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Der südamerikanische Riese

In Brasilien finden im nächsten Jahr die Fußball-WM und 2016 die Olympischen Spiele statt. Doch der Boom hat seine Kehrseite. Im Frühsommer protestierten Hunderttausende auf den Straßen. Die beiden Neuerscheinungen werfen einen Blick auf den Alltag und die politische Konstellation im Land.

Von Victoria Eglau |
    "Sie verdient, je nach Geschäftsgang, zwischen achthundert und tausend Reais monatlich, zwischen 370 und 450 Euro. Vom Vater ihrer Kinder bekommt sie hundert Euro monatlich, und damit gehört sie zur neuen Mittelschicht Brasiliens, die zu sechzig Prozent weiblich ist."

    Aparecida, 36, Schuhverkäuferin in einem Shoppingcenter der brasilianischen 2,3-Millionen-Stadt Belo Horizonte. Alleinerziehend, arbeitsam, mit Silikon-Brüsten und einem Gebrauchtwagen, den sie mangels Führerschein nicht fahren kann, ist sie eine der Personen, denen der Schweizer Journalist Ruedi Leuthold auf seiner Reise durch das heutige Brasilien begegnet ist.

    "Aparecida ist eine glühende Anhängerin von Ex-Präsident Lula. Wie er, ging sie bloß einige Jahre zu Schule, wie er, hat sie bereits mit zwölf zu arbeiten begonnen. Und wie ihr Idol benutzt sie gerne das Wort Autoestima, Selbstwertgefühl."

    In seinem Buch "Brasilien - der Traum vom Aufstieg" porträtiert Leuthold den südamerikanischen Riesen vor allem anhand seiner Menschen. Und viele von ihnen sind, wie Aparecida, in gewisser Weise Aufsteiger. Die Verkäuferin ist, so wie Millionen andere Brasilianer, aus der Armenschicht in die sogenannte Klasse C aufgestiegen - die konsumfreudige untere Mittelklasse. Möglich machten es die Sozialprogramme des 2002 gewählten Präsidenten Lula da Silva und der Zugang zu Krediten. Doch nicht nur Menschen, die sich materiell verbessert haben, trifft Leuthold. Da sind zum Beispiel auch die skalpierten Fischersfrauen aus Amazonien, denen auf ihren Booten mit offenem Motor Haar und Kopfhaut weggerissen wurden. Lange versteckten sich die schätzungsweise tausend Betroffenen, bis sich einige trauten, in der Hauptstadt hartnäckig Anerkennung und Hilfe zu fordern.

    "Fünf Jahre nach dem Aufstand von Socorro und Trindade und ihrer ersten Reise nach Brasilia kamen, auf ihre Initiative hin und mithilfe des brasilianischen Staates, mehrere Ärzte der Gesellschaft der brasilianischen plastischen Chirurgen, um die skalpierten Frauen gratis zu behandeln. Davon hatten Socorro und Trindade seit ihrer Kindheit geträumt, von einem ärztlichen Wunder, das ihnen die Haare wiedergibt."

    Ungewöhnliche Geschichten wie diese machen Ruedi Leutholds Brasilien-Buch zu einer unterhaltsamen Lektüre. Der Autor lebt selbst in Rio de Janeiro. Er schildert seine Wahlheimat in lebendigen Reportagen, in die immer wieder politische Hintergrund-Informationen und persönliche Meinungen einfließen. Leuthold ist daran gelegen, die brasilianische Wirklichkeit in ihren unzähligen Nuancen und Widersprüchen darzustellen. So lädt er den Leser ein zu einer Reise mit dem Schiff der Gerechtigkeit, das die Justiz zu den armen Menschen im Amazonas-Delta bringt, die früher keinen Zugang zu Anwälten oder Gerichten hatten. Doch wir erfahren auch, dass die Richterin, die die beeindruckende Initiative ins Leben rief, später von ihren männlichen Kollegen aus dem Amt gedrängt wurde.

    Die konservative, oft menschenferne Verwaltung, die Korruption, die nach wie vor immense soziale Ungleichheit, die schlechten Schulen und der latente Rassismus sind Punkte, die Ruedi Leuthold auf der Negativ-Seite des heutigen Brasiliens vermerkt.

    "Die Brasilianer rühmen sich gern, keinen Rassismus zu kennen. Trotzdem sind nur zwei Prozent der Direktorenposten bei den fünfhundert größten brasilianischen Unternehmen von Schwarzen besetzt, bei einem Anteil von fünfundvierzig Prozent an der Gesamtbevölkerung. Hinter dem neuen Brasilien lauert das alte. Nur eins von zehn schwarzen Kindern beendet die Oberstufe, bei den weißen ist das Verhältnis eins zu vier."

