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Der Traum von Visafreiheit

Für 46 Millionen Ukrainer kann es gute Nachrichten aus Brüssel geben. Die Europäische Union soll auf einem Gipfel einen Aktionsplan für ein visafreies Regime mit der Ukraine vorstellen. Allerdings werde es keinen Automatismus geben, heißt es in Brüssel.

Von Roman Goncharenko | 22.11.2010
    Vor der deutschen Botschaft an der Bohdana-Chmelnyzkoho-Straße in der ukrainischen Hauptstadt Kiew sieht man kaum Menschen. Nur ein paar Leute stehen an diesem Novembernachmittag am Seiteneingang, um Ihre Visa-Anträge abzugeben. Sie sprechen kaum miteinander und warten mit angespannten Gesichtern, bis sie in das graue Gebäude hineingelassen werden.

    Eine gepanzerte Glastür öffnet sich und eine junge schlanke Frau verlässt die Botschaft. In der Hand hält sie ihren roten ukrainischen Reisepass und lächelt: Sie darf nach Deutschland. Die Frau heißt Marina und ist Mitte 20:

    "Ich möchte über Weihnachten Freunde in Deutschland besuchen. Es war gar nicht schwer, das Visum zu bekommen. Man braucht eine Bescheinigung von der Arbeit und einen Nachweis, dass ich meine Freunde tatsächlich kenne"."

    Nicht alle Ukrainer verlassen die deutsche Botschaft mit einem Lächeln wie Marina. Jeder zehnte Visumsantrag wurde im Jahr 2009 abgelehnt, weiß Olexandr Suschko vom Kiewer Institut für euroatlantische Zusammenarbeit. Unter den EU-Staaten lehnte nur die spanische Botschaft in Kiew noch mehr Anträge ab – 14 Prozent, hat Suschko in einer Studie herausgefunden:

    ""Wir haben festgestellt, dass trotz des gleichen Rechtsrahmens, die Praxis sehr unterschiedlich aussieht. Es gibt viele Anträge, bei denen Konsularmitarbeiter Zweifel bekommen. Wenn es eine politische Einstellung ist, in solchen Fällen kein Visum zu erteilen, dann werden Anträge abgelehnt."

    Es sind vor allem westeuropäische EU-Länder, die eine restriktive Visapolitik in der Ukraine betreiben. Manchmal kommt es zu verzweifelten Aktionen: So tanzte ein Kinderensemble drei Stunden lang vor der französischen Botschaft in Kiew und bekam schließlich doch Visa. Ein ähnlicher Versuch einer anderen Tanzgruppe vor der britischen Botschaft brachte keinen Erfolg.

    Die Regeln für Visumsanträge haben sich verschärft, sagt auch Natalia, die seit 15 Jahren bei einer Reiseagentur in Kiew arbeitet. Sie möchte anonym bleiben:

    "Man braucht jetzt alles: eine Bescheinigung des Arbeitgebers, ein Bankkonto oder eine Kreditkarte. In einigen Konsulaten werden nicht nur Kreditkarten verlangt, sondern auch Bescheinigungen über Einkäufe. Wozu baut man all diese Hürden auf? Ich denke, dass Europäer Angst haben, dass wir da bleiben."

    Dabei seien die Ukrainer zum Teil selber schuld, sagt Natalia und erinnert an die Visa-Affäre von 2005:

    "Es wird gerne geschummelt. Es gab viele Fälschungen der Papiere, die bei den Botschaften eingereicht wurden. Deshalb hat man kein Vertrauen mehr zu uns."

    Eigentlich hatten die Ukrainer gehofft, bald ganz ohne Visum nach Europa reisen zu können. 2005 schaffte die prowestliche Regierung in Kiew die Visa-Pflicht für EU-Bürger ab – auch mit dem Kalkül, dies werde Brüssel motivieren, das Gleiche zu tun. Seither werden zwar immer wieder Verhandlungen geführt – wie etwa beim heutigen Treffen in Brüssel. In der EU spricht man aber lieber über "Erleichterungen" bei der Visavergabe. Olexandr Suschko vom Institut für euroatlantische Zusammenarbeit sieht die Ukraine als Opfer. Erst die Ost-Erweiterung der EU habe Länder wie Polen oder die Slowakei gezwungen, Visa für die benachbarte Ukraine einzuführen. Immer wenn Kiew über Visafreiheit verhandeln wolle,, heiße es aus Brüssel: Noch ist nicht die Zeit. Olexandr Suschko:

    "In Europa gibt es heute, wie so oft, eine ungünstige Situation für eine weitere Liberalisierung der Visapolitik. Mal sind es illegale Migranten aus Serbien, die für Aufsehen sorgen, mal die Roma in Frankreich. Außerdem hat die EU vor Kurzem die Visa-Pflicht für Albanien und Bosnien abgeschafft."

    Vor diesem Hintergrund tendiere man in Brüssel dazu, keine verbindlichen Zusagen in Sachen Visafreiheit für die Ukraine zu machen. Befürchtungen, dass Hunderttausende Ukrainer nach Europa auswandern würden, hält Suschko für unbegründet. Viele bleiben lieber zu Hause – wie Marina:

    "Nein, ich will nicht aus der Ukraine auswandern. Ich fühle mich gut in meinem Land. Für mich ist zwischenmenschliche Kommunikation sehr wichtig. Es ist wichtig für mich, unter Menschen zu leben, die mich verstehen. Ich bin kein Mensch, der gerne in ein anderes Land auswandert."

    Reisen nach Europa würde sie aber gerne ohne Visum – ohne jedes Mal beweisen zu müssen, dass sie auch wirklich zurückkehren wird.