schärfste zwischen Bregenz und Bratislava". Da schmerzt nichts, da wirkt aber auch nichts nach: Ein netter Abend.