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"Der teutsche Gelehrte ist nicht mehr der nach Öllampe riechende Pedant"

Vor 450 Jahren wurde die Universität Jena gegründet. Eine Epoche dieser traditionsreichen Hochschule ragt besonders heraus: Ende des 18. Jahrhunderts wurde Jena zum Zentrum von Aufklärung und Kant'scher Philosophie, Idealismus und Frühromantik. Die Universität wurde damals zur freiesten im alten deutschen Kaiserreich, war verbunden mit Namen wie Fichte und Schiller, Feuerbach und Schelling.

Von Christian Forberg | 31.01.2008
    Im Jahre 1806 war das alte deutsche Reich endgültig zerstört. Der deutsche Kaiser dankte ab und seinem Widersacher, dem zuvor noch als "Weltgeist" gerühmten Napoleon, begegnete man inzwischen mit Schauder - er hatte gerade die Preußen und ihre Verbündeten bei Jena und Auerstedt geschlagen. Geheimrat von Goethe schrieb in einen Bericht an die französischen Besatzer:

    "Jena ist eine Universität nach der älteren deutschen Form. Sie ist in Fakultäten geteilt, deren jede wenigstens drei bis vier Professoren enthält. Sie hat in ihrer Konstitution das Eigne, dass, obgleich die Stadt im Herzogtum Weimar gelegen ist, sie doch von vier Sachsen-Ernestinischen Höfen abhängt, welche die Professoren ernennen, und sonstige Hauptbefehle dahin ergehen lassen."

    Also im Grunde nichts Neues im großen Krisenjahr: Es gab die Salana, die an der Saale gelegene Universität noch; gebeutelt, geschrumpft, aber in ihrer alten Form. Was heißt, so der Historiker Gerhard Müller:

    "Die ältere deutsche Form ist eigentlich das, was die meisten Universitäten bis ins 19. Jahrhundert gewesen sind, nämlich eine Stiftungsuniversität, eine Stiftung meist bestehend aus Grundbesitz; im protestantischen Bereich waren das säkularisierte Kirchenbesitzungen, hier in Jena das Kloster mit den dazu gehörigen Zinseinkünften und solchen Sachen","

    womit die Finanzierung zu etwa drei Vierteln gewährleistet war. Hinzu kamen Zuschüsse aus den Kassen der vier sachsen-ernestinischen Fürstenhäuser, die als Erhalter oder Nutritoren bezeichnet wurden.

    Friedrich Schiller gab in einem Brief Auskunft:

    ""Die unter vier sächsischen Herzögen verteilte Gewalt über die Akademie macht diese zu einer ziemlichen freien und sicheren Republik, in welcher nicht leicht Unterdrückung stattfindet. Diesen Vorzug rühmten mir alle Professoren, die ich sprach mit vielem Nachdruck. Die Professoren sind in Jena fast unabhängige Leute und dürfen sich um keine Fürstlichkeit bekümmern."

    Zum Beispiel wurde es üblich, dass nicht nur die Vorlesungen der 18 Lehrstuhlinhaber, sondern auch der Privatdozenten und außerordentlichen Professoren wie Schiller oder Fichte angekündigt wurden.

    Außerordentlich hat eine doppelte Bedeutung: Wer zusätzlich an die Universität und besonders an die philosophische Fakultät berufen werden wollte, musste Außerordentliches" vorweisen können. Schiller - das war in erster Linie der berühmte Autor der "Räuber"; die Studenten sangen daraus

    "Ein freies Leben führen wir / ein Leben voller Wonne!","

    wenn sie lauthals ihre Freiheit auslebten. Dazu gehörte auch, Professoren die Scheiben einzuwerfen - dem Philosophen Fichte zum Beispiel, Schillers Nachfolger, der 1795 sogar aus Jena flüchten musste.

    Johann Gottlieb Fichte ist eine der zentralen Figuren in dieser Zeit, sagt der Philosoph Christoph Halbig:

    ""Fichte ist ja dadurch berühmt geworden, dass er eine Schrift auf den Markt gebracht hat, die man eigentlich Kant zugeschrieben hat. Und da hat Kant gesagt: Nein, das ist gar nicht von mir! Das ist von Fichte. Das hat natürlich die Aufmerksamkeit auf Fichte gelenkt sozusagen als 'der bessere Kant'."

