Archiv


Der Traum von alter Größe

Anfang Dezember wählt Russland ein neues Parlament, im März dann einen neuen Präsidenten. Auch nach den Wahlen dürfte Russland den vom derzeitigen Präsidenten Vladimir Putin vorgeschriebenen Weg weitergehen: Die Zeit des Chaos ist vorbei, Russland will zurück an die Weltspitze. Russlands Jugendliche sind dabei fest eingebunden.

Von Gesine Dornblüth |
    Ein Schüler in der russischen Provinz über die Stärke seines Landes:

    "Wenn ich Nachrichten gucke und sehe, welche neuen militärischen Technologien entwickelt werden, neue Panzer und Flugzeuge, dann bin ich richtig stolz auf Russland."

    ... und ein Aktivist einer oppositionellen Jugendorganisation über die Kehrseite dieser Entwicklungen:

    "Bis vor einem Jahr hatten wir ein Büro, aber der Vermieter wurde gezwungen, uns rauszuschmeißen. Ihm wurde gesagt, wir seien Jugendliche, die eine falsche Position einnehmen. Das ist in unserem Land so: Wer nicht für Putin ist, hat unrecht. "

    Gesichter Europas: Der Traum von alter Größe - Russland und seine Jugend. Eine Sendung von Gesine Dornblüth

    Reportage 1. Generation Putin. Reportage aus dem Moskauer Hauptquartier der kremltreuen Jugendorganisation "Naschi".

    Im Moskauer Hauptquartier der Putin-Jugend "Naschi" herrscht auch spät abends noch reger Betrieb. Es ist eine ehemalige Grundschule. Zwei Studentinnen sitzen auf Hockern auf dem Flur und telefonieren Listen ab. Wieder einmal steht eine Massenaktion an. Julia ist seit Mai bei "Naschi".

    "Die Liste ist ganz schön lang. Ich bin an meinen freien Tagen immer hier. Mir gefällt es hier. Hier kann ich etwas Nützliches tun. Wir sind viele, und das eint uns."

    Die Jugendbewegung "Naschi", auf Deutsch "Die Unsrigen", wurde vor zweieinhalb Jahren vom Kreml gegründet. Wenn Russen vom "Kreml" reden, meinen sie die "Macht" um den Präsidenten. Nach eigenen Angaben zählen die "Naschi" russlandweit rund 10.000 Aktive. Die Wände hängen voller Schnappschüsse von fröhlichen jungen Menschen. Auf den roten Treppenstufen ist "Vorwärts Russland" und "Vorwärts, Generation Putin" zu lesen.

    Besuchern stellen die "Naschi" eine Pressebetreuerin zur Seite. Irina Anisimova ist 21 und seit Gründung der "Naschi" mit dabei. Mit ernster Mine führt sie durch die Bildergalerie, erläutert die Anliegen der "Unsrigen".

    "Wir müssen vor der Parlamentswahl im Dezember und vor der Präsidentenwahl im Frühjahr auf den Straßen und Plätzen die Unabhängigkeit Russlands verteidigen. Denn es besteht die Gefahr bunter Revolutionen nach dem Muster der Ukraine oder Georgiens, und wir müssen dafür sorgen, das Russland einig und unbesiegbar bleibt."

    Schnell haben sich zwei, drei Zuhörer um Irina versammelt. Sie nicken anerkennend. Es sind immer die gleichen Textbausteine, die die "Unsrigen" von sich geben. Von ihren Kritikern werden sie auch "Naschisten" genannt - in Anlehnung an die Nazis. Für Irina ist das ein Missverständnis, die anderen seien die Faschisten. Der Begriff "Faschist" hat Konjunktur in Russland: Es ist ein Schimpfwort, mit dem sich alle möglichen politischen Gruppen gegenseitig diffamieren. Irina:

    "Kasparov zum Beispiel will ein anderes Russland, ein liberales Russland, damit Russland wieder seine Rohstoffe an Europa verschenkt. Das ist Faschismus: das Land für Kopeken zu verkaufen."

    Garri Kasparov ist der ehemalige Schachweltmeister, der zurzeit die russische Opposition anführt. Die "Naschi" sind für Putin. Putin ist gut für Russland, wer gegen Putin ist, ist gegen Russland - und damit Faschist, so einfach ist das für Irina und ihre Mitstreiter. Damit das hinhaut, werden schon mal die Tatsachen verdreht. An einer Pinnwand hängen die Broschüren der "Naschi". Sie heißen "Freiwillige Jugendwehr", "Ideologie" und "Russland, unser Megaprojekt". Sie stecken voller Lügen.

    Eine geht so: Das Nachbarland Georgien sei eine "amerikanische Militärbasis". Belegt wird das mit dem Foto eines deutschen Militärfahrzeugs im Kosovo. Das Ypsilon auf dem Nummernschild, die deutsche Fahne und die Aufschrift "KFOR", "Kosovo-Force", sind deutlich zu erkennen. Die Bildunterschrift heißt: "Georgien 2006".

    Irina wirft sich ihren langen Mantel über die Schultern und geht zur Tür.

    "Naschi ist eine moralisch sehr anspruchsvolle Bewegung. Bei uns herrscht absolutes Alkoholverbot. Die Kommissare und Mitglieder trinken nicht. Jeder Mensch muss getreu seiner Moral in seiner nationalen Kultur leben."

    Auf dem Hof sind Camping- und Armeezelte aufgebaut. Herbstlaub bedeckt den Boden.

    "Hier in den Zelten bereiten wir unsere Aktionen vor. Junge Leute sitzen ja nicht so gern im Büro."

    Eigentlich studiert Irina in der Kleinstadt Orjol Personalwesen.

    "Ich fahre immer mal wieder für zwei, drei Tage nach Hause, nach Orjol, und spreche dort mit meinen Dozenten an der Universität. Meine Schule ist eher die Bewegung. Denn ich engagiere mich in der Abteilung "Naschi Profi", das ist eine Mini-Personalagentur. Meine Universitäts-Dozenten schätzen mich daher als Praktiker. Die Bewegung "Naschi" ist wie eine Familie für mich, ich kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Hier bin ich stellvertretender Leiter, in Orjol bin ich ein einfacher Student."

