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Der Tod des Erotomanen

Am Himmel des Sowjetreiches schwebte die Vision vom Neuen Menschen. In Boris Polewojs "Roman vom Wirklichen Menschen" verliert ein Flieger seine Beine, bekommt Prothesen, schwingt wieder das Tanzbein und besteigt erneut den Flieger. Auf den Führerporträts erstrahlten der pockennarbige Stalin und der senile, krötenähnliche Breschnew jahrzehntelang im Glanze ewiger Jugend.

Barbara Lehmann | 10.12.1998
    Kein Neuer Mensch, nirgends. Rußland - das ist in Jurij Mamlejews Erzählband "Der Tod des Erotomanen" eine geschlossene Abteilung, bevölkert von Degeneraten, Nekrophilen und Autisten. In ihrem Mitteilungszwang und philosophischen Obsessionen mögen sie die anonymen Nachfahren von Dostojewskijs Untergrundmenschen sein. Über ein persönliches Schicksal und individuelle Wesenszüge verfügen sie indes nicht. Mamlejew folgt damit dem großen Andrej Platonow, der als erster sowjetischer Literat dem kollektiven Unbewußten Stimme verlieh.

    Von Agression, Neid, Bosheit und Geilheit sind Mamlejews monströse Kreaturen getrieben. Doch ihr Wahnsinn verbohrt sich vor allem in die Unbegreiflichkeit des Todes, den sie schänden und zugleich anbeten, denn im irdischen Sündenpfuhl wirkt allein die Unsterblichkeit als Quelle sexueller Stimulanz und geistiger Erlösung: In der Erzählung "Der Tod meiner Mutter" pinkelt ein Sohn, erfaßt von der Gier nach der armseligen Habe seiner Mutter, in die aufgerissenen Augen der Sterbenden. "Die Freundschaft" entpuppt sich als nekrophile Neigung eines Studenten, den sexuelles Verlangen einzig beim Anblick einer sich scheinbar in den letzten Lebenszuckungen windenden Alten erfaßt. Und in "Das letzte Zeichen von Spinoza" verbeißen sich eine fette Psychiaterin, die geht "wie eine denkende Semmel" und ihr verblödeter Patient, der glaubt, im früheren Leben Spinoza gewesen zu sein, nach dem Beischlaf in endlose Dispute über das Sein nach dem Tode.

    Mamlejews Gesamtwerk ist auch eine großartige Parodie auf die Jenseitsobsessionen der russischen Romanfiguren des 19. Jahthunderts. Zwei seiner Romane liegen bislang auf Deutsch vor: "Der Mörder aus dem Nichts", 1968 entstanden, ein wüster Hexenkessel aus Okkultismus, Inzest und Sodomie und der Episodenroman "Die letzte Komödie" von 1970/71, ein schauriges Bachanal lebender Toter. Im Vergleich dazu wirken die simplen Sujets des ersten deutschen Auswahlbandes von Jurij Mamlejews umfangreichem Erzähloeuvre fast harmlos. Vermutlich in den späten Jahren der Sowjetzeit entstanden - leider läßt uns der Verlag bei der Datierung im Stich - erscheinen sie heute streckenweise anachronistisch. Zum einen hat sich unsere Gesellschaft die einst unterdrückten Gewalt-, Sex- und Todesphantasien längst omnipräsent einverleibt. Zum anderen rief Mamlejew, der bereits Ende der 50er Jahre im literarischen Untergrund Moskaus zu schreiben begann, jene Geister der russischen "Literatur des Bösen" von Jewgenij Popow bis Viktor Jerofejew hervor, die mit bislang beispielloser Brachialgewacht den Tabus der Sowjetgesellschaft zu Leibe rückte. Wahrgenommen werden Mamlejews Texte und die seiner infernalischen Söhne allerdings auch im postsowjetischen Rußland nur von einer elitären Minderheit.

