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Der Strafverfolger aus Brüssel

Die Institutionen der EU verteilen Fördermittel und Finanzhilfen in Milliardenhöhe. Damit die Gelder nicht in dunklen Kanälen versickern, soll künftig eine Europäische Staatsanwaltschaft mit der grenzüberschreitenden Strafverfolgung von Betrug und Korruption betreut werden.

Von Gudula Geuther, Hauptstadtstudio | 05.06.2013
    Es sind Zeitungsmeldungen wie diese, die EU-Anti-Betrugsjägern graue Haare wachsen lassen.

    "Brüssel. Mehr als ein Fünftel der EU-Beihilfen für die Vorbereitung des Beitritts von Bulgarien zur Union steht unter Verdacht, betrügerisch verwendet worden zu sein. Das geht aus einem Bericht der Kommission hervor. Konkret geht es um einen Fonds namens Sapard. Dieser Geldtopf war in den Jahren 2000 bis 2006 mit jährlich 520 Millionen Euro gefüllt und sollte den Beitrittskandidaten dabei helfen, ihre Landwirtschaft und ländliche Regionen zu modernisieren."

    "Es geht um Betrug, einen riesigen Betrug","

    sagt Giovanni Kessler, der Leiter von OLAF, des Office Européen de Lutte Anti-Fraude, des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung.

    ""EU-Mittel flossen fälschlich nach Bulgarien, weil falsche, überhöhte Rechnungen präsentiert wurden, von einem bulgarischen Unternehmer. Aber es ging nicht einfach um bulgarischen Betrug. Denn die Firma, die die falschen Rechnungen ausgestellt hat, ist eine deutsche. Wir haben hier also einen deutsch-bulgarischen Betrug."

    Zulasten der Europäischen Union. Die hatte die Modernisierung der Landwirtschaft in den Beitrittsstaaten unterstützen wollen, auch die Anschaffung neuer Maschinen, zum Beispiel für die Fleischverarbeitung. Die Ermittler von OLAF deckten den grenzüberschreitenden Deal mit falschen Rechnungen auf.

    "Aber OLAF kann nicht die Strafverfolgung betreiben. Was wir also in solchen Fällen immer tun, ist, dass wir unseren Abschlussbericht weitergeben - in diesem Fall an die deutschen und die bulgarischen Behörden, sodass die entscheiden, ob sie anklagen oder nicht."

    In Deutschland klagten sie an. Das Augsburger Landgericht verurteilte einen Verantwortlichen zu einer Gefängnis-, einen anderen zu einer Bewährungsstrafe. In Bulgarien, beklagt OLAF-Chef Giovanni Kessler, wurde das Verfahren dagegen eingestellt. Ein Fall, zwei Verfahren, zwei Ergebnisse. Unfair nennt Kessler das.

    Sollten schärfere Anti-Korruptionsregeln für Parlamentarier gelten?
    Ein Fünftel der EU-Beihilfen für Bulgarien verschwanden im Nirgendwo - ein Fall von Korruption. In Bulgarien wurde das Verfahren eingestellt. (picture alliance / dpa / Josef Horazny)
    Strafverfolgung aus einer Hand
    Er wünscht sich eine Lösung für solche und andere Fälle: den Europäischen Staatsanwalt. Im Idealfall sogar nur einen Prozess in einem Land, in jedem Fall aber Strafverfolgung aus einer Hand. Das wollen auch andere - im seit 2009 geltenden Vertrag von Lissabon ist die Möglichkeit für eine solche Behörde angelegt. Möglicherweise noch in diesem Monat will die Europäische Kommission ihren Vorschlag für die Europäische Staatsanwaltschaft vorlegen. Genauer: Algirdas Semeta, Kommissar für Steuern, Zölle und Betrugsbekämpfung und Justizkommissarin Juliane Reding. Die neue Einheit soll zuständig für den Schutz der finanziellen Interessen der Union sein. Grundsätzlich sei das Projekt gut, findet Jan Phillipp Albrecht:

    "Denn die grenzübergreifende Ermittlung bei Straftaten gegen die finanziellen Interessen der Union, die funktionieren heute noch nicht richtig."