    In einem der Zelte sitzen vier junge Leute auf Campinghockern und beraten, wie sie ihre Kommilitonen motivieren können, an den Aktionen vor der Parlamentswahl teilzunehmen. Ende November und Anfang Dezember sollen Tag für Tag je 10.000 junge Leute die zentralen Plätze in Moskau besetzen - und oppositionellen Demonstranten damit einfach den Raum nehmen.

    Ivan Kosov hat blonde Locken und blaue Augen. Er gibt offen zu, dass die meisten Leute vor allem der Karriere wegen mitmachen. Denn die "Naschi" vermitteln Praktika und Jobs für ihre Mitglieder - allerdings nur für solche, die ideologische Schulungen absolviert haben. Eine "neue Generation" "national orientierter Manager" ist das Ziel. Der Kreml arbeitet an seinem Nachwuchs. Der Gründer und ehemalige Chef der "Naschi", Vasilij Jakemenko, wurde im Herbst zum Leiter des staatlichen Jugendausschusses ernannt. Er ist im Rang eines Ministers. Ivans Vorbild.

    "Ich bin davon überzeugt, einen guten Job zu finden. Weil ich hier sehr viel Erfahrung sammle. Ich lerne viele Leute kennen und reife hier zu einer Persönlichkeit. Ich gestalte hier mein Leben. Und das bringt mir die Bewegung "Naschi" bei."

    Katja Romanowa nickt eifrig. Die Studentin trägt das Abzeichen einer "Kommissarin" an ihrem Blusenkragen. So werden die ranghöheren Mitglieder der "Naschi" genannt. Es ist ein weißes Kreuz auf rotem Grund.

    "Rot ist die Farbe unserer ruhmreichen Vergangenheit, und Weiß die Farbe unserer hellen Zukunft. Das ist hier vereint. Ein Kommissar trägt das immer mit großem Stolz."

    Die Vergangenheit war nicht ruhmreich. Die Menschenrechtsorganisation "Memorial" hat russische Jugendliche aufgefordert, sich selbständig mit der Geschichte ihres Landes auseinanderzusetzen. Achttausend 15- bis 17-Jährige aus dem ganzen Land schickten in einem Schülerwettbewerb Aufsätze ein. Daraus entstand das Buch "Russlands Gedächtnis. Jugendliche entdecken vergessene Lebensgeschichten."
    Eine der jungen Autorinnen ist Swetlana Bregei aus der Republik Komi im Norden Russlands. Etwa die Hälfte der Städte in der Komi-Republik wurde von Verbannten gegründet. Darunter waren auch Swetlana Bregeis Urgroßväter: Bauern aus dem Süden Russlands, die im Zuge der Zwangskollektivierung enteignet und wie Leibeigene in den Norden geschickt wurden.


    Im Sommer 1931 bewegten sich zwei Züge, bestehend aus je einem Dutzend Güterwaggons, die voll gestopft waren mit Deportierten aus dem Kreis Woronesch und aus dem Wolgagebiet, langsam in Richtung Norden. Unter den Passagieren dieser schrecklichen Züge waren auch meine Vorfahren - die Familien der Urgroßväter Iwan Ignatowitsch Deikin und Semjon Akimowitsch Barantschikow.
    In den Waggons gab es weder Fenster noch Bänke. Es stank nach Urin, nach verfaulenden Lebensmitteln, nach feuchter Kleidung. Die Bündel und Säcke mit Zwieback, Mehl, Äxten und Beilen lagen in Haufen zwischen den Menschen. In der einen Ecke weinten Frauen leise vor sich hin, in der anderen wurde gehustet, in der dritten starb ein Baby. Zur gleichen Zeit holten sie die aus den Waggons, die an Hunger, Durst oder vor Kummer gestorben waren. Die Leichen wurden neben den Waggons eingegraben.


    Reportage 2. Stolz auf Russlands militärische Macht: Gedanken eines russischen Dorfjugendlichen

    Mittwoch Nachmittag in Wischnjovka - einem gottverlassenen Nest in der russischen Provinz, etwa 500 Kilometer südwestlich von Moskau. Die Straßen sind menschenleer. Nur ein altes Ehepaar sitzt vor einem Haus auf einer Bank. Bis zur Gebietshauptstadt Woronesch fährt der Bus eine Stunde. Ziegen grasen am Straßenrand, ab und zu auch eine Kuh. Das Birkenlaub leuchtet goldgelb in der Herbstsonne.

    Die wenigen Jugendlichen von Wischnjovka treffen sich in der Schule - weil es keinen anderen Treffpunkt gibt. Auch Jegor. Er ist 17 Jahre alt, ein schmächtiger Junge. Er wird im nächsten Frühjahr mit der Schule fertig. Er ist einer der Klassenbesten. Jegor ist unterwegs zum Fußballtraining.

    "Wir haben hier nur wenige Möglichkeiten. Und auch der Sport lässt sehr zu wünschen übrig. Wir haben keine Trainer und überhaupt keine Geräte. Nach der Schule halte ich gewöhnlich Mittagsschlaf. Dann mache ich meine Hausaufgaben. Und wenn Training ist, gehe ich zum Sport. Abends spaziere ich vielleicht mal durchs Dorf, wenn ich Lust habe. Sonst gucke ich Nachrichten oder lese Geschichtsbücher.
    In der Schule nehmen wir gerade die Februarrevolution von 1917 durch. Das war eine interessante Zeit - obwohl sie ja für Russland nicht besonders gut ausfiel: Mit dem Krieg damals und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten."

    Umfragen zufolge, wissen russische Jugendliche immer weniger über die negativen Seiten des Sowjetregimes, über die Massenverhaftungen unter Stalin etwa. Präsident Putin indessen bezeichnet den Untergang der Sowjetunion als die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Er hat einen Leitfaden für Geschichtslehrer schreiben lassen, der Stalin praktisch rehabilitiert.

