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Der unbequeme Papst

Am 16. Oktober 1978 wurde Karol Wojtyla zum Papst gewählt. Das erste nicht-italienische Kirchenoberhaupt seit 1522 wurde mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Doch die Leistungen und die vielerorts umstrittene Art der Kirchenführung des konservativen Wojtyla machten ihn zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten unserer Zeit.

Von Hartmut Kriege | 03.04.2005
    "Annuntio vobis..."

    Beifall, dann eine unruhige Stille. Die Menge auf dem Petersplatz zu Rom hat die in feierlichem Latein vorgetragene Ankündigung der erfolgreichen Papstwahl nicht richtig verstanden. Wen hatte man gewählt? Italienisch klang der Name nicht, den Kardinal Pericle Felici soeben vom Zentral-Balkon der Peterskirche verkündet hatte. Als dann aber die Nationalität des neuen Papstes die Runde macht, sind viele enttäuscht: "Un Polacco? Aus Polen? Wie heißt der? Wojtyla? - Nie gehört!" Verwirrung macht sich breit. Enttäuschung: "Ein Pole!" - Zaghaftes Klatschen. Einige Buh-Rufe. Die ersten verlassen den Platz. Man schreibt den 16. Oktober 1978. Es ist kurz nach 19 Uhr abends. Ein Montag.

    Im strengen Zeremoniell des Vatikans ist für den neugewählten Papst jetzt nur der Segen "Urbi et Orbi" - der Segen für die Stadt Rom und den Erdkreis vorgesehen. Doch der 263. Nachfolger des Fischers Petrus aus Galiläa muss die Enttäuschung der Menschen da unten vor sich auf dem Platz gespürt haben:

    "Carrissimi ... christiana"

    Und Johannes Paul II. spricht zum ersten Mal zu seinen neuen Diözesanen, den Katholiken von Rom in fehlerlosem Italienisch. Fast als bitte er um Entschuldigung – wir sind noch alle in tiefer Trauer über den Tod unseres Papstes Johannes Pauls I. Und jetzt, so sagt der neue Papst, haben die Kardinäle einen neuen Bischof von Rom ernannt, aus einem weit entfernten Land. Aus einem fernen Land, aber doch so eng verbunden durch die Einheit im Glauben und in der christlichen Tradition.

    Da war er nun, der erste nicht-italienische Papst seit 1522, seit jenen Tagen der Renaissance, als die Kardinäle im Konklave den Bischof von Tortosa in Spanien, Hadrian Florenz, zum Papst wählten. Als Hadrian VI. ging der gebürtige Utrechter in die Kirchengeschichte ein. Der letzte Nicht-Italiener unter den Päpsten - bis eben zu jenem bereits legendären 16. Oktober 1978, bis zur Wahl des Polen Karol Wojtyla.

    Niemand hatte nach dem plötzlichen Tod des so genannten 33-Tage-Papstes, Johannes Pauls I., alias Albino Luciani, damit gerechnet, dass ein "straniero", ein Ausländer, den traditionell Italienern zugesprochenen Papststuhl besetzen werde. Am wenigsten Karol Wojtyla selbst. Der hatte bei seiner Ankunft in Rom bereits sein Rückflugticket nach Krakau in der Tasche. Er werde in Polen gebraucht, meinte er. Zeit habe er nicht zu verschenken.

    Nur einer hatte die Wahl des Krakauer Kardinals zum neuen Papst mit fast traumwandlerischer Sicherheit vorausberechnet: der Computer des US-amerikanischen Meinungsforschungsinstituts NORC, des "National Opinion Research Centers" in Chicago. Man hatte den Computer mit dem Persönlichkeitsprofil aller möglichen "Papabili", aller Papstkandidaten konfrontiert.

    Als ein pragmatischer, durchaus flexibler Papst, aber absolut unbeirrbar in seinen Grundüberzeugungen, entpuppte sich Karol Wojtyla. Schon bald nach der Wahl prophezeite einer der "Königsmacher" im Konklave vom Oktober 1978, der inzwischen verstorbene Kölner Erzbischof Kardinal Joseph Höffner:

    "Der Papst wird kein bequemer Papst sein. Er tritt für Glauben und Disziplin ein."

    Was er damit meinte, umschrieb Kardinal Höffner wenig später in einem Deutschlandfunk-Interview dann so:

    "Der neue Papst ist herzlich, brüderlich, klug, energisch, phantasievoll. Seine Begegnung mit den Menschen ist unmittelbar und kontaktfreudig. Der neue Papst ist theologisch hoch gebildet, er ist in seinem philosophischen Denken eigenständig und reich an Lebenserfahrung. Ein Mann des Glaubens, der Innerlichkeit, des Betens. Er weiß sich bis zum Innersten und bis zum Äußersten in Anspruch genommen. Er ist sich seines Auftrags zur Führung der Kirche bewusst und auch gewillt, ihn zu erfüllen. Sein Tagesablauf ist hart, seine Popularität erstaunlich. Die Römer, die Kinder, die Jugendlichen, die Pilger und auch die Menschen in Lateinamerika haben ihn mit Begeisterung aufgenommen. Die Audienzen sind überfüllt. Die Begeisterung hat übrigens nicht abgenommen, obwohl der Papst nicht den leichten Weg der Nachgiebigkeit geht, sondern die Priester, die Ordensleute, die Jugendlichen, die Männer, die Frauen fordert."

