Auf halben Weg zwischen Wien und Schloss Schönbrunn, wo heute noch die Großstadt ins Ländliche übergeht, stehen am Waldrand inmitten von Gemüsegärten und Feldern auf großzügigen Grundstücken zwei weiße Villen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die eine bedient unsere Vorstellung von einem prächtigen, mit Säulen geschmückten Landhaus, die andere Villa ist auch nicht klein, verzichtet jedoch auf jede augenscheinliche Repräsentation.
Beide Villen wurden von demselben Architekten als private Wohnhäuser gebaut. Die eine 1896, die andere 1913. Zwischen diesen beiden Daten liegt die Geburtsstunde der modernen Baukunst, die der Architekt beider Häuser, der Wiener Otto Wagner, noch während der Bauzeit der ersten Villa 1896 ausrief.
Otto Wagner war seit 1864 nach Ausbildung in Berlin und Wien selbstständiger Architekt in Wien. 1841 in eine durchaus vermögende Familie hineingeboren verlor er in seinem sechsten Lebensjahr seinen Vater, den Königlich Ungarischen Hofnotar Rudolf Wagner. Das Haus der Familie in der Göttweihgasse mitten in Wien war von dem damals führenden Wiener Architekten Theophil Hansen gebaut worden. Der frühe Tod des Vaters band Otto eng an seine Mutter, die er nicht nur liebte, sondern abgöttisch verehrte. Sie war vom adligen kaiserlichen Hofnotar Helferstorfer adoptiert worden und auf diese Weise zu dessen beachtlichem Vermögen und Adelstitel gekommen.
Es waren also gesicherte finanzielle und gehobene gesellschaftliche Verhältnisse, in denen Otto Wagner aufwuchs und die ihm auch später zur Verfügung standen. Sie bildeten die Grundlage für eine exzeptionelle baukünstlerische Entwicklung. Er schreibt:
"Die Experimente mit den verschiedenen Stilrichtungen, welche vom größten Theile der architektonischen Welt in den letzten zwanzig Jahren durchgejagt wurden und die Bauweisen von Jahrtausenden mehr oder minder karikiert haben, sind ziemlich spurlos an mir vorübergezogen, und so bin ich schließlich zur Überzeugung gelangt, dass eine gewisse freie Renaissance, welche unseren genius loci in sich aufgenommen hat, mit großmöglichster Berücksichtigung unserer Verhältnisse, sowie der modernen Errungenschaften in Materialverwendung und Konstruktion für die Architektur der Gegenwart und Zukunft das allein richtige sei: ist doch seit dem Anfang aller Kulturentwicklung die Bauweise immer der Ausdruck der Gesinnung und des Könnens der Völker aller Zeiten gewesen."
Er sei ein Vertreter einer "gewissen praktischen Richtung". Der Baustil der Zukunft werde ein Nutzstil sein, der – gepaart mit dem Streben nach innerer Wahrheit – auch in ästhetischer Beziehung seine Berechtigung haben werde. In seiner Antrittsrede an der Akademie der Bildenden Künste, Wien, am 15. Oktober 1894 rief er seinen Kollegen und Studenten zu, dass Kunstwerke immer ein Spiegelbild ihrer Zeit waren, Kunst und Künstler ihre Zeit repräsentieren müssten:
"... der Ausgangspunkt jedes künstlerischen Schaffens müssen aber das Bedürfnis, das Können, die Mittel und die Errungenschaften unserer Zeit sein.
Unsere Lebensverhältnisse, unsere Konstruktionen müssen voll und ganz zum Ausdruck gebracht werden, soll die Architektur nicht zur Karikatur herabsinken. Der Realismus unserer Zeit muss das werdende Kunstwerk durchdringen."
Die Gleichsetzung von moderner Baukunst und modernem Leben, Nutzstil, Architektur als Bedürfnisbefriedigung, all dies will nicht zu den Bauten Otto Wagners passen. Denn die – insbesondere die erste Villa in der Hüttelbergstrasse – verbuchen wir eher unter Stilbegriffen wie Neorenaissance oder Jugendstil. Den von Wagner propagierten nüchternen Realismus finden wir erst bei den Architekten der so genannten Klassischen Moderne eine Generation später.
Auch das Leben Wagners verlief in anderen Gleisen; von Rationalität und Nüchternheit keine Spur, stattdessen schwelgerische Liebe bis zur Verblendung, eine Scheidung, zwei Ehen, zwei uneheliche Söhne vor der ersten Heirat mit Josefine Domhart, die ihm eine Tochter gebar, zwei weitere Kinder mit seiner zweiten Frau Louise Striffel, mit der er ein langes voreheliches Verhältnis hatte, über das seine Mutter, die liebe Mama, stets informiert war.
"Wie oft hat meine Mama gesagt, Otto, Du brauchst eine gescheite Frau, und – an eine dumme Nocken bin ich gebunden."
Die Trennung von seiner ersten Frau erscheint ihm wohlüberlegt und als die Tat eines Gentlemans. Aber erst nach ihrem Tod 1889 konnte er – endlich – seine Louise, die er bereits illegal nach griechisch-unierten Ritus 1884 in Budapest geheiratet hatte, in der Wiener Votiv-Kirche vor den katholischen Traualtar führen und sich einen lang ersehnten Traum erfüllen. Seit 1880 währte das Verhältnis mit Louise:
"An Louise
Kunst und Liebe
Göttlich seid ihr allein
Für des Lebens Triebe
Goldener Sonnenschein
Ohne Euch kein Leben
Ohne Euch kein Sein
Zum Eckel alles Streben
Nur leere Herzenspein
Des Daseins Gunst
Zu Sonnen sich mir bot
Louise und die Kunst
Treu bis zum Tod
Otto"
Louise war Wagners Muse, sie war ihm in jeder Beziehung eine treue, verständnisvolle und umsichtige Gefährtin. Joseph August Lux, der anlässlich des 70. Geburtstages die erste Monografie Wagners schrieb und Louise selbst kennengelernt hatte, resümiert: Bei Otto Wagner könne man sagen, dass die bewundernswerte Organisation seiner Schaffenskräfte, die Harmonie seines inneren und äußeren Lebens in dieser denkbar glücklichen Ehe beruhe, als dem Fundament seines menschlichen Glückes.
Wie kommt dieser andere Otto Wagner mit dem zusammen, der uns in seinen Schriften und Bauten entgegentritt? Ist seine Architektur ein Gegenmodell zu seinem Leben? Ist dieses Leben der Ausgleich für die Härte, für den Kampf, mit dem er sein Ziel einer modernen Baukunst zu erreichen strebte? Oder gehört beides, Idealismus und Realismus, untrennbar zueinander?
An der ersten Villa Wagners gibt es rechts und links des von Säulen gebildeten Eingangs jeweils eine Inschriftentafel, die wie römische Gesetzestafeln das Lebensprogramm des Bauherrn und Architekten verkünden. Auf der rechten findet sich das von Wagner in seinen Schriften oft zitierte Artis Sola / Domina / Necessitas – Die Kunst kennt nur einen Herrn – das Bedürfnis. Auf der linken Seite dann der Kontrapunkt: Sine Arte / Sine Amore / Non est Vita – Kein Leben ohne Kunst und Liebe. Beides gehört zusammen, ergeben erst den ganzen Wagner, die beiden Pole seiner Architektur.
