Samstag, 04. Mai 2024

Archiv


Der Topos der Insel

Begründer einer ganzen Buchgattung sind die Abenteuer von Robinson Crusoe, wobei die nachfolgenden "Robinsonaden" die furchtvoll-edle und kolonialistische Welt dieses Buches brechen. Die Insel als Lupe auf die Welt.

Von Angela Gutzeit | 17.07.2010
    "Ich nahm eine der Vogelflinten, eine Pistole sowie ein Pulverhorn und machte mich, so bewaffnet, auf den Weg, um die Gegend zu erkunden und den Gipfel des Hügels zu besteigen. Nachdem ich diesen mit großer Mühe erreicht hatte, offenbarte sich mir endgültig die schreckliche Wahrheit: Ich war tatsächlich auf eine Insel geraten, um mich herum breitete sich das weite Meer aus, ohne dass ein Stück Land zu entdecken war ..."

    Eine Situation, die diesen Ich-Erzähler namens Robinson Crusoe anfänglich fast dem Wahnsinn verfallen lässt. Ein unwirtliches Eiland, mitten im Ozean. Wasser so weit das Auge reicht. Alle Kameraden des vom Sturm zerschmetterten Schiffes sind tot. Robinson, Spross einer wohlsituierten englischen Familie, ein Abenteurer, der auf seinen Vater nicht hören wollte, ist plötzlich - weit weg von jeglicher Zivilisation - ganz auf sich gestellt.

    "The life and strange surprising adventures of Robinson Crusoe", veröffentlicht 1719. Also fast 300 Jahre ist es her, dass der englische Autor Daniel Defoe mit seinem Roman über einen Schiffbrüchigen Weltliteratur schrieb. Der literarische Topos "Einsame Insel" ist seitdem unauflöslich mit diesem Helden verbunden, der 28 Jahre lang der wilden Natur einer unbewohnten Insel trotzt und nach und nach seinem einsamen Dasein sogar einen tieferen Sinn verleihen kann.

    Allerdings ist das Motiv des Inseldaseins viel älter als diese Geschichte von Robinson und seinem späteren Gefährten Freitag. Es ist bereits in der antiken Dichtung zu finden. Wir brauchen nur an Homers "Odysseus" zu denken und wir könnten dann endlos fortfahren. Das Insel-Motiv finden wir bei Goethe, bei Jean Paul, bei Mark Twain, bei Jules Verne.... Wir finden es in Mythen, Dichtung, utopischen Erzählungen und Reisebeschreibungen.

    Obwohl es die unentdeckte, einsame Insel eigentlich gar nicht mehr gibt, haben Inseln in unserer Vorstellungskraft bis heute nichts von ihrer Faszination verloren. Im weiten Meer der literarischen Schöpfungen bieten Inseln sich an als Ort der Rettung, als Zuflucht, als magischer Schauplatz für verborgene Schätze, Geheimnisse und Verbrechen, als Inbegriff der Einsamkeit, als Archipel der Sehnsucht, als ein Labor für Experimente, als abgeschirmter Ort der Prüfung, der Erkenntnis, der Wandlung und der Bewährung.

    Insbesondere in der Kinder- und Jugendliteratur hat das Abenteuer auf der einsamen Insel bis heute seinen festen Platz. Wobei natürlich große Literatur, wie sie "Robinson Crusoe" darstellt, diese Genrezuweisung allemal unterläuft.

    Defoes Robinson Crusoe konnte zu einem der großen Leitbilder der Weltliteratur werden, weil er inhaltlich und stilistisch perfekt einen Glauben verkörpert, der nahtlos in die Zeit der beginnenden Aufklärung passte und pädagogisch als ein Musterbild der Menschwerdung vielseitig verwendbar blieb. Jean-Jacques Rousseau hat ihn in seinem pädagogischen Hauptwerk "Emile oder Über die Erziehung" als Vorbild für die Jugend gepriesen. Robinson, geprüft und gestählt durch den Überlebenskampf auf der Insel, wandelt sich vom flatterhaften Weltenbummler zu einem tatkräftigen Christenmenschen und nützlichen Individuum der englischen Gesellschaft, in die er sich nach seiner Rückkehr wieder nahtlos einfügt.