    Der grüne Rechts- und Innenpolitiker im Europäischen Parlament, Albrecht, nennt als Grund für die Defizite ein Problem, das viele sehen: mangelnden Willen der nationalen Behörden.

    "Es gibt eigentlich in allen Mitgliedstaaten das Problem, dass man sich um die finanziellen Interessen der EU nicht wirklich kümmert, dass man sich nicht die Mühe machen will, für alle anderen zusammen quasi die Strafverfolgung zu bezahlen oder zu machen. Und das führt dazu, dass gerade der Betrug mit EU-Mitteln - dass die Staatsanwaltschaften sich da erst mal rausnehmen und nicht die Verantwortung bei sich sehen, sondern bei jemand anders. Und leider gibt es diesen 'jemand anders' gerade noch nicht."

    Solche Vorwürfe sind erst einmal nicht viel mehr als eine Behauptung. Kein Wunder, lässt sich doch schwer belegen, was gerade nicht verfolgt wird. Auch ein Fall wie der deutsch-bulgarische allein genügt manchen nicht als Rechtfertigung für eine europäische Strafverfolgungsinstanz. Die Strafverteidigerin Margarete von Galen etwa weist darauf hin, dass es durchaus Gründe für unterschiedliche Urteile geben könne. Sie vertritt in der Frage der Europäischen Staatsanwaltschaft in Brüssel die deutschen Anwaltsorganisationen. Gerade ein solcher Extremfall ist für sie ohnehin kein gutes Beispiel:

    "Soweit es jetzt Fälle aus der Vergangenheit betrifft, würde ich eher darauf setzen, dass da dazugelernt wird und dass da auch ein Zusammenwachsen stattfindet, was aber eben seine Zeit braucht."

    Es gehe um den täglichen Umgang mit Betrug und Korruption
    Es gehe nicht nur um Fälle in Zusammenhang mit Staaten-Beitritten, widerspricht OLAF-Chef Giovanni Kessler. Es gehe in allen Staaten um eine Haltung, den ständigen, täglichen Umgang mit den Problemen Betrug und Korruption. Mindestens ein Indiz für ein Ungleichgewicht zwischen den Mitgliedsländern ist für ihn die Zahl der Hinweise auf mögliche Betrugsfälle.

    "Die beiden Mitgliedstaaten, von denen wir die meisten Hinweise auf möglichen Betrug bekommen, die meisten Bitten, dass OLAF tätig werden möge, sind Deutschland und Italien. Und zwar von Privatleuten und von öffentlichen Stellen, was das Interesse der Behörden zeigt, sich dieses Problems anzunehmen. Deutschland steht an erster Stelle. Aus beiden Ländern zusammen kommt fast die Hälfte der Informationen, die wir aus allen Mitgliedstaaten bekommen. Nun muss man sicher auch die Größe dieser Staaten bedenken - aber ein Indikator ist es doch."

    Ganz abgesehen davon spreche für einen europäischen Ansatz die Spezialisierung einer solchen Behörde, die zudem in besserem Kontakt mit den Geldgebern in Brüssel stehen könne. In einer Studie der Universität Birmingham sagten selbst für grenzüberschreitenden Betrug zuständige Staatsanwälte, dass sie die europäische Dimension von Fällen auch dann manchmal ausblenden, wenn sie sie erkennen. Weil das europäische System der gegenseitigen Rechtshilfe oft zu schwerfällig sei. Das hat seine Gründe, sagt die Strafverteidigerin Margarete von Galen. Europa ist in der rechtlichen Zusammenarbeit viel weniger zusammengewachsen als in vielen anderen Fragen.

