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Der Stolz der Familie Pythre

Ich habe mich gefragt, wie es möglich war, dass in Frankreich - und wahrscheinlich auch im übrigen Europa - die mehr als tausend Jahre alte bäurische Kultur auf einen Schlag verschwinden konnte, um der heutigen technisierten Landwirtschaft Platz zu machen; wie es möglich war, dass in Dörfern wie Siom, das zur Zeit meiner Geburt ungefähr 300 Einwohner zählte, heute nur noch 15 Leute leben, die in ein paar Jahren sterben werden, ohne einen Nachfolger gefunden zu haben. Es war also das Schicksal, oder besser gesagt: der Tod dieser Dorfgemeinschaft, der mich erschreckt hat - denn als Kind war es für mich undenkbar, dass diese Leute dort einmal verschwinden könnten.

Christoph Vormweg |
    "Bäurische Kultur" - schon bei diesem Begriff sträubt sich manchem Pariser Rezensenten das Nackenhaar. Warum, so wurde bei Erscheinen des Romans "Der Stolz der Familie Pythre" gefragt, warum walzt Richard Millet das tumbe Dasein dieser in der Hauptstadt so genannten "péquenauds", dieser Bauerntölpel auf fast vierhun-dert Seiten aus? Und prompt machte das böse Wort vom Hei-matroman die Runde. Mittlerweile jedoch schauen auch besagte pariser Rezensenten genauer hin. Denn einige der 23 Bücher des 1953 in der Corrèze, also im tiefsten Zentralfrankreich geborenen Romanciers und Essayisten werden mittlerweile auch jenseits der Grenzen wohlwollend, wenn nicht begeistert besprochen. Mindestens drei Stunden schreibt Richard Millet pro Tag - und das trotz seines Brotberufs, früher als Lehrer, heute als Lektor. Erleichert wird ihm der Frondienst an der Literatur nicht nur durch seine - wie er schmunzelnd sagt - "bäurische Geduld", sondern auch durch seine beiden kleinen Töchter. Für sie will er die Erinnerung an seine Herkunft wachhalten. Und das Faszinierende ist: Richard Millet schert sich kein bißchen um den Zeitgeist, blendet nicht mit modisch eingängiger Erzähldramaturgie. Die von ihm beschriebenen Zumutungen sind immer nur die Zumutungen des bäurischen Lebens in der Corrèze:

    Siom, das Dorf, aus dem ich stamme, liegt ganz oben in den Bergen des Limousin, auf einer Hochebene aus Granit, dem "Plateau des Millevaches" - ein Name, der nicht, wie viele glauben, 1000 Kühe meint, sondern 1000 Quellen. Dort oben herrscht ein extrem kaltes Klima, schon wegen des Granits, und im 19., vielleicht noch Anfang des 20. Jahrhunderts kam es im Winter vor, dass man die Toten nicht beerdigen konnte, weil der Boden gefroren war. Also hat man sie in ihren Särgen auf den Speicher oder in die Scheune gestellt, und das war, wie ich aus Briefen meiner Leser entnehmen konnte, auch in den Alpen und anderen Regionen Frankreichs so üblich, wenn man sich kein Dynamid leisten konnte, um den Boden aufzusprengen. Ich habe mich gefragt, wie man in Gegenwart der Leichen leben konnte, etwa beim Essen mit dem Gedanken im Kopf, dass der Großvater da oben tot auf dem Speicher liegt, und ich habe mir vorgestellt, wie das wohl gewesen ist, wenn im Frühling auf einmal das Tauwetter einsetzte.

    Mit einem Wort: Richard Millet empfängt die Leser seines Romans "Der Stolz der Familie Pythre" mit Leichengestank. Seitenlang beschreibt er den "Pesthauch", der das enge Tal gefangenhält, in allen denkbaren Details. Denn die Bewohner des winzigen Heimatdorfes von André Pythre sind, da es keinen Friedhof gibt, doppelt gestraft: Sie müssen nicht nur warten, bis sich wieder ein Grab ausheben lässt, nein, sie müssen den süßlichen Ver-wesungsgeruch so lange ertragen, bis auch die steil abfallenden Wege ins nächstgrößere Dorf wieder begehbar sind. Kein Wunder also, dass André Pythre froh ist, als er einen - geruchstechnisch - ungleich besser gelegenen Hof in der Nähe von Siom erbt. Der Preis allerdings ist hoch: zum einen wird er für die dortigen Bewohner - schon wegen seines Familiennamens, der so viel wie "Hanswurst" bedeutet - zeitlebens ein Fremder blei-ben; zum anderen muß er sich - so die Bedingung der Erbgeberin - um die unehelich geborene schwachsinnige Aimée kümmern:

    In meiner Kindheit - ich weiß nicht, ob das auch in Deutschland so war - gab es in den Dörfern immer die sogenannten Dorftrottel. Mit Trottel war nicht gemeint, dass sie dumm waren. Vielmehr wa-ren sie unschuldig, von einfachem Gemüt. Sie standen zwi-schen der Welt der Kinder und der Welt der Erwachsenen, sie waren so etwas wie Zwischenglieder - das hatte fast etwas Magisches. Und so, wie man André Pythre heute wegen seiner Gewalttätigkeit ins Gefängnis sperren würde, kämen diese Dorftrottel heute in eine psychiatrische Anstalt. Damals aber gehörten sie einfach dazu. Sie waren Mitglieder der Dorfgemeinschaft, sie wurden nicht verachtet, nicht ausgeschlossen.

