Freitag, 19. April 2024

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Der Sport auf der Suche nach dem "Wir" (1)
Fundament der Ausgrenzung

Die Denkfabrik des Deutschlandfunks widmet sich in diesem Jahr Identitätsfragen. Im modernen Sport wird seit mehr als hundert Jahren die Frage gestellt: Wer darf mitmachen und wer bleibt draußen? Zum Auftakt der DLF-Sportserie geht es um das ständige Ringen um Teilhabe.

Von Ronny Blaschke | 21.02.2021
Militär-Kapellen sind in der Mitte der Arena versammelt
Von Anfang an waren die Olympischen Spiele der Neuzeit ein Spielfeld der Elite. An den ersten Spielen 1896 in Athen durften keine Frauen teilnehmen. (picture alliance / akg-images | akg-images)
Am Ende des 18. Jahrhunderts war die Euphorie der Französischen Revolution in Paris noch deutlich zu spüren. Auf dem Marsfeld, wo heute der Eiffelturm steht, versammelten sich mehr als 100.000 Menschen für Volksfeste. Mit Wagenrennen, Feuerwerken, Heißluftballons. Der Berliner Sportjournalist Martin Krauß hat sich Quellen dazu angesehen:
"Da war auch eine Tribüne aufgebaut. Das war kein richtiges Stadion, wie wir es heutzutage kennen, sondern in der Mitte war ein Hügel. Der Hügel wurde auch für Theaterspiele benutzt. Aber man konnte auch drum herumlaufen, Bahnen für Läufe und Pferderennen gab es. War gut einsehbar alles, das erfüllte schon die Kriterien eines Stadions. Das waren Feste zum Feiern der Französischen Revolution. Und die hatten auch sportliche Elemente."

Metzger, Hutmacher, Soldaten

Einige Historiker bezeichnen diese Wettbewerbe als "Republikanische Olympiade". Auch, weil sie bereits ein wichtiges Merkmal des modernen Sports erfüllten: die Zeitmessung und die Ermittlung von Siegern. Im Laufen, Ringen und Rudern, auch im Schießen auf Lebensmittel oder im Klettern an glitschigen Stangen. Der schnellste Reiter erhielt ein neues Pferd, der Zweite ein Pistolenpaar. Mit dabei: auch Metzger, Hutmacher und Soldaten. Vereinzelt auch Frauen, erzählt Martin Krauß, der ein Buch über die Sportgeschichte schreibt, mit dem Fokus auf Teilhabe.
"Teilgenommen haben die Leute, die in der Französischen Revolution als der dritte Stand charakterisiert waren, das Volk. Und die haben sich das Recht genommen für politische Partizipation und für sportliche Partizipation. Dazu gehört auch, den öffentlichen Raum zu erobern. Das gehört ja zu einer Revolution immer dazu. Und das ist auch für Sport elementar wichtig: Es war offen für alle, und mit dem heutigen Begriff würde man sagen: divers."

Olympia ohne Frauen

Im Sport wird seit Jahrhunderten um Teilhabe gestritten. Schon Ende des 17. Jahrhunderts gab es in England rund um die "Glorious Revolution" Wettschwimmen und Boxkämpfe. Ähnlich sah es hundert Jahre später aus, während der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten. Im 19. Jahrhundert existierten über sechzig Pläne für weltweite Sportspiele. Etliche waren von einer sozialen Durchlässigkeit geprägt. Das änderte sich aber mit den Olympischen Spielen der Neuzeit, sagt er der US-Autor Jules Boykoff.
"Von Anfang an waren die Olympischen Spiele der Neuzeit ein Spielfeld der Elite. Der Gründer des IOC, Pierre de Coubertin, versammelte Adlige und Großbürger um sich. An den ersten Spielen 1896 in Athen durften keine Frauen teilnehmen. Auch Arbeiter, die ihr Geld mit Muskelkraft verdienten, waren ausgeschlossen. Stattdessen: wohlhabende Sponsoren mit wachsendem Einfluss. Das olympische Fundament basiert auf Exklusion."
Baron Pierre de Coubertin machte die olympische Idee regelrecht zum Kult.
Der Gründer des IOC, Pierre de Coubertin, versammelte bei den Olympischen Spielen Adlige und Großbürger um sich (picture-alliance / dpa)
Knapp 250 Athleten aus 14 Ländern nahmen an den ersten Spielen in Athen teil. Niemand aus Asien, Afrika und Lateinamerika. Auch die Gründungsmitglieder der internationalen Sportverbände verdeutlichten im frühen zwanzigsten Jahrhundert das Überlegenheitsdenken der Kolonialmächte und ihrer Partner. Ein besonders dunkles Kapitel waren die "Anthropologischen Tage" im Rahmen der Olympischen Spiele 1904 in St. Louis, sagt Jules Boykoff, Autor des Buches "Power Games", über die politische Geschichte Olympias.
"Für die ,Anthropologischen Tage‘ wurden indigene Menschen in die USA verschifft, unter anderem aus Kanada, Japan und den Philippinen. Wie in einem Zoo wurden die Indigenen vorgeführt und vermessen. Bei einem Laufwettbewerb warteten einige Teilnehmer auf ihre langsameren Kollegen, um gemeinsam ins Ziel zu kommen. Für die Organisatoren war das eine Bestätigung ihrer Vorurteile, für die Rückständigkeit der so genannten ,Wilden‘."