    Es gibt literaturwissenschaftliche Abhandlungen, in denen die Verfasser ihr Erstaunen darüber äußern, dass dieser Roman nicht nur Generationen von Lesern fesselte und das immer noch tut, sondern auch eine eigene Tradition begründen konnte, das Genre der sogenannten Robinsonaden, eine fast unüberschaubare Menge von Nachfolgebüchern, die das Robinson-Thema variieren.

    Schließlich sei der Held doch über weite Teile des Buches lediglich damit beschäftigt - so ist zu lesen - seine selbst gebastelte Trutzburg zu perfektionieren, Trauben zu trocknen oder Ziegen zu melken. Wer so argumentiert, hat offensichtlich etwas Entscheidendes ausgeblendet: Defoe spielt nämlich perfekt mit einem wesentlichen Moment der Spannungssteigerung, die gerade auf dem Handlungsschauplatz der einsamen Insel ihre Wirkung entfalten kann: Ein Mensch auf einer unbewohnten Insel fürchtet sich. Er fürchtet sich vor der Natur, vor der Stille, vor der Leere, vor Seinesgleichen - und wenn da auch nichts und niemand zum Fürchten ist, so fantasiert er Bedrohliches in dieses Nichts hinein und ist immer auf der Lauer. Auch wenn schließlich in diesem Buch dann doch Dramatisches passiert - Defoe beherrscht die Kunst, den Leser zuvor über viele Seiten mit dieser untergründigen Furcht zu fesseln.

    Nicht wenige Bücher in der Nachfolge Robinson Crusoes haben dieses Ausgesetztsein eines Individuums oder einer Gruppe und die damit verbundene menschliche Urangst literarisch gestaltet.

    In anderen Robinsonaden, auch dieser Traditionsstrang ist bedeutend, tritt die Insel als Sehnsuchtsort auf. In diesem Fall wird von ihr Erfüllung, Heilung oder Neuorientierung erwartet. Wobei allerdings diese Motive durchaus nicht immer klar voneinander zu trennen sind.
    Aber immer - ob als Utopie oder Dystopie, ob als Schauplatz des Schreckens oder der romantischen Verzauberung - immer erlebt der auf sich gestellte Held oder die gestrandete Menschengruppe die einsame Insel als existenzielle Ausnahmesitutation. Hier, fern von jeglicher Zivilisation, wird der Mensch in einen Urzustand zurückversetzt. Ein Zustand, der in vielen Jugendbüchern, die auf Inseln spielen, zur Läuterung führen kann.

    Das ist zum Beispiel bei Robert Michael Ballantyne so und seinem heute weitgehend vergessenen Bestseller "The Coral Island" wie auch im Roman "Treasure Island"/"Die Schatzinsel" von Robert Louis Stevenson. In Stevensons 1883 erschienenen Seestück kommt es auf einer wilden Insel zwischen einem Jungen und seinen Begleitern einerseits und einer Handvoll seefahrender Schurken andererseits zum Showdown um die Aneignung eines mysteriösen Schatzes. Der Kampf auf der Insel als spannender Höhepunkt dieses berühmten Abenteuerromans offenbart die Qualitäten der Kontrahenten und klärt schließlich, wer auf der Seite des Guten und wer auf der des Bösen steht.

    In Robert Michael Ballantaynes 1858 erschienenen Roman "The Coral Island" überleben drei junge Engländer die Havarie ihres Schiffes und stranden auf einer Insel in der Südsee. Wie Robinson Crusoe müssen sie sich hier bewähren, wie Defoes Held, der den Wilden namens Freitag zum christlichen Glauben bekehrt, sind sie besessen von einem großen missionarischem Eifer. Dabei kommt es unter ihnen kaum zu Meinungsverschiedenheiten. Ähnlich friedfertig geht es auch in Jules Vernes Roman "Zwei Jahre Ferien" von 1888 zu, in dem eine Gruppe von Jungen auf einer Insel strandet und dort - nach anfänglichen Rivalitäten - dann doch gemeinsam das Überleben sichert.