    "Das liegt daran, dass Strafrecht und Strafverfahrensrecht eine sehr von der regionalen Kultur bestimmte Angelegenheit ist. Auch innerhalb Europas herrschen sehr unterschiedliche Kulturen in der Frage, was wird als schwerwiegender Eingriff angesehen, was wird als harmloser Eingriff angesehen, was ist besonders strafwürdig, was ist nicht so sehr strafwürdig. Da gibt es einfach riesige Unterschiede, die ich mir so auch nicht vorgestellt hätte."

    Das ist der Hintergrund für die Versuche, Recht in Europa näher zusammenzuführen. Eine Entwicklung, die auch bei der Diskussion um den Europäischen Staatsanwalt fortwirkt, sagt der EU-Parlamentarier Albrecht.

    "Als 1999 der Vorstoß gemacht wurde, mehr strafrechtliche Zusammenarbeit in Europa zu machen, mit einem einheitlichen Strafrecht, da wurde das zurückgewiesen mit dem Verweis auf die Souveränität der Staaten, und insbesondere die Briten haben das abgelehnt und haben dafür auf die gegenseitige Anerkennung gesetzt - also sozusagen das Vertrauen in die anderen Länder, einen ähnlichen Standard zu haben oder gleichen Standard wie das eigene Land."

    Licht leuchtet in einer Zelle der Justizvollzugsanstalt Moabit in Berlin
    Die Justizvollzugsanstalt Moabit in Berlin: Umgesetzt wurde die Idee des gemeinsamen Vorgehens von Staaten vor allem beim europäischen Haftbefehl. (picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt)
    Nicht gegenseitige Anerkennung, sondern gemeinsames Vorgehen
    Anders als im Kontakt mit anderen Staaten sollten in Europa die Staaten mehr unbesehen voneinander übernehmen. Umgesetzt wurde diese Idee vor allem im Europäischen Haftbefehl. Erlässt den ein Land, führt ihn das andere aus - grundsätzlich zumindest. Und zwar ohne zu prüfen, ob ein Haftbefehl den eigenen Vorstellungen nach gerechtfertigt ist. Derzeit liegt im Europäischen Parlament die Fortführung dieser Idee, diesmal für Beweisanordnungen, von der Durchsuchung und Beschlagnahme bis zum Abhören von Telefonen. Margarete von Galen sieht diese Entwicklung der gegenseitigen Anerkennung skeptisch:

    "Das Ausmaß an Vertrauen, das man zum Beispiel beim Erlass des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl angenommen hat, besteht nach weiteren zehn Jahren so bis heute eigentlich nicht."

    Mit der Europäischen Staatsanwaltschaft will Europa denn auch den anderen Weg beschreiten: nicht gegenseitige Anerkennung nationaler Entscheidungen, sondern ein gemeinsames europäisches Vorgehen.

    Das kann sich auch Margarete von Galen vorstellen. Seit 2009 gibt es den gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, so nennt der Vertrag von Lissabon die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit. Seitdem hat die EU dort sehr viel mehr Kompetenzen. Allerdings beklagt die Verteidigerin, diese justizielle und polizeiliche Zusammenarbeit entwickle sich nicht in ausgewogener Weise:

    "Was die Ermittlungsinstrumente angeht, hat die Union frühzeitig versucht, da zusammenzurücken."