"Schon vor mir hat Einer gesagt, dass der Architekt in seiner glücklichen Vereinigung von Idealismus und Realismus die Krone der modernen Menschheit sei: Ich aber füge hinzu, dass seine schaffende, gebärende Natur ihn weit über das Niveau der Alltäglichkeit erheben muss."
Nichts war Wagner mehr zuwider als Alltäglichkeit, als das bloße Weiterwursteln, als Trägheit in praktischer und künstlerischer Hinsicht. Zeit seines Lebens kämpfte er gegen die Mediokrität, die ihm in Wien des fin de siècle auf Schritt und Tritt entgegenschlug. Sein Biograf Lux meinte zu wissen, woran Wien krankte und schrieb 1914, die Entdeckung des kleinen Mannes sei die heimliche Tragik Wiens. Der kleine Mann sei der große Herr geworden, aber der große Herr sei ein Lebewesen niederer Ordnung, das zwar große Fresswerkzeuge und einen Riesenbau habe, aber keinen Kopf, um die Gedanken der Kunst, der Größe und Schönheit zu fassen.
Wie alle Wiener liebte Otto Wagner Wien über alles und zugleich litt er an der Stadt, die er in wesentlichen Teilen zur modernen Großstadt ausbaute, die ihm jedoch nicht alles erlaubte, was er ihr zuwenden wollte. Viele Projekte blieben auf dem Papier, obwohl Otto Wagner unermüdlich alle seine Kräfte einsetzte und sich immer wieder mit neuen Vorschlägen und Entwürfen einmischte. Das ängstliche Festhalten am Tradierten nur deshalb, weil es schon immer so gewesen war, und das beharrliche Ausweichen vor der längst auch in Wien angekommenen Moderne mit ihren neuen Materialien, Techniken und Aufgaben reizte Wagner zu polemischen Widerspruch wie diesem:
"So kommt es, dass Laien und leider auch viele Architekten der Anschauung sind, dass ein Parlament wohl griechisch, ein Telegraphenamt oder eine Telefonzentrale aber nicht gotisch gebaut werden können, während sie eine Kirche direkt in letzterem Stile verlangen. Sie vergessen Alle hierbei nur Eins, nämlich dass die Menschen, welche diese Gebäude frequentieren, alle gleich modern sind, und es weder Sitte ist, mit nackten Beinen im antiken Triumphwagen am Parlamente vorzufahren, noch mit geschlitztem Wamse sich der Kirche oder einem Rathause zu nähern."
Der Widerspruch zwischen der von Wagner propagierten modernen Großstadt Wien, für die er die bis heute in Betrieb stehende Stadtbahn von 1894 bis 1900 plante und realisierte, und dem, was er für möglich und stadtverträglich hielt, war kaum aufzulösen. Vielleicht waren die Forderungen Wagners zu hoch, wenn er prophezeit:
"So gewaltig aber wird die Umwälzung sein, dass wir kaum von einer Renaissance der Renaissance sprechen werden. Eine völlige Neugeburt, eine Naissance wird aus dieser Bewegung hervorgehen, steht uns doch alles Können, alles Wissen der Menschheit zur freien Verfügung."
Den früheren Erneuerern hätten nur begrenzte Mittel zur Verfügung gestanden, dennoch aber hätten auch diese, wenn sie heute bauen würden, die modernen Mittel genutzt. Wenn die Mehrheit verlange, dass heute so gebaut würde wie früher, dann übersehe sie, …
"... dass es sich für den Künstler nicht darum handeln kann, zu bauen wie Bramante, Michelangelo, Fischer von Erlach etc. gebaut haben, sondern darum, wie diese Künstler bauen würden, wenn sie heute unter uns lebten und Kenntnis hätten von unserem Empfinden, von unserer Lebensweise, von unseren Materialien und Konstruktionen."
Otto Wagner war nicht bescheiden, er stellt sich in eine Reihe mit den großen Meistern der Renaissance und des Barock und natürlich sieht er sich in der Nachfolge des bis dato größten österreichischen Architekten, Johann Bernhard Fischer von Erlach. Dessen Wiener Bauten, neben dem Schloss Schönbrunn vor allem die Karlskirche mit ihrer gewagten Komposition von Kuppelkirche und den zwei, den Eingangsportikus flankierenden Siegessäulen, standen immer im Fokus Wagners. Für den Karlsplatz, dessen städtebauliche Situation bis heute nicht geklärt ist, plante er mehrfach: Zunächst legte er 1892 städtebauliche Vorschläge vor, dann entwarf er ab 1901 das Kaiser-Franz-Joseph-Stadtmuseum, das er trotz immer neuer Vorschläge nicht realisieren konnte. Ebenso blieben viele weitere Projekte in Wien ungebaut.
Dennoch aber ist Otto Wagners Architektur in Wien präsent, sehr präsent sogar. Die Kirche am Steinhof, die jeweils sechsgeschossigen Mietshäuser an der Wienzeile und der Neustiftgasse, die Postsparkasse und – nicht zu übersehen – die Bauten für die Wiener Stadtbahn mit ihren Haltestellen, Bahnhöfen und Brücken. Zusammen mit den Bauten für den Donaukanal tritt uns hier Otto Wagner als der moderne Baumeister entgegen, den wir in seinen Schriften fassen können. Moderne Architektur hieß hier für ihn, Architektur für die modernen Transportmittel, die Stadtbahn, die Kanalschifffahrt. Wagner ist der erste Architekt, der sich der neuen Aufgabe der Großstadtarchitektur stellte und sie rigoros durchsetzte:
"Unser Realismus, unser Verkehr, die moderne Technik, sie begehren heute gebieterisch die gerade Linie, und nur durch deren Anwendung können jene Verkehrszüge entstehen, welche keine Großstadt entbehren kann, und auch nur so werden Häuser, Straßen und Menschen zusammenpassen."
Wieder geht es Otto Wagner um die Stimmigkeit zwischen moderne Zeit und modernen Menschen. Wo dies nicht geleistet sei, sieht er nur "Ausgeburten der Geschmacklosigkeit" und wünscht den Historisten "Untergang und ewige Verdammnis". Die moderne Zeit müsse sich ihren Aufgaben ohne zu große Rücksicht auf die Tradition zuwenden, sie müsse weiterarbeiten und den technischen und ästhetischen Stillstand aufheben. Wagners Generalregulierungsplan der Stadt Wien, den er von 1892 an bearbeitete und ab 1894 bis 1900 um die Stadtbahnplanungen erweiterte, gab ihm Gelegenheit, seine Vorstellung umzusetzen. Tatsächlich wurde Wien auf diese Weise zumindest in der Verkehrsplanung zu der modernsten Stadt Europas. Otto Wagner ging jedoch nie so weit wie die Architekten der so genannten Klassischen Moderne der 1920er Jahre, wo zum Beispiel Le Corbusier plante, große Teile des historischen Paris abzureißen und durch Wohnhochhäuser zu ersetzen.
