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Der Traum vom Bollywoodstar endet in der Gosse

Indien mit dem Taj Mahal, den goldenen Tempeln und alten Palästen ist für viele ein Sehnsuchtsziel. Doch es gibt auch noch ein anderes Indien, das von Armut geprägt ist. Und auch diese Seite des Landes kann man in Stadtführungen besichtigen. Zum Beispiel bei einem Spaziergang mit ehemaligen Straßenkindern.

Von Katharina Nickoleit | 24.06.2012
    "Bevor es losgeht, habe ich ein paar Anweisungen, bitte befolgen Sie die: Wir werden in sehr enge Gassen kommen und an Orte, die sehr voll sind. Bitte passen Sie gut auf Ihre Sachen auf und bitte bleiben Sie zusammen."

    Unwillkürlich drücken die Touristen ihre Taschen und Fotoapparate fester an sich, als Tariq ihnen zu Beginn der Stadtführung einige Verhaltensregeln mit auf den Weg gibt. Die Koreaner, Briten, Kanadier, Schweden und eine amerikanische Familie stehen dicht gedrängt in einer engen Gasse. Ihr Stadtführer Tariq ist 17 Jahre alt, ein gut aussehender, sehr gepflegter junger Mann in neuen Jeans und einem strahlend blauen T-Shirt auf dem"Salam Balak Trust City Walks" steht. Wenn man es nicht genau wüsste, man würde nicht glauben, dass er vor einigen Jahren ein Straßenkind war. Tarik wird die Besucher heute in seine eigene Vergangenheit führen: in das heruntergekommene Bahnhofsviertel Paharganj, zu den Plätzen, an denen viele der 200.000 Straßenkinder Delhis ums Überleben kämpfen. Bevor es richtig losgeht, hat Tariq an seine Gäste eine Frage.

    Tariq:
    "Können Sie sich vorstellen, warum Kinder von zu Hause wegrennen und auf der Straße leben?"
    Tourist:
    "Weil sie ihre Eltern verloren haben. Oder schlecht behandelt werden."
    Tariq:
    "Ja, das stimmt. Noch jemand?"
    Tourist:
    "Weil sie davon träumen, Bollywoodstars zu werden?"
    Tariq:
    "Der Hauptgrund sind Armut und Gewalt. Psychische Misshandlung, körperliche Misshandlung und sexueller Missbrauch. Und es gibt in den Dörfern auf dem Land viele Kinder, die sind ganz verrückt nach Bollywoodfilmen und wollen unbedingt Filmstars werden. Ich denke, wenn ich in die Stadt komme, dann werde ich berühmt. Aber hier hilft ihnen keiner der Stars und so landen sie auf der Straße."
    Beckett:
    "Bist Du auch weggelaufen oder bist Du verloren gegangen?"
    Will die achtjährige Beckett wissen, die jedes Wort wie ein Schwamm aufsaugt.
    Tariq:
    "Mein Vater hat viel getrunken meine Mutter oft geschlagen und sich ohne jeden Grund mit ihr gestritten. Eines Tages habe ich einen kleinen Fehler gemacht und mein Vater hat mich schlimm verprügelt. Da fragte ich mich, warum ich eigentlich bei meiner Familie bleiben soll. Ich beschloss weg zu laufen. Am nächsten Morgen sagte ich meinen Eltern, ich ginge zur Schule. Doch stattdessen nahm ich den Bus zum Bahnhof und kam mit dem Zug nach Delhi."

    Die Tour beginnt. Tariq führt seine Besuchergruppe in das Gewirr der engen Gassen. Manche sind so schmal, dass nur ein Mensch darin gehen kann. Überall liegt Müll herum, Stromkabel verlaufen kreuz und quer ein paar Zentimeter über den Köpfen der Passanten, die Luft ist staubig und an vielen Ecken stinkt es nach Urin. In einer Gasse riecht es etwas weniger streng. An der Mauer sind bunte Kacheln mit Bildern von hinduistischen Göttern angebracht: Lakshmi, Ganescha, Krishna und Parvati sind darauf zu sehen.

    Tariq:
    "Ich spiele jetzt ein Quiz mit Ihnen. Warum sind hier diese Bilder auf der Wand? Keiner weiß es? Na gut, ich gebe einen Hinweis. Es ist ein Schutz. Wenn man hier hinschreiben würde, pinkeln kostet 500 Rupien Strafe, dann würde das keiner beachten. Aber an das Bild eines Gottes würde niemand pinkeln, Indien ist ein sehr religiöses Land, in dem die Götter respektiert werden."

    Weiter geht es, immer tiefer hinein in das Gassenlabyrinth und bald wüsste keiner der Besucher mehr, wie er alleine herausfinden sollte.

    Aus manchen Fenstern klingt Musik, Katzen räkeln sich auf den Treppen und in den Fenstern hängt Wäsche. Es sind diese Gassen mit ihren Details aus dem täglichen Leben der einfachen Leute Delhis, die die Stadtführung für Adele Ruppe aus den USA so interessant machen:
    Adele:

    "Ich finde es großartig so die Ecken der Stadt kennenzulernen, in die man alleine niemals gehen würde. Aber mit einem Führer und in einer Gruppe ist es kein Problem und so sieht man endlich mal, wie eigentlich der größte Teil der Menschen in Delhi lebt."

    Vor einem kleinen Laden hält Tarik an, ein unverputzter Verschlag vor dem ein dicker Mann in einem dreckigen Unterhemd sitzt. In einer Ecke sind Altpapier und Kartons gestapelt, in einer anderen türmen sich Glasflaschen und in der Mitte liegt ein Haufen Metallschrott.
    Tariq:
    "Das hier ist ein Recyclingladen. Die Straßenkinder sammeln Flaschen, Metall und andere Dinge im Müll und verkaufen sie hier zur Wiederverwertung. Das ist eine Arbeit, die sehr viele Kinder machen. Ich habe das auch gemacht, als ich auf der Straße lebte. Ungefähr zwei Euro habe ich damit am Tag verdient."

