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"Der tausendjährige Posten oder Der Germanist"

Was literarisch tun mit dem Fall des Nazi-Funktionärs Hans Ernst Schneider, der sich nach dem Krieg neue Papiere auf den Namen Hans Schwerte besorgte, indem er sich von seiner Ehefrau für tot erklären ließ, der dann unter dem neuen Namen seine Witwe heiratete, Germanistik studierte, Professor wurde und es an der Technischen Hochschule Aachen Anfang der 1970er-Jahre bis zum Rektor brachte?

Von Frieder Reininghaus | 11.03.2012
    Irene Dische und Elfriede Jelinek haben sich des Schneider-Schwerte-Stoffes angenommen und Franz Schuberts Singspiel "Der vierjährige Posten" daraus entsprechend angepaßt: "Der tausendjährige Posten oder Der Germanist" heißt der Abend jetzt, den Frieder Reininghaus gestern im Heidelberger Opernzelt hinreißend fand.

    Das Singspiel "Der vierjährige Posten" (D 190), von Franz Schubert 1815 nach einem von ziemlich unsäglichem Humor und etwas antifranzösischer Ranküne geprägten Text des als Heckenschütze ums Leben gekommenen Burgtheaterdichters Theodor Körner komponiert, wurde erst 32 Jahre nach Schuberts Tod im Großen Redoutensaal der Wiener Hofburg uraufgeführt – konzertant. Auch nach dieser verspäteten Premiere im Jahr 1860 war dem Einakter wenig Fortüne beschieden. Irgendwie "werkgetreu" war das Gelegenheitswerk aus der Endphase der napoleonischen Ära bislang nicht zu "retten". Die in Berlin lebenden Literatin Irene Dische hat versucht, das Singspiel für das Theater zurückzugewinnen, Elfriede Jelinek, Wiener Literaturnobelpreisträgerin und Schubert-Groupie, die auf Englisch neu erfundenen Dialoge übersetzt und scharf geschliffen, Lied- und Couplet-Texte geändert. Erhöht wurde der Titel von vier auf tausend Jahre – unter eindeutiger Anspielung auf die größte aller deutsch-österreichischen Zeiten. Um das im Heidelberger Theaterzelt angebotene Projekt abendfüllend zu gestalten, wurde anderweitig entstandene Schubert-Musik herangezogen – aus dem Singspiel "Die Zwillingsbrüder". Andrea Schwalbach inszenierte das ambitionierte Frauen-Projekt.

    "Mag dich die Hoffnung nicht betrügen" – das Terzett ist eine der biedermeierlich anrührenden Nummern aus Franz Schuberts Singspiel "Der vierjährige Posten", das am Ende der napoleonischen Ära als dessen Nachhall entstand. Aus dem Dorfschulzenschwiegersohn und Bauern Heinrich Düval wurde durch das Textbearbeitungsprogramm von Elfriede Jelinek und Irene Dische ein Germanist. Dieser trägt unverkennbar die Züge von Hans Schwerte, der vor 1945 SS-Hauptsturmführer Hans Ernst Schneider und Ahnenerbespezialist war, sich für tot erklären ließ und seine Witwe heiratete, dann zu einem bedeutendsten Goetheforscher avancierte und unter Duldung der sozialdemokratischen Behörden in Düsseldorf Rektor der RWTH Aachen wurde (1995 wurde Schneider-Schwerte von niederländischen Journalisten enttarnt).

    Rechts ein kapitaler röhrender Hirsch und die schwarz-rot-goldgelbe Fahne, links ein Kanapee im Separée. Sie rahmen das festlich geschmückte Auditorium Maximum einer näher nicht bestimmten deutschen Universität. Das Collegium musicum auf der kleinen Bühne im Hintergrund überdeckt mit seinem Forte ein paar besonders schlimmste Sätze des Festredners. Anne Neuser hat besinnlich stimmendes Interieur im Theaterzelt drapieren lassen: Studierende mit Schärpen und Verbindungsmützen und wohnen einer Feier anlässlich der Emeritierung des Germanisten Prof. Dr. Hans Schall bei. Der dankt seiner Gattin überschwänglich. Das treue Lieschen wird doppelt aufgeboten – ausgestattet mit opernfähiger Stimme von der eher bieder wirkenden Hye-Sung, daneben mit dem nötigen Maß an Naivität, Unerfülltheit und Penetranz hübsch dargestellt von Christina Dom. Gedoppelt wurde auch seine Magnifizenz: Dietmar Nieder verleiht dem erfolgverwöhnten Professor die Züge eines Hörsaalstars, Kammersänger Winfrid Minus mit seinem Tenor die notwendigen Konturen des Singspielhelden. Die neue Story zur alten Musik hat treffsicheres Theaterpersonal gefunden.

    Andrea Schwalbach inszenierte eine bitterböse gemeinte Satire auf den faustischen deutschen Mann. Dabei bezog sie weitere Schubert'sche Musik ein. Die Kopfmotive der bekanntesten Lieder ergeben eine Suite von Klingeltönen. Diese erklingen als Raumklanginstallation, wenn sich unter den Studierenden die Nachricht vom großen Betrug der bewunderten Koryphäe herumspricht. Man hört bei den Schalls zu Kaffee und Kuchen die "Unvollendete". Und einmal imitieren fünf Sänger die Wiedergabe eines Schubert-Quintetts von einer alten Schellack-Platte, die irgendwann hängen bleibt. Im Ganzen wie in den Details wurde alles richtig gemacht mit Schall und Schaal in Heidelberg. Nur ein kleines schales Gefühl bleibt dahin gehend zurück, dass der junge schulverstrickte Germanist, der 1945 keine Chance hatte, nirgends, und diese doch mit spielerischer, eigentlich ganz undeutscher Leichtigkeit nutzte, mehr Sympathie von uns erwirbt als die akademischen Ermittler auf verbeamteten Stellen, die aus sicherer Distanz linguistische Gutachten erstellen und mit diesen die Habilitationsschrift von Schneider-Schwerte-Schall- und Rauch als Raubgut einstufen. Angesichts eines Wissenschafts- und Journalismus-Betriebs, in dem generell annektiert, übervorteilt und geschummelt wird, haben sich die Autorinnen Dische und Jelinek da eine gewisse Blauäugigkeit gestattet. Doch im Kontext der holden Tonkunst des lockigen Knaben aus dem Himmelpfortgrund ist auch diese Volte noch bestens zu goutieren.