    "Piggy winselte. "Ralph! Lass mich nicht allein!"
    Mit lächerlicher Vorsicht umklammerte er den Felsen und drückte sich an ihn. Unter ihm gluckste die See. Das Kichern der Wilden verwandelte sich in lautes, höhnisches Gelächter.
    Jack schrie über den Lärm hinweg.
    "Du gehst hier fort, Ralph! Das Ende der Insel gehört mir, bleib du an deinem und lass mich in Ruhe!"
    Das Kichern erstarb.
    "Du hast Piggys Brille geklaut", sagte Ralph außer Atem. "Du musst sie zurückgeben!"
    "Muss? Wer sagt das?" Die Wut ging mit Ralph durch.
    "Ich sag's! Ihr habt mich zum Anführer gewählt! Habt ihr die Muschel nicht gehört? Ihr seid gemein gewesen - wir hätten euch Feuer gegeben, wenn ihr gekommen wärt -"
    Das Blut strömte ihm in die Wangen, und das geschwollene Auge klopfte. (...)
    Jack machte einen Satz und stieß mit dem Speer nach Ralphs Brust. Ralph sah blitzschnell Jacks Arm und konnte die Richtung des Stoßes ausmachen und ihn mit seinem eigenen Speergriff zur Seite lenken. Dann riss er den Griff herum und versetzte Jack einen Kratzhieb quer übers Ohr. Sie standen Brust an Brust, ihr Atem ging heftig, und sie drängten und starrten einander ins Gesicht.""

    William Goldings berühmtes Buch "Lord of the Flies"/ "Herr der Fliegen" von 1954. Ein atemberaubendes Buch. Eine Gruppe von sechs- bis zwölfjährigen Jungen wird während eines Atomkrieges evakuiert. Aber das Flugzeug stürzt ab und die überlebenden Kinder sehen sich plötzlich in die abenteuerliche Lage ihrer Helden aus den Büchern Defoes, Ballantynes und Stevensons versetzt.

    Stevensons "Schatzinsel" wird sogar ausdrücklich erwähnt. Golding greift also geschickt das Motiv der Bewährung in den Inselbüchern seiner Vorgänger auf, um es dann radikal in sein Gegenteil zu verkehren: Die Gruppe zerfällt in zwei verfeindete Lager.

    Eine wird von Ralph angeführt, der das Prinzip der Vernunft, Ordnung und Demokratie verkörpert. Die andere von Jack, der sich mehr und mehr in einen enthemmten Jäger und blutrünstigen Einpeitscher verwandelt. Ein mörderischer Konflikt entbrennt, der - auch als britische Soldaten dem Treiben auf der Insel ein Ende bereiten - kein positives Schlupfloch lässt.

    William Goldings rabenschwarze Travestie der Robinsonaden des 18. und 19. Jahrhunderts stellt nämlich generell und in doppelter Hinsicht die menschliche Friedfertigkeit und die Vorzüge der sogenannten "Zivilisation" infrage. Denn das Geschehen auf der Insel zeigt wie unter einer Lupe den Absturz in die Barbarei, die die Erwachsenen mit ihrem Atomkrieg ja längst vollzogen haben.

    Die kriegerischen Verheerungen im 20. Jahrhundert wie auch der Kalte Krieg nach 1945 bilden hier die Folie für Goldings zutiefst pessimistische Sicht auf die menschliche Existenz - eine Sicht, die wir zu dieser Zeit auch beim sogenannten "Absurden Theater" oder in der Philosophie des Existenzialismus finden.

    In Aldous Huxleys Roman "Island"/ "Eiland" wird dieses Thema variiert. In seinem großen Roman "Schöne neue Welt" von 1937 hatte der Autor die Horrorvision einer genormten Gesellschaft entworfen, die keinen Raum mehr lässt für Individualismus.

    In "Eiland", seinem letzten Roman aus dem Jahre 1962, gibt er allerdings vorsichtig der Utopie von einer gelingenden einheimischen Gemeinschaft auf einer Insel im Indischen Ozean Raum. Ein Engländer, der hier strandet, steht dieser konkurrenzfreien, friedlichen Insel-Gesellschaft erst skeptisch gegenüber, erkennt aber nach und nach ihre Vorzüge. Diese Utopie lässt Huxley bestehen, auch wenn am Schluss der Schatten der Zivilisation auf sie fällt, die das Insel-Idyll schließlich zerstört.