    Die Anwältin verweist auf Eurojust, eine Plattform für die Zusammenarbeit auf staatsanwaltschaftlicher und richterlicher Ebene. Es gibt den Versuch, den Transfer von Beweisen zu erleichtern, und es gibt den Haftbefehl. Die andere Seite der Medaille aber kam bisher zu kurz, beklagt Margarete von Galen. Ihrer Ansicht nach geht die Entwicklung bei den Rechten der Beschuldigten eher schleppend voran. Tatsächlich gibt es erste Schritte. Justizkommissarin Juliane Reding hat einen Fahrplan für Mindeststandards erstellt. Was da allerdings zu regeln ist, zeigt, wie weit die Rechtssysteme zum Teil in Europa noch auseinanderliegen. Denn die bisher erlassenen Richtlinien, die die Staaten noch in Gesetze gießen müssen, sehen Fundamentales vor: dass dem Beschuldigten mitgeteilt wird, wessen er bezichtigt wird. Dass er frühzeitig über seine Rechte belehrt wird. Dass es grundsätzlich ein Akteneinsichtsrecht geben muss - keine Selbstverständlichkeiten. Oder dass Unterlagen für ausländische Beschuldigte übersetzt werden müssen, die Anklage etwa. Die Verhandlungen über solche Mindeststandards laufen zäh. Derzeit wird über das Recht auf anwaltlichen Beistand diskutiert. Auch da sind die historisch gewachsenen Unterschiede groß. In Frankreich etwa kann man sich kaum vorstellen, dass schon bei der polizeilichen Vernehmung ein Anwalt dabei sein soll, in anderen Ländern darf er im Raum sein, sagen darf er nichts. Lange diskutierten vor allem Parlament und einige der im Rat vertretenen Mitgliedstaaten über Einschränkungen der Vertraulichkeit des Anwalt-Mandanten-Gesprächs. Mit dem Ergebnis sind aber nun auch Anwälte halbwegs zufrieden. Morgen wird sich der Rat der Innen- und Justizminister der 27 Mitgliedsländer damit beschäftigen.

    "Ich denke schon, dass die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft bedingt ist, durch die Schaffung auch gemeinsamer Mindeststandards im Strafverfahren und für die Betroffenen","

    sagt Jan-Philipp Albrecht. Das Problem ist real. Die gleiche Studie der Universität Birmingham, die die Schwierigkeiten von Staatsanwälten mit europaweiten Fällen belegt, kommt zu dem Ergebnis: Noch unsicherer fühlen sich bei grenzüberschreitenden Fällen Verteidiger, sie fühlen sich den Staatsanwälten stärker unterlegen als in nationalen Fällen - darüber klagen vor allem Anwälte, die nicht in gut vernetzten Großkanzleien arbeiten. Mehr noch, berichtete vor einigen Monaten die Leiterin der Studie Marianne Wade in Brüssel: Sogar manche Staatsanwälte sehen es so.

    ""Ich habe Staatsanwälte danach gefragt, wie sie in solchen europäischen Fällen die Verteidigung sehen. Und fast zehn Prozent der Staatsanwälte sagte, dass sie europäische Kriminalfälle leichter bewältigen können als nationale, weil die Verteidigung im Nachteil ist. Man erwartet an sich nicht gerade, dass ein Staatsanwalt das offen sagt."

    Ein hölzerner Hammer liegt auf dem Platz des Vorsitzenden Richters im Landgericht in Karlsruhe.
    Es darf kein reines Nebeneinander unterschiedlicher Rechtsordnungen geben. (AP)
    Ein deutscher Richter befürwortet die Schaffung der Stelle
    So offen sagt es auch Peter Schneiderhan. Der Oberstaatsanwalt warb als Vertreter des Deutschen Richterbundes auf einer Diskussionsveranstaltung im Europäischen Parlament sogar gerade mit diesem Argument für die europäische Behörde.

    "Ich habe selbst das Gefühl, dass bei internationalen Ermittlungen in cross-border-cases oft genauso wie die Zielstrebigkeit der Ermittlungen auch die Rechte der Beschuldigten verschwinden. Und eine klare Struktur, eine klare Verantwortung einer Behörde für diese Ermittlungen könnte aus unserer Sicht sicherstellen, dass die Rechte des Beschuldigten auch irgendwo örtlich an dieser Behörde verortet werden können."

    Aber mit Regeln, fordert der grüne Europaabgeordnete Albrecht. Zumindest dürfe es ein reines Nebeneinander unterschiedlicher Rechtsordnungen dann nicht geben,

    "wenn eine europäische Behörde ermittelt, oder wenn Staatsanwaltschaften im Zuge europäischer Ermittlungen handeln, für die Verteidigung muss es dann die Möglichkeit geben, ähnliche Rechte zur Verfügung zu haben auf europäischer Ebene und nicht einfach nur verwiesen zu werden auf nationales Recht, das im Einzelfall dann vielleicht ganz anders sein kann, als sie das gewohnt sind."