"Unsere Zeit erfordert gebieterisch große Verkehrszüge; dass durch Eröffnung solcher hin und wieder ein vertrauter Winkel fallen muss, ist wohl selbstverständlich; aber ebenso sicher ist es, dass auch Neues, Schönes geschaffen werden kann."
Die tabula rasa der Moderne des 20. Jahrhunderts jedoch war nicht Wagners Ziel. Ihm ging es durchaus auch um Traditionsbezug. Gerade in Wien war durch den Stadtplaner Camillo Sitte der "Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen" – so der Titel von Sittes 1889 erschienenem Hauptwerk – besonders kontrovers diskutiert worden. Sitte war der Wiederbegründer der Stadtbaukunst und er war überzeugt, dass die Stadtbaukunst ganz in die Hände des Baukünstlers gehöre, also nicht von Technokraten bestimmt werden dürfte. Gegen den Schematismus regelmäßiger, oft langer gerader Straßen setzte er Gefühl, Gemüt und Erhabenheit. Stadtbaukunst müsse mehr sein als bloße Erfüllung funktionaler Gegebenheiten. Insbesondere bei der Platzgestaltung solle man den tradierten Typen aus Mittelalter, Renaissance und Barock und deren Platzmöblierungen mit Brunnen und Statuen folgen.
Wagner konnte den Argumenten Camillo Sittes so weit folgen, dass auch er dafür plädierte, dass der Kunst der ihr gebührende Platz eingeräumt werde; ohnehin dürften nur wahre Baukünstler an öffentlichen Plätzen bauen und die technischen Hochbauten der Ingenieure müssten zwingend den Baukünstlern zur Ausgestaltung überwiesen werden. Wenn nur einige Jahre so verfahren würde, dann würde sich bald der in Lethargie versunkene Geschmack der Bevölkerung von selbst erwecken und sich erfolgreich befruchten. Dennoch aber konnte Wagner Sittes "malerischen" Städtebau nicht unwidersprochen lassen:
"Es muss immer bedacht werden, dass eine moderne Großstadt weder das Aussehen des antiken Rom, noch des alten Nürnberg haben kann und darf."
Zugleich aber plädiert er für "pietätvolle Erhaltung der uns überlieferten Werke der Kunst" in ihrem historischen städtebaulichen Umfeld. So sollten "Sehdistanzen" eingehalten werden und ein historisches Gebäude nicht durch Neubauten erdrückt werden.
"Die Fehler, in welche unsere Vorfahren dadurch verfielen, dass sie pietätlos die Werke ihrer eigenen Vorgänger unbeachtet ließen oder zerstören, wollen wir vermeiden und die uns überlieferten Werke, wie Juwelen in passende Fassung bringen, damit sie uns erhalten bleiben, als plastische Illustration der Geschichte der Kunst."
Insbesondere bei seinen Entwürfen zum Karlsplatz hat sich Otto Wagner diese Maxime immer wieder vergegenwärtigt und auch bei seinen modernen eisernen Brückenbauten war ihm die Gestaltung der baukünstlerisch durchgeformten Brückenköpfe ein Hauptanliegen. Gleichwohl verliert er die moderne Großstadt nicht aus dem Blick:
"So frevelhaft es nun ist, irgendein Kunstwerk ohne zwingenden Grund anzutasten, ebenso lächerlich ist es, wegen jedes fallenden Schmutzwinkels, weil er ‚malerisch’ ist, ein Geschrei zu erheben.
Würden diese Vertreter des Malerischen die Augen öffnen, so wären sie schon lange zur Überzeugung gekommen, dass die gerade, reine, praktische Straße, zeitweilig unterbrochen von Monumentalbauten, mäßig großen Plätzen, schönen bedeutenden Perspektiven, Parks etc., die uns in kürzester Zeit ans Ziel führt, auch weitaus die schönste ist."
Otto Wagner hatte für die sechsjährige Arbeit an den Stadtbahnplanungen 120.000 Gulden erhalten. Eine Summe, die noch sechzig Jahre später seinem Schüler Richard Neutra als eine "unfassbare Lappalie von Vergütung" erschien, denn das Projekt erforderte ungeheure Kräfte. Neutra vermutet, dass die trotz geringer Entlohnung unermüdliche Schaffenskraft Wagners nicht nur mit dessen persönlicher Wohlhabenheit zu erklären sei, sondern vor allem durch seine künstlerisch-schöpferische Besessenheit, die er auch seinen Schülern und Mitarbeitern in außergewöhnlichem Maße mitteilte. Dies hätte Wagner bestätigt:
"Der Architekt hat daher in innerer Befriedigung den größten Teil seines Lohnes zu suchen. Nichtsdestoweniger muss er mit gleicher Liebe und Ausdauer sein Werk stets im Auge behalten und nicht irre oder müde werden, wenn selbst seine pekuniäre Entlohnung, wie es leider die Regel ist, einem Almosen gleich kommt und es der Welt wie bisher auch fernerhin gefallen sollte, beispielsweise einer Sängerin für eine Stunde Singens so viel zu geben, als sich Gottfried Semper sein ganzes Leben lang trotz aller Sparsamkeit verdiente."
Auch wenn Wagner nicht um des Geldverdienens willen arbeiten und bauen musste, so kann es für ihn nicht leicht gewesen sein, immer wieder mit Entwürfen und bei Wettbewerben zu scheitern. Oft wurden seine Entwürfe prämiiert, meist waren sie in der Spitzengruppe vertreten: So beim Wettbewerb für den Berliner Dom 1867, für den Wiener Justizpalast 1874, für das Hamburger Rathaus 1876, für das Reichstagsgebäude in Berlin 1882, für das Parlamentsgebäude in Budapest 1883, für die Börse in Amsterdam 1884, für den Friedenspalast in Den Haag 1905 und für viele andere Wettbewerbe mehr. In Wien selbst wurde er mit Orden reichlich versehen.
Vor allem aber lebte und wirkte er für seine Schüler. Gleich zu Beginn seiner Lehrtätigkeit steht für ihn fest, dass er nur wenige ausbilden werde, um den "traurigen Typus verfehlter Existenzen wenigstens etwas zu verringern." Überzeugt von der hohen Bedeutung seines Berufs, könne eben nicht jeder teilhaben:
"Unter den bildenden Künsten ist die Baukunst allein wirklich schaffend und gebärend, das heißt, sie allein ist im Stande, Formen zu bilden, welche der Menschheit schön erscheinen, ohne das Vorbild in der Natur zu finden. Haben diese Formen zwar im Natürlich-Struktiven ihren Keim, im Material ihren Ursprung, so liegt doch das Gewordene so weit vom Ausgangspunkte, dass es als volle Neubildung gelten muss."
Es kann daher nicht befremden zu hören, dass in der Baukunst der höchste Ausdruck menschlichen, an das Göttliche streifenden Könnens erblickt wird."
