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Der Überläufer

Als Agent der Stasi machte Werner Stiller vor 31 Jahren rüber in den Westen. BND und CIA ließen mit seiner Hilfe 70 Spione auffliegen. Stiller bekam eine neue Identität und schrieb ein Buch über sich - das mehr oder weniger Erlogenes enthielt. Jetzt hat er noch eins geschrieben - um der Wahrheit näher zu kommen.

Von Jens Rosbach | 20.09.2010
    Stasi-Offizier Werner Stiller flüchtete 1979 in den Westen. Einige Jahre später, 1986, erschien ein erstes Buch über seine abenteuerliche Geschichte. Es hieß "Im Zentrum der Spionage" und enthüllte brisante MfS-Interna. Stiller lobte in dem Debüt auch seinen neuen Partner, den Bundesnachrichtendienst, in höchsten Tönen.

    Im Kern hat sich alles so zugetragen, wie ich es berichte.
    Stillers Erstlingswerk wurde schnell zum Bestseller, es erschien in fünf Auflagen. Doch heute ist klar: Der Report von 1986 ist zum Teil erlogen. Stiller hat viele Begebenheiten, Personen und Dialoge erfunden – die Leser also getäuscht.

    "In dem ersten Buch ging es natürlich auch darum, falsche Spuren zu legen."

    Werner Stiller räumt nun erstmalig sein Täuschungsmanöver ein. In der vergangenen Woche präsentierte er in Berlin sein neues, sein zweites Buch. Die Autobiografie trägt den Titel "Der Agent" und nennt zwei Gründe für den Schwindel vor 24 Jahren: Stiller habe damals die Stasi in die Irre führen wollen. Zudem sei der Text von seinem Geldgeber, dem BND, zensiert worden.

    Da der BND darauf bedacht war, dass keine Rückschlüsse auf die Methoden seiner Arbeit möglich sind, ist mein Manuskript dann noch mal überarbeitet und an einigen Stellen "verunklart" worden.
    Stillers zweites Agentenbuch räumt nun mit zentralen Legenden auf. Sie beziehen sich auf die Zeit, als der Geheimdienstler noch beim MfS arbeitete, aber bereits heimliche Kontakte zum Westen hatte. Der Überläufer hatte einst behauptet, dass der Bundesnachrichtendienst ihn in der DDR angeworben habe. Heute stellt sich heraus, dass der Stasimann selbst Kontakt zum BND gesucht hat. Besonders spannend: Stillers neues Buch "Der Agent" dokumentiert auch viele peinliche Pannen des westdeutschen Nachrichtendienstes.

    "Der BND, ich weiß es nicht, das waren Beamte, die auf ihre Pensionierung warteten. Die Leute waren wirklich nicht für die Geheimdienstarbeit ausgebildet und vorbereitet."
    Nach Stillers Erinnerungen hat der Bundesnachrichtendienst etwa sogenannte tote Briefkästen, also Übergabe-Verstecke in der DDR, stümperhaft angelegt. Außerdem habe der West-Dienst längst enttarnte Deckadressen weiter verwendet. Schließlich soll der BND seinem Top-Spion, der aus der DDR fliehen wollte, einen miserabel gefälschten Ost-Reisepass geschickt haben.

    Oh je, nach der Panne war mein Vertrauen in die Fähigkeiten der Pullacher ziemlich dahin. Mit diesen Dokumenten würde ich mich vermutlich selbst direkt ins Gefängnis einweisen.

    Tagesschau: "Guten Abend, meine Damen und Herren. Der Spionageabwehr der Bundesrepublik ist offenbar ein Schlag gegen den DDR-Geheimdienst gelungen."
    Bizarr: Laut der neuen Autobiografie haben bundesdeutsche Sicherheitsbehörden offenbar die Medien manipuliert für die Fluchtaktion. Der Hintergrund: Stiller sollte 1979 zusammen mit seiner Freundin aus der DDR ausgeschleust werden. Doch als der Stasimann in den Westen kam, saß die Frau noch mit ihrem Kind in Warschau fest. Die Medien erhielten aber die Falschinformation, dass die drei DDR-Bürger gemeinsam getürmt seien – obwohl noch zwei von ihnen hinter der Mauer saßen.

    Tagesschau: "Der Oberleutnant hatte sich in der vergangenen Nacht zusammen mit seiner Braut und einem Kind nach West-Berlin abgesetzt."
    Die Desinformation sollte das MfS davon abhalten, nach Stillers untergetauchtem Anhang zu suchen. Später wurden Frau und Kind über die westdeutsche Botschaft in Warschau ausgeschleust. Stillers zweites Buch erzählt auch erstmals von der Zeit nach seiner Flucht: Etwa von den peniblen Befragungen des BND und der Zusammenarbeit mit der CIA. Weitere Kapitel beschreiben seine späteren Abenteuer als Broker, als Casino-Zocker und als Frauenheld. Der 63-Jährige verschweigt allerdings auch nicht seine Beziehungskrisen und seine Millionenverluste. Heute scheint der dreifache Ex-Spion, der als Geschäftsmann in Ungarn lebt, ausgebrannt zu sein:

    "Ich habe mich in den letzten Wochen über schwere Depressionen beklagt. Nachdem dieses Buch fertig war, äh - was mache ich jetzt mit meinem Leben?"
    Die Bilanz: Stillers zweites Buch bringt zweifellos etwas Licht in das Dunkel der Geheimdienstszene. Es ist packend und dialogreich geschrieben. Allerdings: Wer weiß schon, ob der prominente Überläufer diesmal die ganze Wahrheit erzählt? Oder ob der Ex-Spion immer noch die Öffentlichkeit täuscht? Leider schweigt der Bundesnachrichtendienst über Stillers neue Enthüllungen: Manche Dinge müsse man nicht kommentieren, so die BND-Pressestelle.

    Werner Stiller: Der Agent. Mein Leben in drei Geheimdiensten. Erschienen im Ch. Links. Verlag, für 19 Euro 90 gibt es 250 Seiten (ISBN: 978-3-861-53592-8). Für uns ist Jens Rosbach ins Schlapphüte-Millieu hinabgestiegen.