    Und Richard Millet macht in seinem Roman "Der Stolz der Familie Pythre" aus seiner Faszination für die vermeintlichen Dorftrottel keinen Hehl. Anders als die sturen Bauern und ihre gegängelten Frauen haben sie nämlich etwas Geheimnisvolles an sich, etwas Unergründliches, Individuelles. In der Abgeschiedenheit der Hochebene sind sie für die Nachwachsenden eine Art Roman- oder Kino-Ersatz. Das trifft gerade auf Jean zu, den unehelichen Sohn von André Pythre und einer von ihm vergewaltigten Dienstmagd. Jean, heißt es an einer Stelle, "nahm uns mit hinab in seine Träume". Und Träume sind ein seltener Trost in diesem immergleichen, so entbehrungsreichen wie erniedrigenden Alltag.

    Erniedrigt werden die Bauern des Hinterlandes allem voran von der hauptstädtischen Obrigkeit in Paris: so wird die Jugend der Dörfer im Ersten Weltkrieg verheizt, so werden Häuser und Anbauflächen durch den Bau eines Staudamms vernichtet. Die Entscheidungen der pariser Zentrale erreichen die Corrèze wie Naturkatastrophen - bis hin zur systematischen Austreibung ihres Dialekts. Die Bauern jedoch haben gelernt, ihr Schicksal widerstandslos zu tragen. Für sie ist das Dasein - wie es heißt - "nur ein langsames Sichabfinden". Wut und Verzweiflung leben sie unter sich aus. Das macht die Sexualität zum Schlachtfeld:

    Die Sexualität, das ist eine Sache, über die bei den Bauern nicht gesprochen wurde - es sei denn, wenn man genug Alkohol intus hatte, in Form schmutziger Scherze. Das hat mich immer fasziniert, schon als Kind, als ich mich fragte, wie meine früh verwitwete Großmutter mit der Abwesenheit von Sexualität umging, oder jene Großtante, deren Mann 1915 bei Verdun gefallen war und die bis zu ihrem Tod im Jahre 1960 allein blieb. Da offenbart die Sexualität, glaube ich, die schwärzeste Seite einer Gemein-schaft, aber nicht nur in der Corrèze.

    Viele der Witwen von Siom scheuen eine erneute Heirat. Sie ziehen die Einsamkeit dem Ehe-Joch vor, das oft genug in Vergewaltigungen gipfelt. André Pythres schöne Tochter Suzon begreift das schon früh, als sie von den Brüdern Lontardes nackt an eine Birke gehängt und mißhandelt wird. Fortan begräbt sie sich hinter ihrer - wie es heißt - "nutzlosen Schönheit" und lässt sich nur bei Ge-legenheit von einem Handelsreisenden "pflügen".

    Beim Blick hinter die Fassaden des bäurischen Scheins kennt Richard Millet also keine Tabus. Doch lässt er das voyeuristische Interesse im Leser nicht etwa von einem allwissenden Erzähler schüren. Erzählt wird der Roman "Der Stolz der Familie Pythre" vielmehr von einem changierenden "kollektiven Wir". Mal dominiert dabei die Perspektive der Frauen, mal die des mo-ralisierenden Dorfkonsenses, mal die der Hasser des "großen Pythre". Und in eben diesem Gemisch aus Tatsachen und Mutmaßungen über das Geheime im Leben der anderen liegt die Sprengkraft dieses Romans. Denn der dunkle Monolog aus Gerüchten und Ahnungen, aus Behauptungen und Unterstellungen wirft ein düster-diffuses Licht auf die Mutmaßenden. Man könnte auch sagen: Richard Millet entblößt und verdeckt zugleich, er reißt den vermeintlichen Bauerntölpeln ihr Schutzschild herunter und belässt ihnen doch ihr Geheimnis.

    "Der Stolz der Familie Pythre - die stilistische Meis-terschaft dieses dunkel schillernden Jahrhundertporträts einer aussterbenden Region liegt nicht nur in den weitverzweigten, genau austarierten Schachtelsätzen, nicht nur in der Musikalität der Prosa. Richard Millet beherrscht gerade auch das Spiel der wiederkehrenden Motive: so das Motiv des sich verweigernden Frauenmundes beim Sex oder das der Fäkalfixierung des Dorftrottels Jean, das die Geschichte der Modernisierung im 20. Jahrhundert auf eine wunderbar groteske Weise nachzeichnet. So ungehobelt, so archaisch das dargestellte Bauerndasein auch anmuten mag - komprimiert von Richard Millet entwickelt es eine eigene Exotik.