    Diese Konfrontation der 'Weißen' aus der vermeintlich "zivilisierten" Welt mit Ureinwohnern einer Insel wird übrigens in noch etlichen Romanen des 20. Jahrhunderts variiert. Auch sie sind in der Regel ein Echo auf Defoes "Robinson Crusoe". Zwei von ihnen wollen wir gleich näher betrachten.

    Schauen wir uns aber zuvor einen noch druckfrischen Roman an, bei dem ganz offensichtlich Golding, Huxley, George Orwell und die Big-Brother-Reality-Show Pate gestanden haben: "Das Inselexperiment" des norwegischen Schriftstellers Aleksander Melli.

    20 Kinder sind von einem Sender ausgewählt worden, um auf einer Insel im Oslo Fjord die Sommerferien zu verbringen. Sie sollen in dieser Zeit eine "Kinderregierung" bilden, Parteien gründen, ein Budget verwalten und Themen aufgreifen, die ihrer Meinung nach in der heutigen Welt von zentraler Bedeutung sind. Beobachtet und gefilmt werden sie dabei nahezu rund um die Uhr von etwa tausend Kameras, die auf der Insel installiert sind. Die Insel ist landschaftlich ein Traum, der Aufenthalt dort aber wird zum Albtraum - spätestens als der Jugendliche Boris die Punkte seines Parteiprogramms vorstellt und dann nach dem Willen von tausend Fernsehzuschauern, die als jugendliches Wahlvolk fungieren, Ministerpräsident auf der Insel wird.

    "Es ist wichtig, dass wir ein wenig Fantasie benutzen. Ich habe mir die Sache mit der Bevölkerungsreduktion überlegt. So, wie wir heute leben, haben wir einen BNM von 1. Aber das ist nicht der richtige Blickwinkel. Es stimmt ja, dass wir langsam zu viele sind, fast wie eine Pest und eine Plage für den Erdball. Aber es wäre doch eine Schande, die Menge an notleidenden Menschen weiter zu reduzieren. Deshalb halte ich einen kleinen kontrollierten Völkermord im reichen Teil der Welt für gar nicht so schlecht.
    Mein Vorschlag zum Todesgeld, den ich neulich vorgestellt habe, galt vielen als zu krass. Wir könnten uns für ein System der freiwilligen Sterbehilfe einsetzen (...) Keine Menschen, keine Emissionen. Wir könnten bei uns selbst anfangen, hier auf Fernholmen - so tun, als ob, meine ich, indem wir Kinder wegschicken. Am Ende habe ich noch den Vorschlag, dass wir das Volk, das Parlament und die Grenzhüterin um die Erlaubnis zu einer Grüngesetzänderung bitten, damit der Ministerpräsident der Kinder mehr Macht erhält...."

    Der norwegische Autor Aleksander Melli möchte in seinem 700-Seiten-Roman zeigen, wie ein Teil der Kindergruppe einer Art Ököfaschismus verfällt und ihr Wortführer die anfänglich demokratisch eingeübten Spielregeln zur Machtübernahme nutzt. Dabei treibt offensichtlich eine von den Medien pervertierte Erwachsenenwelt, die ja dieses Schauspiel als Fernsehunterhaltung in Gang setzte, ihr zynisches Spiel mit den Kindern.

    Auf der Insel selbst übernehmen sie die Funktion einer Big-Brother-Kontrollinstanz, die aus dem Off den Jugendlichen Regeln auferlegt, Anweisungen gibt und Strafpunkte verteilt, wenn diese Regeln nicht eingehalten werden. Schließlich überlassen sie die Regie den Kindern - mit fatalem Resultat.