    Was aber nichts damit zu tun hatte, dass Immanuel Kant einst eine Berufung nach Jena ausgeschlagen hatte, er blieb zeitlebens in Königsberg. Es war wohl eher die Kompliziertheit des Systems Kant'schen Denkens, allem voran die "Kritik der reinen Vernunft" von 1781 - Fichte war eindeutiger. Bereits kurz nach Erscheinen der Kant'schen Kritik mühten sich auch Wissenschaftler in Jena, jene "kopernikanische Wende" in der Philosophie zu erfassen.

    Der Philosoph Reinhold vor allem, aber auch Carl Christian Erhard Schmid: er veröffentlichte 1786 seine Vorlesungen als "Kritik der reinen Vernunft nebst Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der Kantischen Schriften". Schmid war – Theologe, 1790 traute er seinen Freund Schiller. Für Jena, sagt Gerhard Müller, war so etwas normal:

    "Insgesamt war die Theologie hier in Jena seit den 1780er Jahren spätestens mit Aufklärungstheologen, sogenannten Neologen besetzt. Das war also diese Strömung, die engagiert aufgeklärte Theologie vertrat. Aber die Kantianer waren da noch einmal eine Steigerung innerhalb dieser Neologie."

    Aufklärung und Kant'sches Denken wurden in Jena also ein Stoff, an dem sich Gelehrte und Studenten aller Fakultäten entzündeten. Die Juristen hatten über Jahrhunderte die sogenannte Reichspublizistik gelehrt, also all das wiedergegeben, was Herrscher und ihre Juristen an Gesetzen und Urteilen erlassen hatten. Nun aber kam Kant mit seinem kategorischen Imperativ:

    "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."

    Professor Halbig bezeichnet ihn als einen Versuch,

    "aus der Struktur praktischer Rationalität, also aus der Frage, was heißt es, ein autonom Handelnder zu sein, moralische Normen zu gewinnen. Das war sozusagen die zündende Grundidee, die man zur Kenntnis genommen hat. Dann fragt man sich, wenn ich die Moral so begründe, was mache ich dann mit dem Recht? Gibt es für das Recht eine eigene Sphäre, die von der der Moral unterschieden ist und unter Umständen auch getrennt gehalten werden soll? Ist es eine wichtige Aufgabe eines Rechtsstaates, der Verwechslung und Vermischung von Recht und Moral auch vorzubeugen? Das sind Fragen, die im Anschluss an diese Kantische Grundidee formuliert worden sind."

    Zudem, so Christoph Halbig, sei das nicht ein Prozess gewesen. Eigentlich waren es drei Prozesse, die parallel verliefen und sich weit über ein Jahrzehnt hinzogen:

    "Kant selber arbeitet weiter an den Dingen, es gibt bereits Ansätze zu einer nachkantischen Systembildung bei Fichte, und es gibt hier in Jena Leute, die sich fragen: Was sollte Kant eigentlich selber dazu sagen?"

    Leute wie Paul Johann Anselm Feuerbach, der nach 1800 die moderne deutsche Strafrechtslehre begründete, oder Friedrich Wilhelm Schelling, der in Jena zum führenden Naturphilosophen reifte. Sein Werk "Von der Weltseele" - 1797 veröffentlicht - regte auch Goethe an, aber auf eigene Weise. In einem Brief an Schiller schrieb er:

    "Heute früh habe ich beim Spaziergang einen cursorischen Vortrag meiner Farbenlehre überdacht und habe sehr viel Lust und Mut zu dessen Ausführung. Das Schellingsche Werk wird mir den großen Dienst leisten, mich recht genau innerhalb meiner Sphäre zu halten."

    Goethe hat an vielen Stellen bekannt, nicht alles haarklein verstanden zu haben, was die modernen Philosophen darlegten. Aber das erschien ihm auch nicht als das Wichtigste.

    Über die Rolle Goethes in Bezug auf die Uni Jena ist oft gestritten worden: Zu loyal habe er zu seinem Gebieter und Freund Weimars Herzog Carl August gestanden, als dass er den kritischen Geist der Universität hätte befördern können. So schätzt Gerd Fesser in der vor zwei Wochen erschienenen Wochenzeitung "Die Zeit" das Wirken von Goethes Kollegen Christian Gottlob Voigt um einiges höher ein.