Kein Wunder, dass nur wenige in den Genuss kamen, der Wagner-Schule anzugehören. Er zog die kreativsten Köpfe aus Wien und den Kronländern der Donaumonarchie an und band sie an sich. Schnell wurde die "Wagner-Schule" zu einem Mythos, jedoch nicht ohne Grund, denn viele Schüler wurden zu führenden Architekten des 20. Jahrhunderts: Richard Neutra wurde schon gehört, Jan Kotera, Josef Plecnik, Max Fabiani und Josef Hoffmann müssen neben anderen vor allem in Wien tätigen Architekten genannt werden. Diesen rief er 1905 zum zehnten Jahrestag der Wagner-Schule euphorisch zu:
"Meine lieben Schüler! Es war und ist meine Aufgabe, aus totem Gestein feurige Kristalle herauszubrechen und zuzuschleifen und ihnen Leuchtkraft zu verleihen.
Diese zutage geförderten Kristalle, meine Herren, sind Sie und viele dieser Kristalle verbreiten heute schon ein glänzendes, blendendes Licht.
Diese leuchtenden Kristalle umgeben mich und es erhöht diese glänzende Fassung meinen Wert um Bedeutendes. Schüler und Lehrer sind dadurch ein untrennbares Ganzes geworden; das wollte ich feststellen."
Wagners vielleicht begabtester Schüler war Josef Maria Olbrich, der 1897 zusammen mit Gustav Klimt und anderen bildenden Künstlern die Wiener Sezession als Gegenbewegung zum herrschenden Historismus gegründet und das Sezessionsgebäude gebaut hatte. Als Wagner sich bald der Sezession anschloss, ging, wie Lux sich erinnerte, ein Aufruhr durch Wien:
"Alle bösen Instinkte waren mit einem Male entfesselt. Neid, Eifersucht, Parteihass, Konkurrenzangst und schließlich der bloße Pöbelinstinkt, der die Freude am Skandal hat, mobilisierte gegen ihn. Dass sich ein so Mächtiger, wie Otto Wagner, zu den jungen Modernen gesellte, deren Erscheinen mit Hohnlachen begrüßt wurde, gab vielen ernstlich zu denken."
Es ging um nicht weniger als die Moderne Baukunst, wie der Titel seines wichtigsten, in vier Auflagen zwischen 1896 und 1914 erschienenen Buches lautet: "Hier kämpft er seinen Kampf und hier auch feiert er seine langsamen doch stetigen Erfolge." In der zweiten Auflage von 1898 beklagt er die zahlreichen Angriffe gegen seine Lehre, aber er muss zugeben, dass sich seine Worte schneller als er dachte, bewahrheitet hätten:
"… fast überall ist die ‚Moderne’ als Siegerin eingezogen. Scharenweise kamen die Gegner als Überläufer ins Lager, ihre besten Kämpfer wurden wankend, als sie erkannten, dass der Schild der Tradition und Intimität, welchen sie dem Ansturm der ‚Modernen’ entgegenhielten, doch nur aus Glas bestand."
Worin lag nun das Neue dieser Architektur, die wir heute eigentlich nicht der Moderne zuordnen, sondern unter Jugendstil subsumieren? Es ging Otto Wagner nicht um den revolutionären Bruch mit der Tradition; sein Weg zu einer neuen Baukunst ist evolutionär.
"Ein striktes ‚Wie sollen wir bauen?’ kann wohl nicht beantwortet werden; unser Gefühl muss uns aber heute schon sagen, dass die antikisierende Horizontallinie, die tafelförmige Durchbildung, die größte Einfachheit und ein energisches Vortreten von Konstruktion und Material bei der künftigen fortgebildeten und neuerstehenden Kunstform stark dominieren werden; es ist dies durch die moderne Technik und durch die uns zu Gebote stehenden Mittel bedingt."
Das war geradezu prophetisch, vergegenwärtigt man sich die Geschichte der Architektur des frühen 20. Jahrhunderts. Wagner setzt die modernsten Materialien und Konstruktionen ein; er ist Funktionalist, wenn er die Fassade eines der Mietshäuser in der Wienzeile mit Majolikafliesen belegt, weil diese abwaschbar sind; zugleich aber ist er auch "Jugenstilist", wenn diese Majolikafliesen ein großes, die ganze Fassade überspinnendes Blumenmotiv bilden. Es sei die Doppelstellung als Künstler und Bautechniker, die den Architekten ausmache. Eine Art Realismus, wie in der Schwesterkunst der Malerei, müsse Platz greifen. Dieser Realismus in der Architektur würde zwar unarchitektonische Blüten treiben wie beim Eiffelturm, für die bessere Hälfte des Architekten, für den Künstler in ihm blieben noch genügend Aufgaben übrig.
So ist die Postsparkasse in Wien mit ihrer geschuppten Außenhaut und ihrer gläsernen Schalterhalle gewiss das modernste Gebäude Wagners; Materialien wie Beton, Eisen, Glasbausteine, das hochmoderne Aluminium kommen zum Einsatz; für Lüftung, Heizung und Fahrstühle werden aktuelle high-tech-Anlagen eingesetzt; Funktionalität bestimmt die innere Organisation bis in die Details der Toiletten:
"Die erforderlichen Waschtische mit Kipplavoirs, Imperial-Closets und Pissoirs sind desgleichen in die Toilettenräume verlegt. Ihre Anzahl ist wieder der Anzahl der Beamten der anliegenden Bureaux und dem Geschlechte angepasst.
Das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Beamten wurde nach dem gegenwärtigen Personalstande festgesetzt und da vorauszusehen ist, dass der weibliche Teil sich in Zunahme befindet, wurde in der Studie darauf Rücksicht genommen."
Zugleich aber ist das Haus keine Maschine, sondern eine ebenso künstlerische wie funktionale Komposition. Die Betondecken mit Eichenparkett, sind nicht nur sehr dauerhaft, leicht zu reinigen und sehr schalldämpfend, sondern auch angemessen schön. Es geht Otto Wagner nicht um Äußerlichkeiten, sondern um das innere Wesen – in der Architektur, wie in der Liebe. So schreibt er an Louise:
"Jetzt, jetzt will ich das Glück haben, jetzt will ich Dich besitzen! Nicht die berückenden Eigenschaften Deines Körpers, nicht diese, so stark sie sind, nicht nach ihnen lechze ich, nein die Früchte Deines Herzens will ich kosten und mich laben, Deine Hand will ich drücken, Dein Auge, Deine Seele schauen, wann und wo ich will."
Hier finden wir nochmals die zwei Welten Otto Wagners, die doch eine Einheit bilden: Auf der einen Seite, der moderne Realist, auf der anderen Seite der schwärmerische Idealist in emphatischer Liebe. Beide Seiten gehören genauso zusammen wie Wagners Versuch, das Alte mit dem Neuen zu versöhnen, ohne mit der Vergangenheit schockartig zu brechen. Die radikalen Modernen der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, Le Corbusier, Mies van der Rohe, Gropius haben Wagners versöhnende Argumentation nicht mehr nachvollziehen wollen. Nun stand die Revolution, der völlige Bruch mit der Tradition an. Die Wechselbedingtheit von Formalentwicklung und geistigem Geschehen, die Wagner auf seinem evolutionären Weg zur Moderne verinnerlicht und an seine Schüler weitergegeben hatte, wurde als veraltet verworfen.