    Beim psychopathologischen Befund, der Enttarnung entsublimierter Triebe und Obsessionen, bleibt Mamlejew nicht stehen. Ein exzellenter Kenner der deutschen Philosophie und der alten esoterischen Religionen des Ostens, der sich bereits als Junge durch die große Bibliothek zu Theologie, Theosophie und Okkultem seines als Psychiater praktizierenden Vaters las, ist Mamlejew der Philosoph unter den russischen Gegenwartsliteraten. Mamlejew begreifen, das heißt auch, sich in die irrationalen Abgründe des als rational verkauften Dialektischen Materialismus zu vertiefen, den er in seiner Phantastik und Absurdität als Metaphyik entlarvt.

    In der Erzählung "Eine unangenehme Geschichte" leidet die einem "präparierten, ausgestopften Frosch" gleichende Psychologin Muskina an pathologischer Freßlust und krepiert an Darmverschluß. Hinter Muskinas krankhafter Verleugnung ihrer Sucht verbirgt sich die der Sowjetideologie immanente Negation des kreatürlichen Seins und des Todes. Ein junger Sadist, die "Augen voll Bosheit, zuckend von "Kataklysmen einer rastlosen Phantasie", hat das realsozialistische Paradies zwar längst als Hölle enttarnt. Doch nun schwingt er sich, wie de Sades Juliette, und ihre Nachfolger, die Exegeten des Dialektischen Materialismus, unerbittlich zum Vollstrecker eines eisernen Naturgesetzes auf: Seine Mission, verkündet der Ich-Erzähler in "Das Tagebuch eines jungen Mannes" sei, da der Mensch zum Glück nicht geschaffen sei, "andere unglücklich zu machen." Gnädigerweise greift er dabei nicht, wie Dostojewskijs Raskolnikow zum Beil, sondern zu teils naiven, teils raffinierten Psychotechniken. In "Wirf meinen Kopf ins Wasser!" macht Mamlejew die unheilige Allianz von Kommunismus und Mystizismus fast schon überdeutlich an der Person des Komsomolfunktionärs Prochorow fest. Indem dieser ganz selbstverständlich mittelalterlichen Dämonenglauben predigt, treibt er eine Vierzehnjährige in den Selbstmord.

    All das bleibt, insgesamt ein Manko der russischen Gegenwartsliteratur von Sorokin bis Pelewin, manchmal allzusehr in den engen Grenzen einer subversiven russischen Nationalliteratur: Gegen das materialistische Denken vom bewußtseinbestimmenden Sein setzt Mamlejew hypertrophe Innenwelten und ein pervertiertes Transzendenzverlangen, das auf dem vergifteten Humus des absurden sowjetischen Alltags wuchert.

    Hin und wieder streift Mamlejew bei seinen Jenseitsexkursionen aber auch jenes unbegreifliche Absurde und Böse, das den engen national-gesellschaftspolitischen Rahmen sprengt. Dabei reiht er sich ein in die Literatur des Irrationalen und Absurden von den Deutschen Romantikern bis Kafka und Beckett. In "Der lebende Tod" berichtet er, allerdings in den leicht angestrengt wirkenden philosophisch-theoretischen Monologen jenseitiger "unmenschlicher" Geschöpfe, von einem objektiven "Schrecken": eine mystische Kraft ruft quälende Bewußtseinsspaltungen hervor. In "Die Rückseite von Gaugin" findet er indes zu einer nahezu beschwingten Lyrizität. Ein Untoter geistert als melancholischer Vampir durch die für ihn unversehens sinnentleerte Welt. Schließlich entschwindet auch seine Seele in die Sphäre eines unbegreiflichen Grauens. In der großen Erzählung "Das Bein", findet Mamlejew in der Projektion einer wahnsinnigen Innenwelt in die Außenwelt zu überzeitlich-grandiosen surrealen Bildern. In ihrer suggestiven Kraft erinnern sie an Büchners "Lenz": "Die Fenster der Häuser waren tot, als hätte der Herrgott sie verhängt. (...) Sawelij hob seine blauen Augen zum Himmel (...) und wurde starr. Da war kein Mond. Inmitten zerrissener, irrender Wolken schwebte in einem Heiligenschein (...) sein abgerissenes, nacktes Bein."