    Die Ähnlichkeit des Sujets mit Morton Rhues Roman "The Wave"/"Die Welle" von 1981 bzw. 1984 ist sicherlich nicht zufällig. Das Buch erzählt von einem Unterrichtsexperiment, bei dem die Schüler - zwecks besserer Anschaulichkeit - den Totalitarismus des NS-Regimes nachstellen und dabei schließlich mit ihren Rollen auf erschreckende Weise verschmelzen.
    Vielleicht hätte dieser Roman ja eine interessante Variante des Golding- wie auch Morton Rhue-Stoffes werden können. Aber Aleksander Melli hat die Handlung seines "Insel-Experiments" völlig überfrachtet. Medien-Hype, Unterhaltungswahn, Überwachungsstaat, Demokratieabbau, Barbarei und Gewaltexesse, dazu die klaustrophobische Begrenztheit des insularen Handlungsschauplatzes, - alles ist drin und verknäult sich zu einem schier ungenießbaren Motivsalat.

    Dazu endlos nervende Gespräche der Kinder über die Gefährdung der Welt und die möglichen Gegenmaßnahmen. Und ein Erzähler der sich ein ums andere Mal mit raunend-sugestivem Ton einschaltet und kommentierend an den Leser wendet. Aleksander Melli hat keine überzeugende Form für seinen Insel-Roman gefunden, dessen Schluss, der einen positiven Ausweg andeutet, genauso konstruiert wirkt wie seine Kritik an einer überdrehten Mediengesellschaft.
    Daniel Defoes "Robinson Crusoe" wird zu Recht geschätzt als ein zu seiner Zeit moderner Roman, der - wie es heißt - "die Fiktion des Tatsächlichen" einführte. Das bedeutet, der Roman erweckt den Eindruck eines Tatsachenberichts, in dem der Erzähler nur flankierend auftritt, um dem Helden als Berichterstatter das Wort zu überlassen.

    Besonders seit Mitte des 20. Jahrhundert hat dieses Buch aber auch Kritik erfahren und zwar wegen seines kolonialistischen Blicks auf die Lebenswelt der sogenannten 'Wilden'. Sie kommen bei Defoe als Menschenfresser daher oder als armes Opfer, wie Freitag, der erst nach der Unterweisung durch Robinson Crusoe in Arbeit und christlicher Religion das Menschsein für sich in Anspruch nehmen darf. "Der edle Wilde", ein gängiger Topos des 18. Jahrhunderts und als Mythos lange Zeit wirksam, zeigt sich hier in Freitags gelehriger Unterwürfigkeit.
    Jugendbücher, die diesen einseitigen Blick korrigieren bzw. radikal die Perspektive verändern, sind beispielsweise die Romane "Insel der blauen Delphine" von Scott O'Dell und "Eine Insel" von Terry Pratchett.
    Das Indianer-Mädchen Karana ist in Scott O'Dells Roman "Insel der blauen Delphine" auf ihrem Eiland im Pazifik ganz auf sich gestellt. Weiße, die zur Otterjagd kamen, hatten viele der Stammesmitglieder getötet. Der Rest war aufgebrochen, um nach einer neuen Bleibe Ausschau zu halten. Durch ein unglückliches Ereignis bleibt Karana zurück und ist nach dem Tod ihres kleinen Bruders ganz allein. Sie ist fortan nur noch in Gesellschaft von Tieren, die sie lehren, in Einklang mit der Natur zu leben und auf die Jagd zu verzichten.

    Ähnlich wie Robinson, erzählt die Protagonistin ihre Geschichte selbst. Und so wie Defoes Held erlebt auch das Mädchen ihre Inseleinsamkeit als Bewährungsprobe - nur das hier eine Eingeborene die Wiederkehr der Weißen fürchten muss. Der Amerikaner Scott O'Dell erhielt für diese eindringliche Geschichte 1963 den Jugendliteraturpreis.