Beide Villen wurden von demselben Architekten als private Wohnhäuser gebaut. Die eine 1896, die andere 1913. Zwischen diesen beiden Daten liegt die Geburtsstunde der modernen Baukunst, die der Architekt beider Häuser, der Wiener Otto Wagner, noch während der Bauzeit der ersten Villa 1896 ausrief.
Otto Wagner war seit 1864 nach Ausbildung in Berlin und Wien selbstständiger Architekt in Wien. 1841 in eine durchaus vermögende Familie hineingeboren verlor er in seinem sechsten Lebensjahr seinen Vater, den Königlich Ungarischen Hofnotar Rudolf Wagner. Das Haus der Familie in der Göttweihgasse mitten in Wien war von dem damals führenden Wiener Architekten Theophil Hansen gebaut worden. Der frühe Tod des Vaters band Otto eng an seine Mutter, die er nicht nur liebte, sondern abgöttisch verehrte. Sie war vom adligen kaiserlichen Hofnotar Helferstorfer adoptiert worden und auf diese Weise zu dessen beachtlichem Vermögen und Adelstitel gekommen.
Es waren also gesicherte finanzielle und gehobene gesellschaftliche Verhältnisse, in denen Otto Wagner aufwuchs und die ihm auch später zur Verfügung standen. Sie bildeten die Grundlage für eine exzeptionelle baukünstlerische Entwicklung. Er schreibt:
"Die Experimente mit den verschiedenen Stilrichtungen, welche vom größten Theile der architektonischen Welt in den letzten zwanzig Jahren durchgejagt wurden und die Bauweisen von Jahrtausenden mehr oder minder karikiert haben, sind ziemlich spurlos an mir vorübergezogen, und so bin ich schließlich zur Überzeugung gelangt, dass eine gewisse freie Renaissance, welche unseren genius loci in sich aufgenommen hat, mit großmöglichster Berücksichtigung unserer Verhältnisse, sowie der modernen Errungenschaften in Materialverwendung und Konstruktion für die Architektur der Gegenwart und Zukunft das allein richtige sei: ist doch seit dem Anfang aller Kulturentwicklung die Bauweise immer der Ausdruck der Gesinnung und des Könnens der Völker aller Zeiten gewesen."
Er sei ein Vertreter einer "gewissen praktischen Richtung". Der Baustil der Zukunft werde ein Nutzstil sein, der – gepaart mit dem Streben nach innerer Wahrheit – auch in ästhetischer Beziehung seine Berechtigung haben werde. In seiner Antrittsrede an der Akademie der Bildenden Künste, Wien, am 15. Oktober 1894 rief er seinen Kollegen und Studenten zu, dass Kunstwerke immer ein Spiegelbild ihrer Zeit waren, Kunst und Künstler ihre Zeit repräsentieren müssten:
"... der Ausgangspunkt jedes künstlerischen Schaffens müssen aber das Bedürfnis, das Können, die Mittel und die Errungenschaften unserer Zeit sein.
Unsere Lebensverhältnisse, unsere Konstruktionen müssen voll und ganz zum Ausdruck gebracht werden, soll die Architektur nicht zur Karikatur herabsinken. Der Realismus unserer Zeit muss das werdende Kunstwerk durchdringen."
Die Gleichsetzung von moderner Baukunst und modernem Leben, Nutzstil, Architektur als Bedürfnisbefriedigung, all dies will nicht zu den Bauten Otto Wagners passen. Denn die – insbesondere die erste Villa in der Hüttelbergstrasse – verbuchen wir eher unter Stilbegriffen wie Neorenaissance oder Jugendstil. Den von Wagner propagierten nüchternen Realismus finden wir erst bei den Architekten der so genannten Klassischen Moderne eine Generation später.
Auch das Leben Wagners verlief in anderen Gleisen; von Rationalität und Nüchternheit keine Spur, stattdessen schwelgerische Liebe bis zur Verblendung, eine Scheidung, zwei Ehen, zwei uneheliche Söhne vor der ersten Heirat mit Josefine Domhart, die ihm eine Tochter gebar, zwei weitere Kinder mit seiner zweiten Frau Louise Striffel, mit der er ein langes voreheliches Verhältnis hatte, über das seine Mutter, die liebe Mama, stets informiert war.
"Wie oft hat meine Mama gesagt, Otto, Du brauchst eine gescheite Frau, und – an eine dumme Nocken bin ich gebunden."
Die Trennung von seiner ersten Frau erscheint ihm wohlüberlegt und als die Tat eines Gentlemans. Aber erst nach ihrem Tod 1889 konnte er – endlich – seine Louise, die er bereits illegal nach griechisch-unierten Ritus 1884 in Budapest geheiratet hatte, in der Wiener Votiv-Kirche vor den katholischen Traualtar führen und sich einen lang ersehnten Traum erfüllen. Seit 1880 währte das Verhältnis mit Louise:
"An Louise
Kunst und Liebe
Göttlich seid ihr allein
Für des Lebens Triebe
Goldener Sonnenschein
Ohne Euch kein Leben
Ohne Euch kein Sein
Zum Eckel alles Streben
Nur leere Herzenspein
Des Daseins Gunst
Zu Sonnen sich mir bot
Louise und die Kunst
Treu bis zum Tod
Otto"
Louise war Wagners Muse, sie war ihm in jeder Beziehung eine treue, verständnisvolle und umsichtige Gefährtin. Joseph August Lux, der anlässlich des 70. Geburtstages die erste Monografie Wagners schrieb und Louise selbst kennengelernt hatte, resümiert: Bei Otto Wagner könne man sagen, dass die bewundernswerte Organisation seiner Schaffenskräfte, die Harmonie seines inneren und äußeren Lebens in dieser denkbar glücklichen Ehe beruhe, als dem Fundament seines menschlichen Glückes.
Wie kommt dieser andere Otto Wagner mit dem zusammen, der uns in seinen Schriften und Bauten entgegentritt? Ist seine Architektur ein Gegenmodell zu seinem Leben? Ist dieses Leben der Ausgleich für die Härte, für den Kampf, mit dem er sein Ziel einer modernen Baukunst zu erreichen strebte? Oder gehört beides, Idealismus und Realismus, untrennbar zueinander?
An der ersten Villa Wagners gibt es rechts und links des von Säulen gebildeten Eingangs jeweils eine Inschriftentafel, die wie römische Gesetzestafeln das Lebensprogramm des Bauherrn und Architekten verkünden. Auf der rechten findet sich das von Wagner in seinen Schriften oft zitierte Artis Sola / Domina / Necessitas – Die Kunst kennt nur einen Herrn – das Bedürfnis. Auf der linken Seite dann der Kontrapunkt: Sine Arte / Sine Amore / Non est Vita – Kein Leben ohne Kunst und Liebe. Beides gehört zusammen, ergeben erst den ganzen Wagner, die beiden Pole seiner Architektur.