    Gerhard Müller hat akribisch Goethes Wirken in und für Jena erforscht, von Beginn seiner Tätigkeit im herzoglichen Consilium an, wo er unter anderem auch für die Universität verantwortlich war. Zunächst weilte Goethe als Forschender in Jena:

    "Es lag irgendwie im Trend, dass Goethe in dieser Zeit anfing, sich für Naturwissenschaften, Osteologie, Anatomie und solche Dinge zu interessieren. Er hat ja dann diese Zwischenkieferknochenentdeckung gemacht. In dieser Zeit kommt er dann auch in engeren Kontakt mit einigen dieser Jenaer Gelehrten und entdeckt Jena als eine Art geistige Spielwiese."

    Gerhard Müller hat drei Ebenen ausgemacht, auf denen Goethe für die Uni wirkte: Er nahm Einfluss auf die Strukturen, die Personalpolitik und die Regulierung des Studentenlebens. Jena galt seit Jahr und Tag als die freieste der Universitäten im alten Reich.

    Sich intensiv mit der Uni zu beschäftigen begann nach 1785 mit seinem Rückzug aus den täglichen Amtsgeschäften als Minister, erlebte einen Bruch durch seine überstürzte Italienreise und wurde danach eines der entscheidenden Betätigungsfelder für Goethe, der allmählich zu einer Art Kultusminister wuchs.

    "Gleichzeitig, während er sich auf diese wissenschaftlichen und Kunsteinrichtungen, also so eine Art Infrastruktur konzentriert, gibt er diese tagtägliche Verwaltung der Universität oder der Verkehr mit den Erhaltern, das übergibt er fast komplett an Voigt. Das hat auch mit einem bestimmten Kurswechsel zu tun Anfang 92, als Carl August und Voigt eine Repressionswelle in Gang setzen gegenüber den geheimen Studentenverbindungen. Die werden mit einer richtigen Polizeiaktion unterdrückt. Da wird - das kann man ganz genau nachweisen - Goethes Strategie damit vollkommen negiert."

    Goethe war eher darauf bedacht, die illegalen Studentenorden mit ihren teilweise brachialen eigenen Gesetzen - das Duellieren zum Beispiel - in legale, gesittete Verbindungen wie die Landsmannschaften zu überführen. Ein seit 1768 "schmorendes" Reformvorhaben, das bis dahin nicht konsequent verwirklicht wurde: Die meisten und dazu gut betuchten Studenten kamen aus dem Ausland. Hätte man sie zu hart angefasst, wären sie weggezogen. Auch Goethe scheiterte mit dem Konzept einer Umerziehung nicht zuletzt durch die Ereignisse der Französischen Revolution. Studentische Aktionen galten fortan als Jakobinertum, so sah es zumindest Minister Voigt. Im Sommer 1792 wurde sogar Militär gegen die Studenten eingesetzt. Sie wehrten sich mit einem Universitätsboykott. Eine Extremsituation, sagt Gerhard Müller:

    "Das ist sozusagen das schärfste Mittel des studentischen Widerstandes gewesen, dass man eine Universität verlässt. Und das hat man gemacht, dieser Ausmarsch - wenn die Forderungen nicht erfüllt werden, gehen wir woanders hin. Und das wäre für die Universität tödlich gewesen. Da musste man dann einlenken, es wird ein Kompromiss gemacht, man kommt irgendwie überein. Und es ist dann immer so ein Kleinkrieg zwischen Studenten und Obrigkeit: Es gibt mal Phasen, wo die relativ frei geduldet werden, dann gibt es Phasen, wo sie wieder stärker unterdrückt werden - das zieht sich durch bis zur Burschenschaftsgründung 1815."

    Von hier war es dann nicht weit bis zum Auszug der Studenten auf die Wartburg bis zum Wartburgfest 1817. Carl August hatte die Burg zur Verfügung gestellt.
    Im Jahre 1792 kamen Goethe und der Herzog überein, dass die geistige Freiheit nicht eingeschränkt werden dürfe, vorausgesetzt, die Gelehrten verhielten sich loyal zum Herrscher, stellt Klaus Ries heraus.

    "Er erlaubte sich, noch in dieser Zeit Fichte zu berufen, von dem man weiß, dass er prorevolutionäre Schriften herausgegeben hat - trotzdem wird er noch berufen. Also die These, die beispielsweise der amerikanische Literaturwissenschaftler Daniel Wilson verbreitet, dass gerade der Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach im Verbund mit Goethe besondere Menschenrechtsverletzer seien, da muss man sagen: Alle Herrschaften waren damals Menschenrechtsverletzer. Ich würde umgekehrt sagen: Der Weimarer ist ein Sonderbeispiel, trotz dieser Tendenz freiheitliche Bestrebungen an der Universität Jena zu halten."