    "Ich mag Stalins Politik nicht. Die Disziplin war damals vielleicht groß. Aber die Menschen haben in Angst gelebt. Man durfte ja nicht mal schlecht über die Sowjetmacht denken.
    Mir gefällt, wie Putin regiert. Die, die vor ihm waren, Chruschtschow und Jelzin, haben Russland nicht genützt. Chruschtschow hat Russland sogar geschadet, und Jelzin hat alles beim Alten belassen. Putin dagegen hat angefangen, die Wirtschaft voranzubringen. Es wäre schön, wenn er noch eine dritte Amtszeit hätte.
    Die Regierung hat versprochen, Straßen zu bauen. Das finde ich gut, denn unsere Straßen sind ziemlich schlecht."

    In Wischnjovka ist von dem Aufschwung allerdings noch nicht viel zu spüren. Wie in den Krisenzeiten der 90er Jahre, fallen noch immer regelmäßig Strom und Gas aus. Doch statt über die sozialen Probleme, berichtet das staatlich gelenkte Fernsehen vor allem über die neue Stärke Russlands und dessen angebliche Bedrohung durch das Ausland. Das zeigt Wirkung.

    "Militärisch sind wir Weltspitze. Wenn ich Nachrichten gucke und sehe, welche neuen militärischen Technologien entwickelt werden, neue Panzer und Flugzeuge, dann bin ich richtig stolz auf Russland.
    Militär ist wichtig, denn wir müssen uns vor dem Raketenabwehrsystem schützen, das uns von allen Seiten umzingelt. Das geht ja alles gegen Russland. Das wissen doch alle: Das ist ein Angriff der Amerikaner auf Russland.
    Sie schauen groß, aber ich gucke eben gern Nachrichten, und da sehe ich ja, was in der Welt vor sich geht."

    Anderes als die gefilterten Fernsehnachrichten konsumiert Jegor selten. In diesen Sendungen wird weder über die Gewaltexzesse in der russischen Armee, die berüchtigte "Dedovschina", noch über illegale Waffenverkäufe, noch über die Verbrechen der russischen Armee etwa in Tschetschenien berichtet.

    Jetzt muss Jegor sich aber beeilen. Das Training hat schon begonnen. Sechs Jungen kicken einen Ball über den gelben Bretterboden. Die Halle ist winzig, es gibt nur ein Fußballtor, als zweites dient die Gerätekammer. Die Lehrerin lässt die Spieler antreten. Jegor lächelt.

    "Die Jugendlichen gehen weg von hier. Besonders aus unserem Dorf. Vor zwei Jahren waren wir hier noch richtig viele. Aber jetzt wandern die Leute massenhaft ab. Na ja, wir haben uns daran gewöhnt. Wir rücken einfach näher zusammen."

    Zwei Monate brauchten die Vorfahren der Schülerin Swetlana Bregei auf dem Weg aus dem Gebiet Woronesch in die Verbannung. Sie wurden einfach am Ufer eines Flusses in der Republik Komi ausgesetzt. Dort gründeten sie die Siedlung "Soi-Ju".

    Im Winter 1931/32 lebten sie in Erdhütten, mehrere Familien gemeinsam. Eine Erdhütte, das ist ein Loch mit Boden und Wänden aus Erde und aus ungehobelten Stämmen, aus denen sie Trennwände und das Dach herstellten. Die Familie meines Urgroßvater Barantschikow lebte in einer Erdhütte mit zwei anderen Familien. Insgesamt waren sie zwölf Menschen. Aus selbst gemachten Ziegeln bauten sie kleine Öfen. Da Semjon Akimowitsch lesen und schreiben konnte, nahm ihn der Kommandant sofort als Schreiber zu sich. Die Urgroßmutter Anna Semjonowna aber arbeitete vom Herbst an als Holzfällerin.
    Die Leute wussten nicht einmal, auf welcher Seite sie schlagen mussten, damit die Bäume dorthin fielen, wo sie sollten. Wie konnte einer, der gestern noch in der Steppe Getreide angebaut hatte, der noch nie bis zur Taille im Schnee gestanden hatte, die Norm erfüllen?


    Reportage 3. David und Goliath: Vorbereitungen für zwei Kundgebungen in der russischen Provinzstadt Woronesch

    Abends in Woronesch. Die Millionenstadt liegt im europäischen Teil Russlands, nahe der ukrainischen Grenze, und doch ist hier tiefste Provinz. Die Straßen heißen noch nach Lenin, Plechanov oder den Werktätigen. Täglich wird für mehrere Stunden das Wasser abgestellt.

    In einem Büro sitzen sieben junge Leute auf Stühlen in einem Kreis. Die meisten tragen Jeans und Turnschuhe. Sie sind zwischen 18 und 25 Jahren alt.
    In der Mitte steht Natalja Zvjagina, eine schlanke, große Frau, mit streng im Nacken zurückgebundenem Haar. Sie will wissen, wer am nächsten Tag die Plakate halten wird. Nach langem Schweigen meldet sich der einzige Mann im Raum.

    Die jungen Leute gehören zu "Golos", auf Deutsch: "Stimme". "Golos" setzt sich russlandweit für freie und transparente Wahlen ein. Finanziert wird die Organisation unter anderem von der EU-Kommission. In Woronesch wird "Golos" vor allem von jungen Freiwilligen getragen. Vor der Parlamentswahl im Dezember wollen sie mit einer Straßenaktion auf Verstöße gegen das Wahlgesetz hinweisen, erläutert Natalja Zvjagina.

    "Wir wollen die Bürger morgen daran erinnern, dass es ein Wahlgesetz gibt, und dass sich an dieses Wahlgesetz alle halten müssen - egal, wie groß die Partei ist und wie viele Beamte ihr angehören.