"Schon vor mir hat Einer gesagt, dass der Architekt in seiner glücklichen Vereinigung von Idealismus und Realismus die Krone der modernen Menschheit sei: Ich aber füge hinzu, dass seine schaffende, gebärende Natur ihn weit über das Niveau der Alltäglichkeit erheben muss."
Nichts war Wagner mehr zuwider als Alltäglichkeit, als das bloße Weiterwursteln, als Trägheit in praktischer und künstlerischer Hinsicht. Zeit seines Lebens kämpfte er gegen die Mediokrität, die ihm in Wien des fin de siècle auf Schritt und Tritt entgegenschlug. Sein Biograf Lux meinte zu wissen, woran Wien krankte und schrieb 1914, die Entdeckung des kleinen Mannes sei die heimliche Tragik Wiens. Der kleine Mann sei der große Herr geworden, aber der große Herr sei ein Lebewesen niederer Ordnung, das zwar große Fresswerkzeuge und einen Riesenbau habe, aber keinen Kopf, um die Gedanken der Kunst, der Größe und Schönheit zu fassen.
Wie alle Wiener liebte Otto Wagner Wien über alles und zugleich litt er an der Stadt, die er in wesentlichen Teilen zur modernen Großstadt ausbaute, die ihm jedoch nicht alles erlaubte, was er ihr zuwenden wollte. Viele Projekte blieben auf dem Papier, obwohl Otto Wagner unermüdlich alle seine Kräfte einsetzte und sich immer wieder mit neuen Vorschlägen und Entwürfen einmischte. Das ängstliche Festhalten am Tradierten nur deshalb, weil es schon immer so gewesen war, und das beharrliche Ausweichen vor der längst auch in Wien angekommenen Moderne mit ihren neuen Materialien, Techniken und Aufgaben reizte Wagner zu polemischen Widerspruch wie diesem:
"So kommt es, dass Laien und leider auch viele Architekten der Anschauung sind, dass ein Parlament wohl griechisch, ein Telegraphenamt oder eine Telefonzentrale aber nicht gotisch gebaut werden können, während sie eine Kirche direkt in letzterem Stile verlangen. Sie vergessen Alle hierbei nur Eins, nämlich dass die Menschen, welche diese Gebäude frequentieren, alle gleich modern sind, und es weder Sitte ist, mit nackten Beinen im antiken Triumphwagen am Parlamente vorzufahren, noch mit geschlitztem Wamse sich der Kirche oder einem Rathause zu nähern."
Der Widerspruch zwischen der von Wagner propagierten modernen Großstadt Wien, für die er die bis heute in Betrieb stehende Stadtbahn von 1894 bis 1900 plante und realisierte, und dem, was er für möglich und stadtverträglich hielt, war kaum aufzulösen. Vielleicht waren die Forderungen Wagners zu hoch, wenn er prophezeit:
"So gewaltig aber wird die Umwälzung sein, dass wir kaum von einer Renaissance der Renaissance sprechen werden. Eine völlige Neugeburt, eine Naissance wird aus dieser Bewegung hervorgehen, steht uns doch alles Können, alles Wissen der Menschheit zur freien Verfügung."
Den früheren Erneuerern hätten nur begrenzte Mittel zur Verfügung gestanden, dennoch aber hätten auch diese, wenn sie heute bauen würden, die modernen Mittel genutzt. Wenn die Mehrheit verlange, dass heute so gebaut würde wie früher, dann übersehe sie, …
"... dass es sich für den Künstler nicht darum handeln kann, zu bauen wie Bramante, Michelangelo, Fischer von Erlach etc. gebaut haben, sondern darum, wie diese Künstler bauen würden, wenn sie heute unter uns lebten und Kenntnis hätten von unserem Empfinden, von unserer Lebensweise, von unseren Materialien und Konstruktionen."
Otto Wagner war nicht bescheiden, er stellt sich in eine Reihe mit den großen Meistern der Renaissance und des Barock und natürlich sieht er sich in der Nachfolge des bis dato größten österreichischen Architekten, Johann Bernhard Fischer von Erlach. Dessen Wiener Bauten, neben dem Schloss Schönbrunn vor allem die Karlskirche mit ihrer gewagten Komposition von Kuppelkirche und den zwei, den Eingangsportikus flankierenden Siegessäulen, standen immer im Fokus Wagners. Für den Karlsplatz, dessen städtebauliche Situation bis heute nicht geklärt ist, plante er mehrfach: Zunächst legte er 1892 städtebauliche Vorschläge vor, dann entwarf er ab 1901 das Kaiser-Franz-Joseph-Stadtmuseum, das er trotz immer neuer Vorschläge nicht realisieren konnte. Ebenso blieben viele weitere Projekte in Wien ungebaut.
Dennoch aber ist Otto Wagners Architektur in Wien präsent, sehr präsent sogar. Die Kirche am Steinhof, die jeweils sechsgeschossigen Mietshäuser an der Wienzeile und der Neustiftgasse, die Postsparkasse und – nicht zu übersehen – die Bauten für die Wiener Stadtbahn mit ihren Haltestellen, Bahnhöfen und Brücken. Zusammen mit den Bauten für den Donaukanal tritt uns hier Otto Wagner als der moderne Baumeister entgegen, den wir in seinen Schriften fassen können. Moderne Architektur hieß hier für ihn, Architektur für die modernen Transportmittel, die Stadtbahn, die Kanalschifffahrt. Wagner ist der erste Architekt, der sich der neuen Aufgabe der Großstadtarchitektur stellte und sie rigoros durchsetzte:
"Unser Realismus, unser Verkehr, die moderne Technik, sie begehren heute gebieterisch die gerade Linie, und nur durch deren Anwendung können jene Verkehrszüge entstehen, welche keine Großstadt entbehren kann, und auch nur so werden Häuser, Straßen und Menschen zusammenpassen."
Wieder geht es Otto Wagner um die Stimmigkeit zwischen moderne Zeit und modernen Menschen. Wo dies nicht geleistet sei, sieht er nur "Ausgeburten der Geschmacklosigkeit" und wünscht den Historisten "Untergang und ewige Verdammnis". Die moderne Zeit müsse sich ihren Aufgaben ohne zu große Rücksicht auf die Tradition zuwenden, sie müsse weiterarbeiten und den technischen und ästhetischen Stillstand aufheben. Wagners Generalregulierungsplan der Stadt Wien, den er von 1892 an bearbeitete und ab 1894 bis 1900 um die Stadtbahnplanungen erweiterte, gab ihm Gelegenheit, seine Vorstellung umzusetzen. Tatsächlich wurde Wien auf diese Weise zumindest in der Verkehrsplanung zu der modernsten Stadt Europas. Otto Wagner ging jedoch nie so weit wie die Architekten der so genannten Klassischen Moderne der 1920er Jahre, wo zum Beispiel Le Corbusier plante, große Teile des historischen Paris abzureißen und durch Wohnhochhäuser zu ersetzen.
