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Der tägliche Kampf ums Überleben

Die neuen Medien machen selbst vor Nordkorea nicht halt, und immer mehr Menschen fliehen aus dem Land, das in einer Art Steinzeitsozialismus verharrt. Die amerikanische Journalistin Barbara Demick hat als Korrespondentin der LA Times in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul mit Flüchtlingen aus Nordkorea Interviews geführt und tiefe Einblicke in das private Leben in Nordkorea sammeln können.

Von Silke Ballweg |
    Mit viel Hintergrundwissen angereichert schildert Demick zunächst die Gründung Nordkoreas nach dem 2. Weltkrieg. Aus der Perspektive ihrer Hauptfiguren erzählt sie, wie Staatsgründer Kim Il-Sung das Land ideologisch auf Linie bringt. Die meisten Nordkoreaner mussten damals nach der Arbeit Vorträge hören, öffentlich Selbstkritik üben, Leitartikel aus der Parteizeitung interpretieren und sich im Nachbarschaftskomitee organisieren. Der Einzelne, so die Idee von Kim Il-Sung, sollte sich ganz der Gemeinschaft unterwerfen, sollte in ihr aufgehen. Und diese Gemeinschaft wurde dann von Kim Il-Sung gelenkt, dem gottgleichen Führer, der um sich herum einen fast schon wahnwitzigen Personenkult etablierte.

    In Frau Songs Heim hing, wie in allen anderen auch, ein gerahmtes Porträt von Kim Il-Sung an einer ansonsten kahlen Wand. Es war nicht erlaubt, etwas anderes an diese Wand zu hängen, nicht einmal Bilder von Blutsverwandten. Die Arbeiterpartei gab die Porträts kostenlos aus, zusammen mit einem weißen Tüchlein, das in einer unterhalb der Bilder deponierten Schachtel aufzubewahren war. Es durfte nur dazu verwendet werden, die Porträts zu säubern, was besonders in der Regenzeit im Sommer wichtig war, denn dann kroch der Schimmel an den Ecken unter den Glasrahmen und hinterließ hässliche Flecken. Etwa einmal im Monat erschienen unangemeldet Inspektoren der Ordnungspolizei, um zu überprüfen, ob die Porträts sauber waren.
    Die von Kim Il-Sung entworfene sogenannte Juche-Ideologie beruhte unter anderem auf dem Gedanken absoluter Autarkie. Die Bevölkerung sollte vom Staat versorgt, jeglicher Handel – auch zum Ausland – sollte unterbunden werden. Aber über Jahrzehnte blieb diese Idee unerfüllt, Nordkorea hing stattdessen am Tropf der Bruderstaaten und war auf Nahrungsmittel, Energie, Medikamente oder Autos aus dem sozialistischen Ausland angewiesen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion stürzte Nordkorea deswegen in eine ökonomische Krise. Kurz darauf brach in dem Land eine Hungerkatastrophe aus. Die Nahrungsmittelknappheit bestimmte jahrelang das Leben der Menschen in Nordkorea. Der tägliche Kampf ums Überleben nimmt in Demicks Buch großen Raum ein:

    "Sie konnten an nichts anderes denken als daran, wo sie das nächste Essen organisieren konnten. Sie gingen abends mit dem Gedanken ins Bett, morgen nach dem Aufstehen muss ich gleich nachsehen, ob frisches Gras gewachsen ist, das ich abschneiden kann. Wenn nicht, dann kann ich vielleicht irgendwie raus aus der Stadt kommen, vielleicht finde ich dann ja einen Vogel oder ein Stück Rinde. Der gesamte Erfindungsreichtum der Menschen drehte sich nur darum, etwas zu essen zu besorgen."
    Für ein paar Lebensmittel verkauften die Menschen alles, was sie hatten. Sie aßen Insekten, Gras und Frösche. Wegen Unterernährung blieb bei den meisten Frauen irgendwann die Menstruation aus, viele Kinder bekamen Hungerbäuche. Bis zum Jahr 1998 sollen Schätzungen zufolge bis zu einer Million Menschen verhungert sein, jeden Morgen wurden die Toten auf Karren geladen und weggeschafft. Mit der Not wuchsen die Schwarzmärkte, denn immer mehr Nordkoreaner überquerten heimlich die Grenze nach China, um von dort Lebensmittel nach Nordkorea zu bringen:

    "Zwei Flüsse markieren die Grenze, der Yalu und der Tumen. Der Tumen ist der Fluss im Norden und er ist an vielen Stellen sehr flach. An einigen Orten ist er nur fünf Meter breit und im Winter vollkommen zugefroren, man kann ihn also leicht überqueren. Es gibt zwar viele Grenzsoldaten aber keine Mauer oder so etwas, nur an manchen Stellen etwas Stacheldraht. Die Leute gehen meisten zwischen den Grenzsoldaten über den Fluss und vor allem auf der nordkoreanischen Seite ist es einfach, die Soldaten zu schmieren. Viele Menschen treiben sowohl legalen als auch illegalen Handel über die Grenze hinweg, viele kaufen Produkte in China und bringen sie wieder nach Nordkorea rein."
    In den vergangenen Jahren sind mehrere 10.000 Nordkoreaner über die Flüsse geflohen, Schätzungen zufolge leben heute rund 100.000 Flüchtlinge in China und tausende weitere in Südkorea. Doch das Land im Süden ist den meisten Nordkoreanern vollkommen fremd und viele schaffen es nicht, sich zu integrieren, sagt Demick:

    "Dort sind sie umgeben von Abkürzungen, HDTV, MP3 oder MTV, und sie verstehen das alles nicht, sie kennen ja nicht einmal das westliche Alphabet. Nordkoreanische Studenten haben im Regelfall noch nie im Internet gesurft, sie haben wahrscheinlich noch nie einen Computer benutzt oder ein Telefon. Das heißt nicht, dass sie nicht gebildet sind, aber die Zeit in Nordkorea ist ungefähr in den 1960er-Jahren stehen geblieben. Auf dem Niveau befinden sie sich."
    Demicks Buch und ihre vielen Schilderungen – nicht nur über das Leben in Nordkorea, sondern auch über die abenteuerliche Flucht nach China und die beschwerliche Weiterreise nach Südkorea – bieten einen seltenen Einblick in das Schicksal von Menschen, die aus einem Land kommen, das so gänzlich aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Und es ist noch dazu vielschichtig: Die geschichtlichen Hintergründe erklären die Ideologie von Kim Il-Sung und machen verständlich, was die Herrscher des Landes antreibt. Die Autorin beschreibt aber auch ganz aktuell, wie immer mehr Informationen nach Nordkorea gelangen – und wie das den Führungsanspruch der Herrschenden zunehmend bedroht. Und so ist es eines der besten Bücher über Nordkorea, die derzeit auf dem Markt sind.

    Barbara Demick: Die Kinogänger von Chongjin. Eine nordkoreanische Liebesgeschichte. Das Buch ist erschienen bei Droemer/Knaur, hat 432 Seiten und ist für 19 Euro 95 zu haben, ISBN: 978-3-426-27438-5.