    In den letzten Jahren hat sich in Russland die Meinung verfestigt, dass Wahlen komplett unehrlich sind. Alle haben sich daran gewöhnt, dass der Gouverneur eine bestimmte Partei unterstützt - nämlich die Kreml-Partei, oder dass der Bürgermeister erklärt, dass ihm dieser Kandidat am besten gefällt, ein anderer aber gar nicht; oder dass in den städtischen Bussen die Zeitungen der Regierungspartei ausliegen. Alle empfinden das als natürlich, niemand sieht darin einen Verstoß."

    Weiter geht es mit der Aufgabenverteilung. Die jungen Leute wollen die Passanten zum Spaß bestechen - so wie vor kurzem die Regierungspartei, die an Rentner Zitronen verschenkt hat. Anton meldet sich.

    "Dazu brauchen wir Flugblätter, Pappflaschen, Pappzitronen und Pappzitronen."

    Es müssten noch Leute mobilisiert werden, mahnt Natalja. Das ist ein Problem. Sie hätten niemanden, den sie anrufen könnten, sagen die meisten.

    "Wir werden nur sehr wenige sein. Höchstens 15. Das ist keine Massenaktion. Wir stellen uns an eine Ecke, an der viele Leute vorbeigehen und uns sehen. Und wir wollen vor allem, dass die Medien über Verstöße gegen das Wahlgesetz berichten. Unsere Aktion wäre ein Anlass."

    Schließlich sind alle Aufgaben verteilt. Natalja bittet noch einmal um Aufmerksamkeit.

    Jeder solle unbedingt seinen Pass mitbringen. Und wenn die Miliz Schwierigkeiten mache, dann werde sie das klären.

    "Wir bewegen uns voll im Rahmen des Gesetzes. Die Stadtverwaltung hat versprochen, uns nicht zu behindern. Aber wir sind trotzdem etwas beunruhigt, denn morgen wird es eine Massenkundgebung kremltreuer Organisationen zur Unterstützung des Präsidenten geben, und wir haben etwas Sorge, dass aus deren Reihen jemand auf uns losgeht."

    Nicht weit entfernt sägen zwei junge Männer Latten für Transparente zurecht. Zwei Mädchen überprüfen Telefonlisten: Mehrere Seiten Computerausdrucke, eng beschrieben. Hier bereitet sich die Putin-Jugend "Naschi" auf ihren Auftritt am kommenden Tag vor. Die "Unsrigen" sollen die Massenkundgebung zugunsten Putins eröffnen. In Provinzstädten wie Woronesch rekrutieren die Putin treuen Jugendlichen die meisten Mitglieder.

    Der Chef des Planungsstabs, Aleksandr Kovaljov, steigt über Teile blauer Plastiktische, die sie noch zusammenbauen müssen. Aleksandr stellt sich als "Massovik" vor: als derjenige, der für die Massen zuständig ist.

    "Wir haben jetzt alle Plakatentwürfe fertig, aber wir müssen noch alle Listen abtelefonieren und unsere Aktivisten zusammentrommeln.
    Ich habe in den letzten anderthalb Jahren bestimmt schon fünfzig Veranstaltungen organisiert. Wir wissen mittlerweile, wie man solche Veranstaltungen auf die Beine stellt. Irgendwie ist die Luft raus. Es ist nicht mehr neu. Und das macht es ein bisschen langweilig."

    Oberorganisator Aleksandr, selbst noch Student, rechnet mit 500 bis 600 Teilnehmern am nächsten Tag. Die "Naschi" wollen ihre Arbeitsgruppen vorstellen und damit neue Mitglieder gewinnen. Direkt im Anschluss werden die Gewerkschaften für Putin demonstrieren - praktisch für die Putinjugend.

    "Unsere Aktion steht unter dem Motto: Sei in der Mannschaft des Präsidenten und trage Verantwortung für das Land. Wir laden die jungen Leute ein, die Probleme zu lösen, die es im Land gibt. Die Veranstaltung wäre eigentlich ziemlich teuer.
    Aber die Bühne haben wir kostenlos von der Stadtverwaltung bekommen. Für den Ton müssen wir auch nichts bezahlen, und die Banner werden gesponsert. Eigentlich haben wir nur noch Tische und etwas Baumaterial gekauft, und das ist dann nicht mehr viel."

    Reportage 4. High Noon in Woronesch. Jugendliche demonstrieren für faire Wahlen - und für Putin

    Der nächste Tag. Die Sonne scheint. Die Menschen in Woronesch genießen das ungewöhnlich warme Herbstwetter. Viele sind zu Fuß unterwegs. Ein idealer Tag für Straßenaktionen.

    Pünktlich um eins treffen die Aktivisten von "Golos" am Leninplatz ein. Als erstes befestigen sie ihre Pappzitronen an einem Verkehrsschild. Natalja reckt sich ein wenig und klebt auch noch eine Flasche Sekt aus Karton darüber und einen gemalten Gutschein: "Besuch im Restaurant". Nicht weit weg steht bereits die Bühne für die spätere Großveranstaltung. Auf einer überdimensionalen russischen Fahne steht: "Die Bürger von Woronesch sind für Putin".

    Die Leute von "Golos" rollen ihre selbst gemalten Plakate auseinander: "Hast du eine Zitrone angenommen, hast du gegen das Gesetz verstoßen" steht darauf und: "Du bist bestochen worden? Ruf an!" Es folgt eine Telefonnummer. Irina Klimova steht mit einer Plastiktüte voller echter Zitronen an der Fußgängerampel und wartet auf den ersten Schwung Passanten.

    "Eine der Parteien in Woronesch hat an Rentner Flugblätter und Zitronen verteilt. Deshalb bieten wir den Passanten jetzt auch Zitronen an und erklären ihnen anschließend, dass das ein Bestechungsversuch sein kann. Und wir geben ihnen dann noch eine Liste, auf der steht, was noch alles Stimmenkauf sein kann."