"Unsere Zeit erfordert gebieterisch große Verkehrszüge; dass durch Eröffnung solcher hin und wieder ein vertrauter Winkel fallen muss, ist wohl selbstverständlich; aber ebenso sicher ist es, dass auch Neues, Schönes geschaffen werden kann."
Die tabula rasa der Moderne des 20. Jahrhunderts jedoch war nicht Wagners Ziel. Ihm ging es durchaus auch um Traditionsbezug. Gerade in Wien war durch den Stadtplaner Camillo Sitte der "Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen" – so der Titel von Sittes 1889 erschienenem Hauptwerk – besonders kontrovers diskutiert worden. Sitte war der Wiederbegründer der Stadtbaukunst und er war überzeugt, dass die Stadtbaukunst ganz in die Hände des Baukünstlers gehöre, also nicht von Technokraten bestimmt werden dürfte. Gegen den Schematismus regelmäßiger, oft langer gerader Straßen setzte er Gefühl, Gemüt und Erhabenheit. Stadtbaukunst müsse mehr sein als bloße Erfüllung funktionaler Gegebenheiten. Insbesondere bei der Platzgestaltung solle man den tradierten Typen aus Mittelalter, Renaissance und Barock und deren Platzmöblierungen mit Brunnen und Statuen folgen.
Wagner konnte den Argumenten Camillo Sittes so weit folgen, dass auch er dafür plädierte, dass der Kunst der ihr gebührende Platz eingeräumt werde; ohnehin dürften nur wahre Baukünstler an öffentlichen Plätzen bauen und die technischen Hochbauten der Ingenieure müssten zwingend den Baukünstlern zur Ausgestaltung überwiesen werden. Wenn nur einige Jahre so verfahren würde, dann würde sich bald der in Lethargie versunkene Geschmack der Bevölkerung von selbst erwecken und sich erfolgreich befruchten. Dennoch aber konnte Wagner Sittes "malerischen" Städtebau nicht unwidersprochen lassen:
"Es muss immer bedacht werden, dass eine moderne Großstadt weder das Aussehen des antiken Rom, noch des alten Nürnberg haben kann und darf."
Zugleich aber plädiert er für "pietätvolle Erhaltung der uns überlieferten Werke der Kunst" in ihrem historischen städtebaulichen Umfeld. So sollten "Sehdistanzen" eingehalten werden und ein historisches Gebäude nicht durch Neubauten erdrückt werden.
"Die Fehler, in welche unsere Vorfahren dadurch verfielen, dass sie pietätlos die Werke ihrer eigenen Vorgänger unbeachtet ließen oder zerstören, wollen wir vermeiden und die uns überlieferten Werke, wie Juwelen in passende Fassung bringen, damit sie uns erhalten bleiben, als plastische Illustration der Geschichte der Kunst."
Insbesondere bei seinen Entwürfen zum Karlsplatz hat sich Otto Wagner diese Maxime immer wieder vergegenwärtigt und auch bei seinen modernen eisernen Brückenbauten war ihm die Gestaltung der baukünstlerisch durchgeformten Brückenköpfe ein Hauptanliegen. Gleichwohl verliert er die moderne Großstadt nicht aus dem Blick:
"So frevelhaft es nun ist, irgendein Kunstwerk ohne zwingenden Grund anzutasten, ebenso lächerlich ist es, wegen jedes fallenden Schmutzwinkels, weil er ‚malerisch’ ist, ein Geschrei zu erheben.
Würden diese Vertreter des Malerischen die Augen öffnen, so wären sie schon lange zur Überzeugung gekommen, dass die gerade, reine, praktische Straße, zeitweilig unterbrochen von Monumentalbauten, mäßig großen Plätzen, schönen bedeutenden Perspektiven, Parks etc., die uns in kürzester Zeit ans Ziel führt, auch weitaus die schönste ist."
Otto Wagner hatte für die sechsjährige Arbeit an den Stadtbahnplanungen 120.000 Gulden erhalten. Eine Summe, die noch sechzig Jahre später seinem Schüler Richard Neutra als eine "unfassbare Lappalie von Vergütung" erschien, denn das Projekt erforderte ungeheure Kräfte. Neutra vermutet, dass die trotz geringer Entlohnung unermüdliche Schaffenskraft Wagners nicht nur mit dessen persönlicher Wohlhabenheit zu erklären sei, sondern vor allem durch seine künstlerisch-schöpferische Besessenheit, die er auch seinen Schülern und Mitarbeitern in außergewöhnlichem Maße mitteilte. Dies hätte Wagner bestätigt:
"Der Architekt hat daher in innerer Befriedigung den größten Teil seines Lohnes zu suchen. Nichtsdestoweniger muss er mit gleicher Liebe und Ausdauer sein Werk stets im Auge behalten und nicht irre oder müde werden, wenn selbst seine pekuniäre Entlohnung, wie es leider die Regel ist, einem Almosen gleich kommt und es der Welt wie bisher auch fernerhin gefallen sollte, beispielsweise einer Sängerin für eine Stunde Singens so viel zu geben, als sich Gottfried Semper sein ganzes Leben lang trotz aller Sparsamkeit verdiente."
Auch wenn Wagner nicht um des Geldverdienens willen arbeiten und bauen musste, so kann es für ihn nicht leicht gewesen sein, immer wieder mit Entwürfen und bei Wettbewerben zu scheitern. Oft wurden seine Entwürfe prämiiert, meist waren sie in der Spitzengruppe vertreten: So beim Wettbewerb für den Berliner Dom 1867, für den Wiener Justizpalast 1874, für das Hamburger Rathaus 1876, für das Reichstagsgebäude in Berlin 1882, für das Parlamentsgebäude in Budapest 1883, für die Börse in Amsterdam 1884, für den Friedenspalast in Den Haag 1905 und für viele andere Wettbewerbe mehr. In Wien selbst wurde er mit Orden reichlich versehen.
Vor allem aber lebte und wirkte er für seine Schüler. Gleich zu Beginn seiner Lehrtätigkeit steht für ihn fest, dass er nur wenige ausbilden werde, um den "traurigen Typus verfehlter Existenzen wenigstens etwas zu verringern." Überzeugt von der hohen Bedeutung seines Berufs, könne eben nicht jeder teilhaben:
"Unter den bildenden Künsten ist die Baukunst allein wirklich schaffend und gebärend, das heißt, sie allein ist im Stande, Formen zu bilden, welche der Menschheit schön erscheinen, ohne das Vorbild in der Natur zu finden. Haben diese Formen zwar im Natürlich-Struktiven ihren Keim, im Material ihren Ursprung, so liegt doch das Gewordene so weit vom Ausgangspunkte, dass es als volle Neubildung gelten muss."
Es kann daher nicht befremden zu hören, dass in der Baukunst der höchste Ausdruck menschlichen, an das Göttliche streifenden Könnens erblickt wird."