Sport als Selbstbehauptung für Arbeiter

Der Sport diente Herrschaftsansprüchen, doch er bot auch eine Bühne für Widerstand. Ab 1922 fanden viermal Weltspiele für Frauen statt. Nach Verhandlungen mit dem IOC und der Aufnahme von Frauen bei Olympia wurden diese Spiele aufgelöst. Auch die Arbeiterbewegung organisierte sich in Vereinen und nutzte Wettbewerbe für politische Selbstbestimmung, sagt der britische Publizist David Goldblatt.
"Arbeiter wurden aus wichtigen Organisationen herausgehalten, also gründeten sie eigene Institutionen: Gewerkschaften, Suppenküchen und Sportvereine. Auch als Ablenkung von den harten Bedingungen in den Fabriken. Zur ersten Arbeiterolympiade 1925 in Frankfurt kamen mehr als 250.000 Besucher. Das waren viel mehr Gäste als bei Olympia 1924 in Paris. Auch 1936 sollte eine Arbeiterolympiade stattfinden, als Protest gegen die Nazispiele von Berlin. Doch Gastgeber Barcelona musste zurückziehen. Denn eine Woche vor den Spielen begann der Spanische Bürgerkrieg."
Es waren in der Geschichte beeindruckende Athleten, die eine Öffnung des olympischen Sports vorantrieben, Schritt für Schritt. Der indigene US-Leichtathlet Jim Thorpe bei den Spielen 1912 oder die selbstbewusste US-Speerwerferin Babe Didrikson 1932. Ebenfalls in Erinnerung: die Bürgerrechtsbewegung um Tommie Smith und John Carlos 1968. David Goldblatt beschreibt viele dieser Biografien in seinem Buch "Die Spiele – Eine Weltgeschichte der Olympiade."
"Das Umfeld vieler Sportverbände ist nicht förderlich für kritisches Denken. Es gab und gibt autoritäre Funktionäre und Trainer. In vielen Sportarten wurde Missbrauch dokumentiert. Sportler, die sich mit Worten oder Leistungen dagegen positionieren, fallen auf. Zum Beispiel Abebe Bikila. Dieser Läufer aus Äthiopien gewann 1960 barfuß den olympischen Marathon in Rom. Ausgerechnet in Italien, das Äthiopien unter Mussolini einst erobern wollte."

Noch immer dominiert die westliche Perspektive

Einigen gesellschaftlichen Gruppen ging die Liberalisierung Olympias nicht schnell genug. Für Vernetzung und Selbstbehauptung gründeten sie eigene Sportbewegungen: die jüdisch geprägten Makkabi-Spiele, die Paralympics für Athleten mit Behinderung, die Gay Games für Homosexuelle. Doch in großen Verbänden wie dem IOC dominiert noch immer die westliche Perspektive, sagt der Journalist Martin Krauß. Und nennt als Beispiel den Sportkalender, der auf Wettbewerbe an hohen christlichen Feiertagen verzichtet.
"Wenn man das Standing von anderen Weltreligionen im Weltsport anschaut, die haben da überhaupt nichts zu meckern. Das muslimische Opferfest wird nie berücksichtigt. Jom Kippur und Rosch Haschana als zwei sehr hohe jüdische Feste, da findet natürlich Sport statt. Auch in Ländern mit hoher jüdischer Bevölkerung, in den USA beispielsweise."
Auch der Fußball-Weltverband FIFA bezeichnet sich gern als globale Organisation. An ihrer WM 2018 nahmen 14 Länder aus Europa teil, aber nur fünf aus Afrika. In den vergangenen anderthalb Jahrhunderten hat sich der Sport geöffnet, aber völlig offen ist er noch nicht, zum Beispiel für trans- und intersexuelle Menschen. Auf der Suche nach dem "Wir"? Verbände und Athleten haben auf diese Frage noch immer unterschiedliche Antworten.