    Die Fußgängerampel wird grün. Während Irina Zitronen verteilt, verschenkt ein anderer Aktivist Blumen. Der Plan der jungen Leute, die Diskussion anzustoßen, scheint aufzugehen. Zwei Kamerateams sind da, ein Radioreporter und mehrere Zeitungsjournalisten. Viele Passanten bleiben stehen, mustern interessiert die bunten Plakate. Nur zwei gebeugte alte Frauen stehen sichtlich verwirrt herum. Die eine kaut an einem trockenen Brötchen, die andere schleppt eine Tasche mit Parteizeitungen der Kommunisten. Sie kommen gerade von ihrer eigenen Kundgebung. Auch die Kommunisten verfügen nicht über Massen. Sie haben zu viert am Fuße Lenins demonstriert. Sie sollten die Wahlwerbung der Regierungspartei gefälligst für sich behalten! Putin solle zurücktreten!

    Die jungen Leute von Golos haben Mühe, ihnen klar zu machen, dass sie nicht von der Putin-Partei sind, und auch nicht von irgendeiner anderen Partei - sondern, dass sie einfach nur für faire Wahlen auf die Straße gehen.

    In dem Moment fährt der Propagandawagen der Kommunisten vorbei: ein militärgrüner Minibus mit aufmontierten Lautsprechern. Die beiden Rentnerinnen sind außer sich vor Freude.

    Die Flugblätter sind schneller verteilt, als erwartet. Schon nach einer knappen Stunde beenden die jungen Leute die Aktion. Weder die Miliz, noch die Aktivisten von "Naschi" haben gestört. Natalja Zvjagina, die Organisatorin, blinzelt zufrieden in die Sonne.

    "Mir scheint, die Leute interessieren sich für Verstöße gegen das Wahlgesetz. Auf uns sind viele Passanten zugekommen und haben gesagt: Wie gut, dass ihr das macht. Für mich ist das eine Überraschung. Ich bin schon gar nicht mehr daran gewöhnt, dass die Leute positiv reagieren, wenn über Probleme gesprochen wird."

    Pünktlich um vier beginnt die zweite Aktion. Vor der Bühne stehen die Jugendlichen von "Naschi". Sie schwenken ihre roten Fahnen mit den weißen Kreuzen. Aleksandr Kovaljov, der Planungschef, steht in roter Jacke und mit roter Schirmmütze auf der Bühne und ruft die Gruppenführer herauf. Im Gleichschritt treten die Jungfunktionäre an die Mikrophone.

    "Ich bin Tatjana. Ich leite die junge Freiwilligengarde! Wir werden in der Stadt für Ordnung sorgen!"

    Ich bin Nikita. Ich leite die demographische Abteilung! Ich stelle meine Mannschaft so zusammen, dass es modern wird, drei Kinder zu haben!

    "Ich bin Irina, Leiter der Kulturabteilung. Ich werde dafür sorgen, dass die russische Kultur zum Maßstab für die ganze Welt wird!"

    "Ich bin Michail. Leiter der Abteilung Patriotismus. Wir lassen nicht zu, dass Russland seine Vergangenheit vergisst!

    Hallo Jugend! Ich heiße Irina Kreschova. Ich baue eine Schule für russischen Journalismus auf. Wir machen unsere eigene Starfabrik!"

    Die meisten der jugendlichen Zuschauer bleiben eher teilnahmslos. Das unabhängige Levada-Institut hat in Umfragen herausgefunden, dass zwei Drittel der russischen Jugendlichen noch nie etwas von den "Unsrigen" gehört haben, und dass die übrigen der Bewegung mehrheitlich gleichgültig gegenüberstehen. Das Gros der russischen Jugendlichen interessiert sich nicht für Politik. Viele der jungen Leute in Woronesch sind unfreiwillig da. Die Medizinstudentin Tanja steht mit zwei Freundinnen etwas unmotiviert herum.

    "In der Medizinischen Hochschule haben sie uns allen gesagt: Geht auf die Kundgebung."

    Viele Mädchen haben sich Bänder in den russischen Nationalfarben an die Stiefelschnallen geknotet. Einige wedeln mit Winkelementen. Hier und da stehen Menschen mit Mobiltelefonen und Listen in der Menge. Andere gehen herum und verteilen weiß-blau-rote Jubelutensilien. Die ersten Plakate recken sich gen Himmel. "Für Putin" steht darauf oder "Putins Plan ist Russlands Sieg". In diesem Moment ergreift der Organisator, Aleksandr, wieder das Mikrophon und zeigt auf die Gruppenführer.

    "Liebe Freunde. Dies hier sind die Leute, die versuchen, die Probleme in Woronesch zu lösen, und ihre selbst gesteckten Ziele zu erreichen. Wir haben viele Probleme. Aber in dem Moment, in dem ihr euch sagt, dass ihr vor diesen Problemen nicht die Augen verschließt, und in dem ihr zu diesen Leuten kommt und helfen wollt, in diesem Moment werdet ihr Teil der Mannschaft des Präsidenten. Applaus für diese Leute, die unsere Projekte leiten! "

    Die Massenkundgebung für Putin beginnt früher als geplant. "Naschi", die "Unsrigen", müssen von der Bühne. Aleksandr ist etwas unzufrieden.

    "Die Aktion verlief sehr dynamisch, aber zu schnell. Wer zufällig hier war, wird kaum etwas verstanden haben. Aber es war eine Chance für verschiedene Leute, sich vorzustellen, und allein dafür hat es sich gelohnt. Für uns und für Woronesch."

    Ein Jahr nach ihrer Ankunft aus dem südwestrussischen Woronesch konnten ihre verbannten Vorfahren in der Republik Komi ihre Erdlöcher verlassen und in selbstgebaute Baracken umziehen. Das schreibt die Schülerin Swetlana Bregei in dem Band "Russlands Gedächtnis".

    In der ersten Baracke, die fertig wurde, richteten sie die Schule ein. Aus Wologda schickte man einen Lehrer, sein Name war Kapustin. Die Kinder liebten ihn sehr. In der Schule gab es drei Klassenzimmer. In der ersten Schicht lernten die erste und die dritte Klasse, in der zweiten die zweite und die vierte Klasse. Sie lernten schreiben, lesen und singen. In den folgenden Jahren bereiteten sie Auftritte zu den Revolutionsfeiertagen vor. Sie sangen Lieder über "die glückliche Kindheit".
    Die Schule erzog die Kinder der Deportierten zu der Sowjetmacht treu ergebenen Erbauern eines neuen Lebens. Wie reagierten die Eltern darauf? Die Eltern begriffen, dass die Kinder unter dem Regime leben würden, und überließen ihrem Selbsterhaltungstrieb folgend die Erziehung der Schule.