Kein Wunder, dass nur wenige in den Genuss kamen, der Wagner-Schule anzugehören. Er zog die kreativsten Köpfe aus Wien und den Kronländern der Donaumonarchie an und band sie an sich. Schnell wurde die "Wagner-Schule" zu einem Mythos, jedoch nicht ohne Grund, denn viele Schüler wurden zu führenden Architekten des 20. Jahrhunderts: Richard Neutra wurde schon gehört, Jan Kotera, Josef Plecnik, Max Fabiani und Josef Hoffmann müssen neben anderen vor allem in Wien tätigen Architekten genannt werden. Diesen rief er 1905 zum zehnten Jahrestag der Wagner-Schule euphorisch zu:
"Meine lieben Schüler! Es war und ist meine Aufgabe, aus totem Gestein feurige Kristalle herauszubrechen und zuzuschleifen und ihnen Leuchtkraft zu verleihen.
Diese zutage geförderten Kristalle, meine Herren, sind Sie und viele dieser Kristalle verbreiten heute schon ein glänzendes, blendendes Licht.
Diese leuchtenden Kristalle umgeben mich und es erhöht diese glänzende Fassung meinen Wert um Bedeutendes. Schüler und Lehrer sind dadurch ein untrennbares Ganzes geworden; das wollte ich feststellen."
Wagners vielleicht begabtester Schüler war Josef Maria Olbrich, der 1897 zusammen mit Gustav Klimt und anderen bildenden Künstlern die Wiener Sezession als Gegenbewegung zum herrschenden Historismus gegründet und das Sezessionsgebäude gebaut hatte. Als Wagner sich bald der Sezession anschloss, ging, wie Lux sich erinnerte, ein Aufruhr durch Wien:
"Alle bösen Instinkte waren mit einem Male entfesselt. Neid, Eifersucht, Parteihass, Konkurrenzangst und schließlich der bloße Pöbelinstinkt, der die Freude am Skandal hat, mobilisierte gegen ihn. Dass sich ein so Mächtiger, wie Otto Wagner, zu den jungen Modernen gesellte, deren Erscheinen mit Hohnlachen begrüßt wurde, gab vielen ernstlich zu denken."
Es ging um nicht weniger als die Moderne Baukunst, wie der Titel seines wichtigsten, in vier Auflagen zwischen 1896 und 1914 erschienenen Buches lautet: "Hier kämpft er seinen Kampf und hier auch feiert er seine langsamen doch stetigen Erfolge." In der zweiten Auflage von 1898 beklagt er die zahlreichen Angriffe gegen seine Lehre, aber er muss zugeben, dass sich seine Worte schneller als er dachte, bewahrheitet hätten:
"… fast überall ist die ‚Moderne’ als Siegerin eingezogen. Scharenweise kamen die Gegner als Überläufer ins Lager, ihre besten Kämpfer wurden wankend, als sie erkannten, dass der Schild der Tradition und Intimität, welchen sie dem Ansturm der ‚Modernen’ entgegenhielten, doch nur aus Glas bestand."
Worin lag nun das Neue dieser Architektur, die wir heute eigentlich nicht der Moderne zuordnen, sondern unter Jugendstil subsumieren? Es ging Otto Wagner nicht um den revolutionären Bruch mit der Tradition; sein Weg zu einer neuen Baukunst ist evolutionär.
"Ein striktes ‚Wie sollen wir bauen?’ kann wohl nicht beantwortet werden; unser Gefühl muss uns aber heute schon sagen, dass die antikisierende Horizontallinie, die tafelförmige Durchbildung, die größte Einfachheit und ein energisches Vortreten von Konstruktion und Material bei der künftigen fortgebildeten und neuerstehenden Kunstform stark dominieren werden; es ist dies durch die moderne Technik und durch die uns zu Gebote stehenden Mittel bedingt."
Das war geradezu prophetisch, vergegenwärtigt man sich die Geschichte der Architektur des frühen 20. Jahrhunderts. Wagner setzt die modernsten Materialien und Konstruktionen ein; er ist Funktionalist, wenn er die Fassade eines der Mietshäuser in der Wienzeile mit Majolikafliesen belegt, weil diese abwaschbar sind; zugleich aber ist er auch "Jugenstilist", wenn diese Majolikafliesen ein großes, die ganze Fassade überspinnendes Blumenmotiv bilden. Es sei die Doppelstellung als Künstler und Bautechniker, die den Architekten ausmache. Eine Art Realismus, wie in der Schwesterkunst der Malerei, müsse Platz greifen. Dieser Realismus in der Architektur würde zwar unarchitektonische Blüten treiben wie beim Eiffelturm, für die bessere Hälfte des Architekten, für den Künstler in ihm blieben noch genügend Aufgaben übrig.
So ist die Postsparkasse in Wien mit ihrer geschuppten Außenhaut und ihrer gläsernen Schalterhalle gewiss das modernste Gebäude Wagners; Materialien wie Beton, Eisen, Glasbausteine, das hochmoderne Aluminium kommen zum Einsatz; für Lüftung, Heizung und Fahrstühle werden aktuelle high-tech-Anlagen eingesetzt; Funktionalität bestimmt die innere Organisation bis in die Details der Toiletten:
"Die erforderlichen Waschtische mit Kipplavoirs, Imperial-Closets und Pissoirs sind desgleichen in die Toilettenräume verlegt. Ihre Anzahl ist wieder der Anzahl der Beamten der anliegenden Bureaux und dem Geschlechte angepasst.
Das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Beamten wurde nach dem gegenwärtigen Personalstande festgesetzt und da vorauszusehen ist, dass der weibliche Teil sich in Zunahme befindet, wurde in der Studie darauf Rücksicht genommen."
Zugleich aber ist das Haus keine Maschine, sondern eine ebenso künstlerische wie funktionale Komposition. Die Betondecken mit Eichenparkett, sind nicht nur sehr dauerhaft, leicht zu reinigen und sehr schalldämpfend, sondern auch angemessen schön. Es geht Otto Wagner nicht um Äußerlichkeiten, sondern um das innere Wesen – in der Architektur, wie in der Liebe. So schreibt er an Louise:
"Jetzt, jetzt will ich das Glück haben, jetzt will ich Dich besitzen! Nicht die berückenden Eigenschaften Deines Körpers, nicht diese, so stark sie sind, nicht nach ihnen lechze ich, nein die Früchte Deines Herzens will ich kosten und mich laben, Deine Hand will ich drücken, Dein Auge, Deine Seele schauen, wann und wo ich will."
Hier finden wir nochmals die zwei Welten Otto Wagners, die doch eine Einheit bilden: Auf der einen Seite, der moderne Realist, auf der anderen Seite der schwärmerische Idealist in emphatischer Liebe. Beide Seiten gehören genauso zusammen wie Wagners Versuch, das Alte mit dem Neuen zu versöhnen, ohne mit der Vergangenheit schockartig zu brechen. Die radikalen Modernen der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, Le Corbusier, Mies van der Rohe, Gropius haben Wagners versöhnende Argumentation nicht mehr nachvollziehen wollen. Nun stand die Revolution, der völlige Bruch mit der Tradition an. Die Wechselbedingtheit von Formalentwicklung und geistigem Geschehen, die Wagner auf seinem evolutionären Weg zur Moderne verinnerlicht und an seine Schüler weitergegeben hatte, wurde als veraltet verworfen.