    Die Verteidigerin von Galen, die auch in Sachen Beschuldigtenrechte für die Bundesrechtsanwaltskammer und den Deutschen Anwaltverein in Brüssel spricht, hat wenig Hoffnung, so wie sich die Diskussionen bisher anließen. Sie fürchtet, mit dem Europäischen Staatsanwalt werde der zweite Schritt vor dem Ersten gemacht. Wieder einmal.

    "Da muss man in der Tat den Eindruck haben, dass hier mal wieder in Richtung Repression fortgeschritten wird, während man die Rechtssituation der Beschuldigten sehr zäh in den Griff kriegt."

    So negativ muss man es freilich nicht sehen. Immerhin wird auch der in dieser Woche tagende Justiz- und Innen-Rat mit dem Recht auf Rechtsbeistand wieder Beschuldigtenrechte stärken. Und: mit wie weiterreichenden besonderen Rechten der Europäische Staatsanwalt ausgestattet werden soll, ist noch nicht heraus. So wie ganz allgemein noch offen ist, wie die Stelle aussehen soll. Möglich ist ein Gremium gleichberechtigter Staatsanwälte aus allen 27 europäischen Mitgliedstaaten. Dafür könnte man die existierende Plattform von Eurojust nutzen, über die die Zusammenarbeit schon jetzt funktioniert. Ohnehin soll die Staatsanwaltschaft an Eurojust angebunden sein, das sieht schon der Vertrag von Lissabon vor. Ein solches Kollegialorgan hieße dann: Die Verbindungs-Staatsanwälte aus den Mitgliedstaaten tauschen sich über das aus, was ihnen auffällt, vereinbaren, wer welchen Unregelmäßigkeiten nachgeht, jeder tut das in seinem Herkunftsland nach dem dort geltenden Recht. Das geht gar nicht, schimpft OLAF-Chef Giovanni Kessler. Und sein Kollege Lothar Kuhl ergänzt:

    "Eine Europäische Staatsanwaltschaft muss in der Lage sein selbst zu entscheiden, ohne zuvor ein Kollegium anzurufen, das zuvor in einem komplizierten Entscheidungsverfahren und nach längerer Debatte darüber befindet. Und dazu kommen natürlich auch die Entscheidungen während des Ermittlungsverfahrens."

    Hier landen die finanziellen Notfälle der Eurozone, in der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main
    Die Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main: "Es muss möglich sein, auch in die Geldvergabe des ESM, in die Tätigkeit der EZB strafrechtliche Ermittlungen durchzuführen." (dpa / Nicolas Armer)
    Nur die Länder, die wollen, müssen mitmachen
    Bei OLAF, dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung, stellt man sich eine hierarchische Behörde vor, mit internen Rechenschaftspflichten und mit Anordnungsmöglichkeiten des Behördenleiters. Möglich ist, dass auch die Kommission das so sieht. Was noch lange nicht heißen muss, dass es letztlich auch so kommt. Denn nur die Länder, die wollen, müssen mitmachen. Und die deutsche Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, klingt wenig erbaut von der hierarchischen Struktur.

    "Wir wollen aus deutscher Sicht keine neue europäische Superbehörde, sondern wir wollen eine möglichst dezentrale Struktur, dass eben gerade auch die Staatsanwaltschaften in den einzelnen Mitgliedstaaten, möglichst auch mit Verwendung ihrer Verfahrensordnungen, agieren."

    Nur wo es um europäische Interessen gehe, müsse eben gebündelt werden. In Frankreich sieht man es wohl ähnlich. Auch der zweite Streitpunkt ist einer, der die Macht der neuen Behörde betrifft: Wie unabhängig sollte sie sein? Völlig unabhängig, unbedingt, sagt Lothar Kuhl, der Planungschef der tatsächlich ganz unabhängigen Behörde OLAF, von den Staaten und von der Europäischen Union.