    In die Quere kam ihm aber das kursächsische Haus. Carl August versuchte seit geraumer Zeit, eine größere Rolle in der Reichspolitik zu spielen und liebäugelte mit dem Thron in Dresden. Doch von dort kamen Vorwürfe: wie er solche Reden an seiner Universität nur zulassen könne. Der Herzog wurde unsicher, schimpfte gegenüber Voigt, er habe sich zehnmal über Goethe halb zu Schanden geärgert über so viel Leichtsinn.

    Im Mittelpunkt der Kritik stand nicht zuletzt Fichte, der meinte:

    "Der teutsche Gelehrte ist nicht mehr der nach Öllampe riechende Pedant, der auf den Marktplätzen von Athen und Rom zu Hause ist, nur nicht in seiner Vaterstadt."

    Womit für Klaus Ries Fichte der erste politische Professor Deutschlands ist:

    "Es dürfen nicht nur Ideenproduzenten sein, sondern sie müssen die Verbindungen zur Gesellschaft suchen und auch finden, dass eine Bewegung entsteht. Fichte sucht sie. Keiner wie er beendet alle seine Vorlesungen mit dem Appell: Handeln, handeln ist es, wozu ihr da seid. Also die Philosophie der Tat Fichtes, so nennt man es in der Philosophiegeschichte, würde ich als die theoretische Grundlage des politischen Professorentums ansehen. Deswegen ist er ein wichtiger ideeller Anreger. Er gerät dann an Strukturen und kann auch nicht in die Gesellschaft so eindringen, auch weil die Zeit nicht reif ist."

    Das wurde 1798 besonders deutlich im sogenannten Jenaer Atheismusstreit, ausgetragen in der "Allgemeinen Literatur-Zeitung". Hier vertrat Fichte gemeinsam mit anderen Gelehrten Positionen, die vom kursächsischen Kirchenrat mit Verbot belegt wurden.

    "Jene lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines anderen Gottes und können keinen anderen fassen","

    schrieb Fichte in den Aufsatz "Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltreligion". Zum Einlenken aufgefordert verweigerte er sich wie einst Luther: Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Werft mich hinaus! Das geschah.

    In diesen letzten Jahren des 18. Jahrhunderts ging die Zahl der Jenaer Studenten drastisch zurück. Bis 1800 hatte sich die Zahl der Immatrikulationen auf rund 200 halbiert. 1806 schrieben sich gerade noch 100 ein. Die Zeiten waren unsicher, und Neues entstand anderen Orts, sagt Gerhard Müller: Es gab lukrativere Universitäten,

    ""wo sich für die Leute auch Alternativen plötzlich auftaten, und das müssen wir uns nicht bieten lassen, wozu sollen wir uns das noch antun, wir gehen jetzt nach Halle oder nach Würzburg oder nach Heidelberg."

    1803 wurde zum Jahr des Exodus: Die "Allgemeine Literatur-Zeitung" wurde nun in Halle herausgegeben. Inzwischen namhafte Gelehrte wie Schelling, Paulus, die Gebrüder Schlegel verließen die Uni wie auch der Mediziner Loder, mit dem Goethe in den 80er Jahren sehr aktiv zusammengearbeitet hatte - auch beim Aufbau der anatomischen Sammlung. Die war Eigentum Loders, und so nahm er sie mit nach Halle:

    "Man hatte plötzlich gar keine Grundlage für die Anatomieausbildung. Goethe muss also 1803 anfangen, eine neue anatomische Sammlung aufzubauen, die heute noch existiert"

    wie Jena und seine Universität insgesamt.

    Professor Ries sieht ausgerechnet im großen Krisenjahr die Wende heraufziehen, den erneuten Aufstieg, nunmehr allerdings in nationalliberaler Hinsicht:

    "Jetzt war nationaler Aufbruch, und Jena liegt im Zentrum dieses Aufbruchs und auch später im Zentrum der antinapoleonischen Befreiungskriege in der Nähe von Leipzig. Also hier wirken die Kriege ganz besonders stark auch auf die Geisteselite, so dass man sagen kann: Die Jahre zwischen 1806 und -13 - davon profitiert Jena enorm, und das kompensiert sozusagen Atheismusstreit und 1803 ganz enorm."