    Reportage 5. Enge Jeans und Schnulzenpop: Mit Moskauer Jugendlichen im Studio von MTV

    Auf dem Flur vor dem Fernsehstudio drängelt sich eine Horde junger Mädchen. Immer freitags zeichnet MTV Russia in Moskau seine Show "Polnyj Kontakt" auf. Einige Mädchen haben Blumen dabei, andere Plüschtiere, wieder andere selbst gemalte Plakate. Olja ist mit 14 eine der jüngsten.

    "Wir sind Fans von Vlad Topalov. Auf meinem Plakat steht: "Wir sind immer bei dir." Wir müssen Vlad so gut wie möglich unterstützen. Damit er spürt, dass wir hinter ihm stehen. Und natürlich müssen wir später für ihn stimmen, damit er gewinnt. "

    Der Name der Sendung, "Polnyj Kontakt", bedeutet "Vollkontakt". Zwei Bands treffen im Studio aufeinander und kämpfen um die Gunst der Zuschauer. Die stimmen per SMS ab. Am Ende steht der Superstar fest.

    Punkt drei Uhr beginnt die Aufzeichnung. Moderator Aleksander Anatoljevitsch springt Kaugummi kauend auf der Bühne herum. Er trägt Sonnenbrille, Turnschuhe und extrem tief sitzende Jeans.

    Bogdan Titomir, seit vielen Jahren ein Star, darf als erster spielen. Er tritt mit Trompeter und Saxophonist auf - ein bunter Haufen junger Musiker. Titomir selbst hat sich schwarz gekleidet und eine ebensolche Schirmmütze tief in die Stirn gezogen. Auf seinem Rücken glitzern silbrige Totenschädel, an jedem Finger ein Silberring. Die Mädchen vor der Bühne recken die Arme in die Höhe.

    Der Sänger der zweiten Band, Vlad Topalov, hat blonde Strähnchen im Haar, sein Hemd weit aufgeknöpft und sein Sacko leger geöffnet. Drei Backgroundsängerinnen lächeln in die Mikrophone. Im Publikum wird ein rosa Plüschherz mit dem Namen "Vlad" hochgehalten.

    Vlad Topalovs Titel "Za ljubov", "Für die Liebe", ist der Inbegriff des russischen "Popsa". So nennen die Russen diese Art von Popmusik, die immer wieder Massen in Extase versetzt.

    Alle paar Minuten wird die Aufzeichnung unterbrochen. Für die Werbepause. Oljas Gesicht ist gerötet. Aufgeregt fährt sie sich durch das lange Haar. Sie ist schon das zweite Mal hier.

    "Ich gehe nach der Schule sehr häufig zu irgendwelchen Aufzeichnungen von Fernsehsendungen. Diese Woche war ich schon bei einer, die ging bis zwei Uhr nachts. Ich habe eigentlich jeden Tag irgendetwas: Entweder Volleyball, oder Gesang, manchmal Turniere. Ich denke, jeder in Moskau hat so einen vollen Terminkalender. Mal abgesehen von denen, die sowieso nur auf dem Sofa sitzen und fernsehen. "

    Neben Olja steht Valentina. Sie ist 18 und studiert bereits. Nebenbei jobbt sie in einer PR-Agentur. Sie hat sich extra frei genommen für den Besuch bei MTV.

    "In Moskau musst du immer irgendwo hin eilen, irgendetwas erledigen. Ich habe nicht mal Zeit, mich mal ein Stündchen mit meinen Freunden zu treffen. Ich habe grundsätzlich keine Zeit. Und oft denke ich abends: Hätte der Tag doch bloß nicht 24, sondern wenigstens 36 Stunden! Oder besser 40!"

    Nach der Werbepause hält der Moderator zwei Eintrittskarten hoch. Es sind Karten für das Konzert der ukrainischen Pop-Band "Okean Elzi". Wer sie haben will, soll sagen, aus welcher ukrainischen Stadt die Band kommt. Ein paar Mädchen nennen Minsk - die Hauptstadt Weißrusslands. Niemand kommt auf Lviv in der Westukraine. Der Moderator schüttelt fassungslos den Kopf - und behält die Karten. Dann fragt er den blondierten Vlad Topalov nach dessen Plänen.

    Topalov will in Kürze zu Studioaufnahmen in die USA fahren. Unpatriotisch. Sein Kontrahent, der schwarz gekleidete Bogdan Titomir, nutzt die Vorlage. Er erklärt, er wolle als nächstes ein eigenes Label gründen: Mit russischsprachiger Musik, nur für Russen.

    Die Studentin Valentina zuckt gleichgültig mit den Schultern. Sprüche über das Russische, über Patriotismus, über das Nationale sind überall zu hören. Russland müsse seinen eigenen Weg gehen, heißt es immer wieder. Auch Valentina mag russische Musik am liebsten. Aber die allgemeine Amerikafeindlichkeit teilt sie nicht. Sie hat eine Brieffreundin in den USA.

    "Es wird Zeit, sie mal zu besuchen. Und es wird Zeit, sich den Westen zu erschließen, denn ich will wissen, worin wir uns von den Leuten dort unterscheiden. Wir müssen erst mal ihr Leben spüren, ihren Lebensrhythmus, und dann können wir entscheiden, ob es richtig ist, dass Russland seinen eigenen Weg geht, oder ob wir uns nicht besser an den Westen halten sollen. Das ist meine Meinung. Und deswegen will ich möglichst bald in den Westen fahren. Um mir selbst ein Bild zu machen."