    Im vergangenen Jahr erschien in deutscher Übersetzung der Roman "Eine Insel"/ "Nation" des englischen Fantasy-Schriftstellers Terry Pratchett. Der 450-Seiten-Schmöker beginnt mit einer maritimen Naturkatastrophe: Ein Tsunami hat während der Abwesenheit des jungen Kriegers Mau nicht nur das menschliche Leben auf seiner Insel ausgelöscht, sondern auch ein englisches Schiff auf dieses Eiland geworfen. Die einzig Überlebende ist ein Mädchen, genannt Daphne, aus den höheren englischen Adelskreisen. Mau und Daphne lernen in diesem historischen Roman ihr Schicksal gemeinsam zu meistern - wobei die beiden sich nicht nur schätzen lernen, sondern auch zunehmend Traditionen ihrer jeweiligen Herkunft infrage stellen.
    Mit Pratchett ist hier ein Erzähler am Werk, der alle Register des klassischen Abenteuerromans zu ziehen versteht und manchmal davon etwas zu viel des Guten liefert. Aber Pratchett hat immer ein Augenzwinkern parat, eine versteckte Anspielung auf andere Bücher oder eine komische Wendung, mit der er allzu heftigen mythologischen Schwulst aufzulösen versteht. Eine Robinsonade, die der kolonialen Überheblichkeit des Defoeschen Helden Paroli bietet und dazu noch Goldings nachtschwarzer Sicht auf die Zukunftsfähigkeit des Menschen widerspricht.
    Zum Schluss des Streifzuges durch den reichhaltigen Fundus der Inselbücher seit Defoes "Robinson Crusoe" noch ein Blick auf Romane, in denen das Insel-Motiv der Genesung oder Erlösung eine zentrale Rolle spielt.
    In Klaus Kordons Jugendroman "Die Reise zur Wunderinsel", erschienen im Jahre 1996, verkauft eine Familie ihr gesamtes Hab und Gut in einem qualmenden Industriegebiet, um ihrer todkranken Tochter einen letzten Wunsch zu erfüllen. Sie unternehmen eine Segeltour durch die Südsee. Auf einem Eiland, das sie "Eidechsen-Insel" nennen, verbessert sich Silkes Gesundheitszustand schlagartig, sodass die Familie letztendlich beschließt, sich auf der Insel Kreta eine neue Existenz aufzubauen.

    Klaus Kordon greift mit dieser Geschichte das Paradies-Motiv auf, das insbesondere nach der Entdeckung Tahitis in zahlreichen Südsee-Berichten und -erzählungen seinen festen Platz erhielt. Die Insel als glücklicher Ort, als eine Utopie vom gelungenen Leben. Hier in Kordons Buch ist sie der positive Gegenpol zur selbstzerstörerischen Industriegesellschaft.

    "Über den Inseln fielen Lichtstreifen aus den Wolken über den Blausee. Hinter dem Schöpfwerk war der Himmel rot. Auf dem Wasser lag eine Nebeldecke. Ansonsten gab es nur die Stille des Blausees (...) Ich weiß nicht mehr genau, was ich getan habe. Vielleicht bin ich über die Insel gerannt, habe geschrien und in den Nebel gestarrt. Gewartet und auf das Boot gelauscht, das leise knisternd mit dem Bug ins Schilf tauchte, Peers Stimme, sein glucksendes Lachen. Hätte irgendwo nur noch ein Boot gelegen. Ich wäre ihm hinterher gerudert."

    Tod und Erlösung - die Insel als reine Utopie, als Wunschvorstellung - das sind die zentralen Metaphern im Jugendroman "Peers Insel" aus dem Jahr 1994 des Niederländers Harm de Jonge, ein Autor, der bei uns kaum bekannt ist. Aber die Geschichte, die er geschrieben hat, ist anrührend, dabei völlig unpathetisch und erzählt in klarer, schnörkelloser Sprache. Die Geschichte handelt von zwei befreundeten Jungen, die sich in ihrer Fantasie eine wunderbare Insel ausmalen, eine Insel, auf der die Seelen eine Heimat finden. Sie nennen sie Ataland. Erzählt wird sie von Jonie aus der rückblickenden Perspektive. Peer, sein Freund, litt an einer unheilbaren Krankheit. Und eines Tages nahm er sich ein Boot, um Ataland zu erreichen - und damit seinem Leiden ein Ende zu setzen.

    Die Insel - als Utopia, als Erzählung vom besseren Zustand des Menschen. Als menschenferne Zuflucht des Weltmüden. Als Ort der Reifung - als Paradies oder eben auch als Hölle. Ob allein wie Robinson Crusoe oder in der Gruppe wie bei Golding oder Pratchett - die Insel ist für die menschliche Fantasie und damit für die Literatur ein unerschöpfliches geografisches Phänomen, das immer wieder beschrieben wird und doch nicht restlos zu erklären ist.