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Der tiefere Sinn von Krankheiten

Die Auseinandersetzung mit Viktor von Weizsäckers Lebenswerk wurde lange von seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus beherrscht. Die Veröffentlichung seiner "Gesammelten Schriften" schuf die Grundlage für eine Beschäftigung mit dem Arzt, der davon träumte, die Spaltung zwischen Körper und Seele zu überwinden.

Von Irene Meichsner | 21.04.2011
    "Wir sollten wenigstens in jedem wichtigeren Falle versuchen, biografische Medizin zu treiben. Das heißt praktisch zunächst: den Kranken nicht schematisch ausfragen, sondern aushören: ihm ein Ohr bieten, das schweigend aufzunehmen versteht - und wir werden sehen, wie rasch und leicht er uns die wichtigsten Verhältnisse seines Lebens, seiner Nöte, seines Werdeganges erzählt. Wir werden alsbald die Krankheit als ein wichtiges Teilstück seinem äußeren und inneren Leben eingefügt sehen, eigentlich als Übergang, Gelenk oder Nahtstelle zweier Lebensabschnitte, als Krise oder als Schlusssumme seiner bewussten Erlebnisse, seiner unbewussten Lebensweise verstehen."

    Eine Gallenkolik als Folge einer persönlichen Demütigung, eine Angina pectoris als Ausdruck von Überforderung, eine Tuberkulose nach Liebeskummer: Viktor Freiherr von Weizsäcker, der Begründer der biografischen oder "anthropologischen Medizin", der am 21. April 1886 in Stuttgart geboren wurde, beließ es nicht bei Laborbefunden und Röntgenbildern. Für ihn hatte jede Krankheit einen tieferen Sinn, in dem sich persönliche und soziale Konflikte offenbarten. In einem Radiovortrag über den "Versuch einer neuen Medizin" erklärte von Weizsäcker:

    "Das Problem des Menschen (...) in dieser Art Medizin ist, dass er, der Mensch, seine Krankheit, die als Teil seiner ganzen Biografie zu verstehen ist, nicht nur hat, sondern auch macht. Dass er die Krankheit, die Ausdrucksgebärde, die Sprache seines Körpers produziert, wie er jedes andere Ausdrucksgebiet und jedes andere Sprechen formt."

    Viktor von Weizsäcker war Arzt und Philosoph. Für die Medizin entschied er sich letztlich nur, weil ihm sein Vater, der spätere württembergische Ministerpräsident Karl von Weizsäcker, ein "Brotstudium" nahe gelegt hatte. 1910 bekam Viktor von Weizsäcker in Heidelberg seine erste Assistentenstelle. Im Ersten Weltkrieg diente er als Truppenarzt in Frankreich und Polen. Seit 1920, nach der Habilitation, leitete er die neurologische Abteilung an der Medizinischen Klinik in Heidelberg. Prägend wurde 1926 eine Begegnung mit Sigmund Freud, dessen tiefenpsychologische Perspektive sich von Weizsäcker zueigen machte. Er erweiterte sie zu einer "umfassenden Krankheitslehre", von der er glaubte, dass sie, so wörtlich, "einmal die Trennung in leibliche und seelische Entstehungsweisen überwinden" könne.

    "Das Neue an dieser Entdeckung ... ist das Wahrnehmen des Subjekts in der Medizin. Oder das Wahrnehmen des Subjekts in der biologischen Forschung."

    Der Neurologe Wilhelm Rimpau war wesentlich an der Herausgabe von Weizsäckers "Gesammelten Schriften" beteiligt, die eindrucksvoll zeigen, wie konsequent der Arzt seine Idee einer psychosomatischen Erneuerung der Medizin verfolgte.

    "Nichts Organisches hat keinen Sinn, nichts Psychisches hat keinen Leib", lautete von Weizsäckers Credo in den Heidelberger Vorlesungen über "Ärztliche Fragen", die er 1934 publizierte. 1940 veröffentlichte er die Monografie "Der Gestaltkreis", in der er eine "Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen" entwickelte. 1956, ein Jahr vor seinem Tod, erschien seine "Pathophobie", in der er das menschliche Leben letztlich als einen "unablässigen Krieg mit der Krankheit" darstellte. Akademisch blieb von Weizsäcker ein Außenseiter. Überschattet wird sein Lebenswerk durch die Verstrickung in den Nationalsozialismus, die in den 80er Jahren publik wurde.

    "Kein Zweifel besteht, dass Weizsäcker im Jahre 1933 Hoffnungen auf die 'neu entstehende Welt' setzte",

    erklärt dazu die Viktor-von-Weizsäcker-Gesellschaft, die sich bemüht, mit dem Thema offen umzugehen. 1941 übernahm von Weizsäcker die Leitung des Neurologischen Forschungsinstituts in Breslau. In der Zeit von 1942 bis 1944 wurden dort in der histopathologischen Abteilung Forschungen am Gehirn und Rückenmark von körperlich und geistig behinderten Patienten der Landesheil- und Pflegeanstalt Lublinitz durchgeführt, die im Zuge der "Kinder-Euthanasie" mit dem Betäubungsmittel Luminal getötet worden waren. Ob und inwieweit von Weizsäcker darüber persönlich informiert war, blieb offen.

    "Andererseits ist es schwer vorstellbar", so die Viktor-von-Weizsäcker-Gesellschaft, "dass Weizsäcker nicht auf irgendeinem Weg von den Vorgängen in der Kinderheilanstalt Lublinitz in Kenntnis gesetzt wurde."