    Als Bogdan Titomir, der Sänger im Totenkopf-Outfit, seinen Song "Mädchen in Rot" über junge Models anstimmt, recken sogar die Mädchen ihre Hände in die Höhe, die sich vor der Konkurrenzband postiert haben. Titomir gewinnt, wenn auch knapp. Die 14jährige Olja, Fan des blonden Vlad Topalov, findet das ungerecht.

    "Bogdan macht Musik, die für das russische Ohr nicht sehr eingängig ist. Vlad dagegen macht echten, leichten Pop. Der gefällt eben vielen."

    Eine andere nickt. Sie stellt sich als Urenkelin des Schriftstellers Lev Tolstoj vor.

    "Die russische Jugend ist sehr gebildet. Sie besucht viele Musikveranstaltungen, und sie verfolgt natürlich die Kinopremieren. Denn unser russisches Kino entwickelt sich jetzt! Es kommt an die Weltspitze, Sie wissen ja wahrscheinlich, in den 90ern hat unser Land eine ziemlich schlechte Zeit durchgemacht, als die Perestroijka war, unter Boris Jelzin, aber jetzt startet unser Kino durch und ist auf Weltniveau."

    Die russische Vergangenheit hat viel zu erzählen, jenseits von Tolstoj und großen Kinofilmen. Die Jugendlichen, die sich mit den dunklen Seiten dieser Geschichte beschäftigen, tun das meist aus Verantwortung den eigenen Vorfahren gegenüber. So fand die Schülerin Swetlana Bregei heraus, dass ihre Urgroßväter in der Verbannung in Komi erst 1961 einen Pass erhielten, dreißig Jahre nach der unrechtmäßigen Verbannung. Dreißig Jahre waren sie jeglicher Rechte beraubt, waren nicht einmal Staatsbürger. Leibeigene der Sowjetmacht, nennt Swetlana ihre Vorfahren in der Siedlung "Soi-Ju".

    Im Sommer 2000 fuhr ich dorthin, wo meine Mutter geboren ist und wo vor 30 Jahren das Dorf Soi-Ju stand. Jetzt befindet sich dort ein großes Feld, rundherum Wald und nur der Friedhof erinnert daran, dass hier 42 Jahre lang Menschen lebten. Hier liegen meine Vorfahren begraben, russische Bauern: die Urgroßväter Semjon Akimowitsch Barantschikow, Iwan Ignatowitsch Deikin und meine Urgroßmutter Irina Kirilowna Deikina. Ich finde, dass meine Vorfahren einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung Russlands geleistet haben. Die Regierung hat sie dafür aber nicht belohnt.
    Meine Generation geht in ein neues Jahrhundert. Unsere Pflicht ist es, die wirkliche, unverfälschte Geschichte unseres Landes in dieses Jahrhundert mitzunehmen und sie der nächsten Generation weiterzugeben.


    Reportage 6 Vermeintliche Staatsfeinde: Die oppositionelle Jugendbewegung "Smena"

    Eine Ausfallstraße am Stadtrand von Moskau. Nahe der Metrostation reihen sich Kioske und Blumenstände aneinander, gerahmt von Plattenhochhäusern. Plakate werben für Mobiltelefone und Möbelhäuser. Ein Mann Mitte 20 steht an einer Fußgängerampel. Er trägt Jeans, einen Anorak und eine altmodische Herrentasche über der Schulter. Er heißt Kolja. Er deutet auf eine Wahlwerbung auf der anderen Straßenseite. Ein blaues Plakat mit zwei stilisierten russischen Fahnen.

    "Schauen Sie mal, das Plakat da drüben, das zur Parlamentswahl aufruft. An wen erinnert das Emblem? An das der Kreml-Partei "Einiges Russland". Dabei ruft das Plakat nur dazu auf, überhaupt zur Wahl zu gehen. Das ist in ganz Moskau so: Überall sieht man nur "Einiges Russland".
    Leider interessieren sich die Menschen in unserem Land nicht sehr für Politik und kennen sich auch nicht aus. Deshalb halten sie auch das, was den lieben langen Tag im Fernsehen gezeigt wird, für die Wahrheit. Aber das Fernsehen wird vom Staat kontrolliert, und da zeigen sie nur, was der Partei "Einiges Russland" nützt."

    Zwei nagelneue Jeeps donnern über die Chaussee. Kolja blickt ihnen hinterher.

    "Natürlich gibt es einen gewissen wirtschaftlichen Fortschritt im Land. Das Öl wird ja auch immer teurer. Aber wenn auf einmal der Ölpreis sinken sollte, dann gibt es eine Katastrophe. Einen totalen Kollaps. Denn alles basiert heute ausschließlich auf den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft.
    Das alles hier ist nur ein scheinbarer Wohlstand."

    Kolja ist Aktivist der oppositionellen Jugendbewegung Smena. Smena gehört dem Oppositionsbündnis "Anderes Russland" des ehemaligen Schachweltmeisters Garri Kasparov an. Kolja ist auf dem Weg zu einem Treffen mit Gleichgesinnten.

    "Wir gehen in eine Wohnung. Bis vor einem Jahr hatten wir ein Büro, aber der Vermieter wurde gezwungen, uns rauszuschmeißen. Ihm wurde gesagt, wir seien Jugendliche, die eine falsche Position einnehmen. Das ist in unserem Land so: Wer nicht für Putin ist, hat unrecht. "

    Kolja betritt ein heruntergekommenes Hochhaus. Im Fahrstuhl riecht es nach Katzenklo. Die Wohnung ist in einem der obersten Stockwerke. Smena hat nach eigenen Angaben einen harten Kern von etwa zwanzig Aktivisten. Dazu kommen einige Dutzend Unterstützer in den Regionen. Es ist ein loses Netzwerk, das mit gewaltlosem Widerstand einen Regimewechsel in Russland herbeiführen will - irgendwann. Gelernt haben sie das von der Jugendbewegung "Pora" in der Ukraine. Zwei Monate waren Kolja und seine Freunde dort, während der so genannten orangefarbenen Revolution.