    Brasilien wird gerne klischeehaft mit Karneval und Lebensfreude assoziiert. Aber, Brasilien ist ein Spiel – zitiert der Buchautor einen lebensklugen Gebäude-Portier aus Rio. Die Leute versteckten sich gern – keiner wolle zugeben, dass er unglücklich ist. Für Leuthold ist es der Glaube an eine bessere Zukunft, der das Land vorantreibt. Jener Glaube, den vor gut siebzig Jahren der österreichische Schriftsteller und Immigrant Stefan Zweig in einem enthusiastischen Essay manifestierte: Brasilien – ein Land der Zukunft. In Anspielung auf Zweigs Titel hat Verena Meier ihr Buch Brasilien – Land der Gegenwart genannt.

    "Die Entwicklungen der letzten fünfzehn Jahre haben vielen Brasilianerinnen und Brasilianern mehr Wohlstand und Lebensqualität gebracht: Die Säuglingssterblichkeit ist drastisch gesunken, die medizinische Versorgung wurde allgemein verbessert, es gibt bessere Ausbildungsmöglichkeiten, mehr Jobs. Fabriken, Straßen und Brücken wurden gebaut. Der Fortschritt ist sichtbar – ein Grund für Stolz und Selbstbewusstsein."

    Lesart Cover: Ruedi Leuthold: Brasilien. Der Traum vom Aufstieg, Verlag Nagel & Kimche Zürich
    Lesart Cover: Ruedi Leuthold: Brasilien. Der Traum vom Aufstieg, Verlag Nagel & Kimche Zürich (Verlag Nagel & Kimche Zürich)
    Verena Meier: Brasilien - das Land der Gegenwart
    Verena Meier ist Sozial- und Wirtschaftsgeografin. Anders als ihr Landsmann Ruedi Leuthold hat sie kein persönlich gefärbtes Reportagebuch geschrieben, sondern ein überwiegend sachlich gehaltenes Hintergrundwerk über das Schwellenland auf dem Weg zum Global Player. Der Leser findet detaillierte Informationen und Zahlen zu Brasiliens Geschichte und Geografie, Wirtschaft und Kultur, Städten und Hinterland. Die Einwanderungsprozesse, der traditionelle Kaffee- und Zuckerrohr-Anbau, die indigene und die Afro-Kultur, die Industrialisierung, das Leben in den Favelas und den Reichenvierteln sind einige von Meiers Themen. Wie Leuthold ist sie von der Amazonasregion fasziniert – dem größten Regenwaldgebiet der Erde. Äußerst interessant: das Kapitel über dessen Erschließung, Besiedlung, Sozial-, Land- und Umweltkonflikte.

    "Am Unterlauf des Amazonas (...) – hier ist noch kein Wohlstand angekommen. Die Löhne sind tief, es gibt viel informelle Arbeit, Ausbeutung. Die Gesundheitsversorgung ist ein großes Problem der Region. Kinder sterben an einfachen Krankheiten wie Durchfall. In ländlichen Gebieten und am Rand der Städte trinken die Leute das Wasser direkt aus den Flüssen, die zum Teil mit Fäkalien von Tier und Mensch verschmutzt sind. Amazonien braucht Entwicklung, aber welche?"

    Auch Meier beleuchtet die Kehrseite des Booms in Brasilien, wo im nächsten Jahr die Fußball-WM und 2016 die Olympischen Spiele stattfinden.

    "So werden für die neuen Bauten Wohngebiete geschleift und Bewohner vertrieben. Die Sportpaläste verschlingen Gelder, die anderswo dringend gebraucht würden."

    In diesem Frühsommer schaute die Welt erstaunt nach Brasilien, wo Hunderttausende Menschen auf den Straßen protestierten. Obwohl beide Autoren ihre Bücher vorher verfassten, helfen diese dabei, die Gründe für jene Explosion der Unzufriedenheit in dem aufstrebenden Land zu verstehen.


    Ruedi Leuthold: Brasilien. Der Traum vom Aufstieg. Verlag Nagel & Kimche, 208 Seiten, 17,90 Euro.

    Verena Meier: Brasilien - das Land der Gegenwart. Rotpunktverlag, 250 Seiten, 29,90 Euro

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    Lesart Cover: Verena Meier: Brasilien. Das Land der Gegenwart, Rotpunkt Verlag Zürich
    Lesart Cover: Verena Meier: Brasilien. Das Land der Gegenwart, Rotpunkt Verlag Zürich (Rotpunkt Verlag Zürich)