    "Und dabei muss es ganz klar sein, dass diese Stelle nicht das Instrument einer wie auch immer gearteten Behörde auf nationaler oder auf europäischer Ebene ist, sondern eigenverantwortlich entscheidet im Rahmen ihres eigenen Rechtsrahmens. Das stärkt die Glaubwürdigkeit der Instanz und ist eine Grundvoraussetzung auch für ihre Legitimität als Ermittlungsinsta".

    Das fehlte noch, antwortet der Parlamentarier Jan-Philipp Albrecht. Derzeit steht OLAF wegen angeblich zu selbstherrlicher Ermittlungen in der Kritik. Erst in der vergangenen Woche musste sich deshalb Giovanni Kessler in einer Anhörung rechtfertigen.

    In Deutschland ist die Staatsanwaltschaft nicht unabhängig, das ist auch gut so, findet die Verteidigerin von Galen. Denn wer unabhängig sei, sei eben auch keine Rechenschaft schuldig. Trotzdem hat sie Verständnis für die Forderung. Eine Lösung sehen Albrecht und von Galen in einer Rechenschaftspflicht des Europäischen Staatsanwalts gegenüber dem Europäischen Parlament.

    Bevor aber das Parlament selbst solche Forderungen erheben kann, müssen noch die Mitgliedstaaten entscheiden. Weil eine Europäische Staatsanwaltschaft so ein sensibles Thema war, schon als 2007 der Vertrag von Lissabon geschrieben wurde, unterliegt sie nicht den Regeln anderer Entscheidungen über Rechtsfragen. Mitmachen muss nur, wer will. Und es zeichnet sich bereits ab, dass nicht alle wollen, insbesondere Großbritannien nicht, das im sogenannten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, also auch in der justiziellen Zusammenarbeit, keine neuen Instrumente mittragen will. Neun Staaten müssen sich mindestens der Idee anschließen. Sinn habe die Europäische Staatsanwaltschaft nur, wenn es deutlich mehr sind, sagen Giovanni Kessler, Jan-Philipp Albrecht und die Verteidigerin Margarete von Galen.

    Dass es so kommt, dass die meisten der 27 - mit Kroatien ab Juli 28 - Mitgliedstaaten mitmachen, ist wahrscheinlich. Dabei dürfte das Argument eine Rolle spielen, das Oberstaatsanwalt Peter Schneidern in Brüssel vortrug:

    "Die Europäische Union steigt immer stärker ein in die Refinanzierung von Mitgliedstaaten, in die Refinanzierung von Banken. Über den ESM, über die EZB werden riesige Geldsummen bewegt, verteilt. Es muss möglich sein, auch in die Geldvergabe des ESM, in die Tätigkeit der EZB strafrechtliche Ermittlungen durchzuführen."

    Oder auch gegen Empfängerländer? OLAF-Chef Giovanni Kessler formuliert es so:

    "Wir alle erleben gerade wirtschaftliche und finanzielle Schwierigkeiten. Und ich glaube, das wird eine positive Rolle spielen für die Akzeptanz und die schnelle Einrichtung dieser Einheit. Die EU-Hilfen sind jetzt unverzichtbar in der Europäischen Union. Wir können es uns nicht mehr länger leisten, sie nicht gegen Betrüger und Korrupte zu schützen."

    Trotz der aktuellen Begründung - das sind langfristige Überlegungen. Auch der OLAF-Chef rechnet damit, dass die Verhandlungen in Brüssel über eine Europäische Staatsanwaltschaft noch eher Jahre als Monate dauern. Das auch, weil jeder Schritt wohl überlegt sein will. Gibt es eine solche Behörde erst einmal, dann würde sie möglicherweise nach und nach Kompetenzen für mehr Lebensbereiche, für schwere grenzüberschreitende Kriminalität, bekommen. Ansätze dazu sind in den Verträgen schon angelegt.