    Die Wohnung ist chaotisch: Ein paar alte Stühle, ein Telefon, ein Computer, ein voll gestopftes Bücherregal. Koljas Mitstreiter sind um die zwanzig: Kostja, Mischa und Katja. Die Nachnamen wollen sie nicht sagen. Sie haben Angst. Auch in das Interview haben sie erst nach langem Zögern eingewilligt. Sie laufe bei jeder Demonstration vorn weg, sagen die Jungen anerkennend über Katja. Die lächelt, halb verlegen, halb stolz.

    "Als der Prozess gegen Michail Chodorkovskij war, haben mich Freunde angerufen und gefragt: Dir ist das doch nicht gleichgültig, oder? Und dann sind wir gemeinsam hingegangen und haben mit anderen oppositionellen Organisationen vor dem Gericht protestiert. Daraus ist "Smena" entstanden. Uns verbinden gemeinsame Ideen. Das ist mein Ding hier."

    Katja studiert Sozialarbeit. Sie sei die einzige in ihrem Kurs, die sich politisch engagiere, sagt sie. Alle anderen hätten nur Discotheken und Geld im Kopf.

    Die Leute, die bei den "Naschi" mitmachen, die sind blind. Sie bekommen Geld, und dafür ziehen sie auch ein Weihnachtsmannkostüm an und gehen in Massen auf die Straße. Und denken, das sei richtig. Die sind einfach dumm.

    Betriebswirt Kostja ist der Wortführer der kleinen Gruppe. Er trägt sein kariertes Hemd bis zum Hals zugeknöpft und hat die Haare sorgsam gescheitelt. In Russland seien keine Massenproteste möglich. Da machten sie sich keine Illusionen, erklärt Kostja.

    "Wer in Russland die Energievorräte kontrolliert, kontrolliert alles. Das ist die Machtelite um Putin. In der Ukraine haben Millionäre gegen Milliardäre gekämpft.
    In Russland gibt es niemanden, der reich genug wäre, um es mit der von Putin organisierten Exportoligarchie aufzunehmen.
    Und deshalb bereiten wir uns auf einen hartnäckigen Kampf vor, der mehr als ein Jahrzehnt dauern wird."

    Solange müssten sie sich mit kleinen Erfolgen begnügen, erläutert der Politologe Mischa. Er trägt ein schwarzes T-Shirt mit einer ablaufenden Uhr auf der Brust: dem Logo der ukrainischen Bewegung "Pora".

    "Es ist schon ganz verwaschen. Aber ich liebe das T-Shirt. Denn Pora hat mir Energie und Schwung gegeben.
    Ich habe in der Ukraine gelernt, dass wir wirklich etwas verändern können. Das funktioniert. Vielleicht nur in unserem Wohnbezirk oder auf studentischer Ebene, aber trotzdem... Ich zum Beispiel wohne in einem Bezirk, in dem es eine riesige Rattenplage gab. Das klingt lächerlich, aber wenn dir jedes Mal, wenn du aus dem Haus gehst, eine fette Ratte entgegenkommt, dann ist das schrecklich. Die Bewohner hatten sich lange damit abgefunden. Wir haben dann eine Kampagne gestartet, und jetzt unternimmt die Bezirksverwaltung wirklich etwas, und die Ratten werden weniger. Als das passierte, habe ich begriffen, dass auch wir hier wirklich etwas verändern können."

    Aber selbst diese kleinen Erfolge beunruhigen die Mächtigen offenbar schon so, dass sie keine Mittel scheuen, die Aktivisten von Smena einzuschüchtern. Mischa dreht sich zum Computer um und ruft eine Internetseite auf. Dort ist ein Film gespeichert, der jüngst vom Staatsfernsehen ausgestrahlt wurde.

    Auf dem Bildschirm erscheinen Demonstranten mit bunten Fahnen: In der serbischen Hauptstadt Belgrad, in Kiew, in Tiflis. Das nächste Ziel, sagt der Sprecher, sei Moskau.

    Dann ein Schnitt zu Demonstrationen der russischen Opposition. Die blaue Fahne von "Smena" ist zu sehen. Dann Kostja, der Wortführer, auf demselben zerschlissenen Sofa, neben dem er jetzt steht.

    "Da, sehen Sie: Das ist diese Wohnung. "

    Der Sprecher bezichtigt die Aktivisten von Smena des Landesverrates. Darauf stehen in Russland viele Jahre Haft. Der Reporter hatte sich Wochen zuvor unter falschem Namen bei der Oppositionsbewegung eingeschlichen.

    "Er hatte eine perfekte Legende, er hatte angeblich sogar gemeinsame Bekannte mit Kasparov, ein Praktikum in Deutschland gemacht und uns etliche Bekannte dort aufgezählt. Er ist überall mit uns hingereist, ist sogar mal mit uns verhaftet worden. Und eines Tages hat er gesagt: Deutsche Fernsehleute wollen, dass ich für sie einen Dokumentarfilm über euch mache. Da haben wir natürlich zugesagt. Tja, und dann..."

    ... dann ist er verschwunden, und sein Telefon war abgestellt. Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Und dann sahen wir die Ankündigung der Sendung.

    "Da war klar, wer er wirklich war. Vielleicht waren wir dumm, dass wir ihm auf den Leim gegangen sind. Aber andererseits sind wir darauf angewiesen, dass Journalisten über uns berichten. Denn wir machen eine wichtige Sache, und da wollen wir natürlich, dass die Leute von uns erfahren."

    In Russland gehe es nicht voran, sondern zurück zu dem, was in der Sowjetunion war, sagen Kostja und seine Freunde. Dagegen wollen sie vor der Parlamentswahl demonstrieren - auch wenn sie viel weniger sind als die kremltreuen "Naschi".

    Das waren Gesichter Europas. Der Traum von alter Größe - Russland und seine Jugend. Eine Sendung von Gesine Dornblüth.
    Die Auszüge aus dem Buch "Russlands Gedächtnis" las Ilka Teichmüller. Das Buch, herausgegeben von Irina Scherbakowa, ist in der edition Körber-Stiftung erschienen.