    Mit zwei Euro am Tag kann man in Delhi ganz gut überleben, das Essen an den kleinen Ständen kostet nicht viel.

    Doch an Nahrung zu kommen, sei das kleinste Problem der Straßenkinder meint Tarik und zeigt auf einen weißen Tempel mit goldenen Kuppeln.
    Tariq:
    "In Indien gibt es viele Sikhtempel. Sikhs, das sind die mit dem Turban. In diesen Tempeln wird jedem Menschen etwas zu Essen gegeben, egal ob er arm ist oder reich. Jeder kann dorthin gehen und essen."

    Einen Schlafplatz zu finden ist schon schwieriger. Tarik führt die Gruppe zum Bahnhof.

    Auf dem Bahnhofsvorplatz herrscht ein unglaubliches, buntes Gedrängel. Frauen in leuchtenden Saris folgen Gepäckträgern, die Kofferstapel auf dem Kopf zu den Zügen balancieren. Männer in weißen Gewändern stehen am Fahrkartenschalter. Und überall sieht man Menschen auf dem Boden sitzen. Manche warten auf ihren Zug. Andere leben hier auf den Bahnsteigen. Ganze Familien hocken zusammen um einen Gaskocher, auf dem sie Essen machen. In diesem Gewühl kam Tarik damals vor als 11-Jähriger nach 16-stündiger Zugfahrt an. Und hier fand er auch Unterschlupf.

    "Wer von Euch war schon mal auf dem Bahnhof? Da gibt es die Bahnsteige. Die Bahnsteige werden durch einen Fußgängerüberweg verbunden. Darunter ist ein Hohlraum und in dem schlafen die Straßenkinder. Denn dort kann sie die Polizei nicht entdecken. Darin sind aber auch viele Kabel. Und manchmal kämpfen die Straßenkinder miteinander und berühren dabei eines der Kabel. Und dann sind sie sofort tot. Ich habe das selber gesehen, als ich dort schlief."

    Immer dann, wenn Tariq von seinen persönlichen Erlebnissen erzählt, schaut er seine Zuhörer nicht mehr wie sonst an, sondern richtet seinen Blick in die Ferne. Sich an die schlimmen Erfahrungen zu erinnern, das fällt ihm sichtlich schwer. Was macht ein 11-Jähriger, der ganz alleine in einer Millionenstadt überleben muss? Eine Weile arbeitete Tariq in einem Teeladen und durfte auf dem Boden schlafen. Oder er schlief doch wieder im Bahnhof. Ein Jahr lang ging das so. Schließlich hörte Tariq von dem Straßenkinderprojekt "Salam Balak Trust". Die kleine Hilfsorganisation gibt mehr als 1000 Straßenkindern ein Zuhause. Zum Schluss der Tour führt Tarik seine Besucher in eines der fünf Kinderheime des Salaam Balak Trusts. Die Räume sind klein und karg. An der Wand lehnen Matratzen, die nachts zu einem großen Lager ausgebreitet werden. So gibt es tagsüber etwas mehr Platz. An einer Wand hängen Zettel und Listen.

    Tariq:
    "Hier steht der Tagesablauf und die Hausregeln denen die Kinder folgen. Und hier ist der Speiseplan, auf dem steht, was es zu essen gibt. Und jetzt werden wir die Kinder treffen."

    60 Kinder strahlen die Besucher an und begrüßen sie, lachen und winken in die Kameras. Einer der Jungs singt ein Lied.

    All diese Kinder wurden wie einst Tariq von der Straße geholt und bekommen hier Fürsorge und vor allem Bildung. Die Straßenführungen sind Teil des Ausbildungsprogramms - die Jungs sollen so ihr Englisch verbessern. Die Idee hatte dazu hatte einer der freiwilligen Helfer, die von überall aus der Welt kommen, um die Hilfsorganisation tatkräftig zu unterstützen.
    Tariq:
    "Ich mache seit letztem Jahr bei den Stadtführungen mit, denn ich wollte mein Englisch verbessern und mehr Selbstvertrauen bekommen. Vorher konnte ich kaum Englisch sprechen, längst nicht so wie jetzt. Und ich war sehr schüchtern und traute mich kaum, mit jemandem anzusprechen. Jetzt glaube ich, ich kann überall sprechen, und wenn es vor dem Premierminister sein sollte."

    Traiq ist inzwischen 17 Jahre alt. Bald wird er das Kinderheim verlassen müssen. Vielleicht macht er dann etwas mit Tourismus. Aber erst mal wird er die 12. Klasse abschließen. Seit 2005 werden die Stadtführungen in das Revier der Straßenkinder angeboten und das Programm ist ein voller Erfolg. Nicht nur, weil die Jungs Englisch lernen, sondern auch weil Monat für Monat über hundert Menschen für die Führungen bezahlen - die City Walks machen inzwischen einen erheblichen Teil der Einnahmen der Hilfsorganisation aus. Vor allem aber entsteht durch die persönlichen Geschichten der Jungs das Verständnis und Respekt für die Straßenkinder. Die 13-jährieg Madison jedenfalls ist tief beeindruckt.
    Madison:

    "Ich finde es unglaublich, dass die Kinder es schaffen, sich durchzuschlagen. Das muss unglaublich hart sein. Ich könnte das nicht."

    So oder ähnlich denken alle Touristen, die heute bei Tariqs Tour dabei waren. Uns so fallen die Spenden für das Hilfsprojekt, das Trinkgeld für die Führung und der Applaus großzügig aus.