    Papst Johannes Paul II. offenbarte der Welt sehr schnell, welche Akzente er in seinem Pontifikat zu setzen gedachte. Geprägt vornehmlich durch den deutschen Philosophen und Soziologen Max Scheler, die scholastische Theologie und durch die katholische Soziallehre, betonte der Papst immer wieder die Verantwortung der Menschen füreinander und für die Welt, er forderte das Engagement der Menschen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, bei gleichzeitiger Achtung und Respektierung des Menschen als den "Mitschöpfer Gottes".

    Um diese Verantwortung auch übernehmen und durchstehen zu können, hatten für Karol Wojtyla Ehe und Familie - die er bisweilen sehr kämpferisch zu verteidigen wusste - ihren besonderen Platz in seinem "Regierungsprogramm":

    "Ehe und Familie sind wichtiger denn je, Keimzellen zur Erneuerung der Gesellschaft, Kraftquellen, aus denen das Leben menschlicher wird. Staat und Gesellschaft leiten ihren eigenen Zerfall ein, wenn sie Ehe und Familie nicht mehr wirksam fördern und andere, nichteheliche Lebensgemeinschaften ihnen gleichstellen. Die moderne Industriegesellschaft hat die Lebensbedingungen für Ehe und Familie grundlegend verändert. Das öffentliche Klima ist nicht immer freundlich gegenüber Ehe und Familie. Und doch erweisen sie sich in unserer anonymen Massenzivilisation als Zufluchtsort auf der Suche nach Geborgenheit und Glück."

    Da verwundert es auch nicht, dass - konsequenterweise - der Schutz des Lebens in seinen vielfältigen Formen zum dritten überragenden Programmpunkt im Pontifikat Johannes' Pauls II. geworden ist:

    "Das erste Recht des Menschen ist das Recht auf Leben. Wir müssen dieses Recht und diesen Berg verteidigen, anderenfalls würde die ganze Logik des Glaubens an den Menschen, das ganze Programm eines wahrhaft menschlichen Fortschritts erschüttert werden und in sich zusammenbrechen."

    Wobei mit Blick auf das ungeborene Leben und seinen Schutz der Papst nicht davor zurückscheute, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft immer wieder wegen ihrer schwankenden Haltung in dieser Frage auf das Schärfste anzugreifen und die unnachgiebige Haltung der katholischen Kirche in dieser Sache zu betonen.

    Unter der Naziherrschaft und der kommunistischen Diktatur aufgewachsen, kannte sich Karol Wojtyla in der modernen Ideologie unserer Zeit aus; er wusste - gerade beim atheistischen Marxismus - um seine innere Brüchigkeit. Er war, im Gegensatz zu seinem väterlichen Freund, Kardinal Stefan Wyszynski von Warschau, davon überzeugt, dass der real existierende Sozialismus marxistisch-leninistischer Prägung nur eine Episode der Menschheitsgeschichte sein werde. Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seit 1989 in Ost- und Südost-Europa haben ihn voll bestätigt.

    Dass Karol Wojtyla einmal das höchste Amt in der Kirche, die "Kathedra Petri" erklimmen werde, war dem begeisterten Bergsteiger und Skifahrer nicht mit in die Wiege gelegt worden.

    Als im Mal 1938 der Krakauer Erzbischof, Kardinal Adam Sapieha, den kleinen Ort Wadowice, rund 50 Kilometer von Krakau entfernt, besuchte, begrüßte ihn im Namen des städtischen Gymnasiums ein schlaksiger 18jähriger: Karol Wojtyla. Nach der Begrüßungsrede fragte ihn der Erzbischof, was er "später denn werden wolle?!". Wojtylas Antwort: Er beabsichtige, sich an der Jagellonen-Universität zu Krakau einzuschreiben, um polnische Literatur zu studieren. "Schade", meinte der Erzbischof, "so einen wie dich könnten wir in der Kirche gebrauchen."

    Der Krieg durchkreuzte die Pläne Wojtylas. Vier Jahre arbeitete er zunächst in einem Steinbruch, dann wie sein Vater als Chemiearbeiter. Doch er studierte "nebenher", heimlich. Zudem wurde Karol Wojtyla einer der führenden Köpfe des im Untergrund auftretenden und agierenden "Rhapsodie-Theaters". Hier ist er selbst Schauspieler und Regisseur zugleich. Insgeheim nimmt er 1942 dann das Theologiestudium auf - am Seminar in Krakau. Allerheiligen 1946 wird Karol Wojtyla zum Priester geweiht.

    Danach begann eine der üblichen Kirchenkarrieren: Wojtyla geht nach Rom, zum Studium an der dortigen Dominikaner-Universität "Angelicum", promoviert, hilft als Seelsorger unter polnischen Bergarbeitern in Belgien aus. Dann kehrt er nach Krakau zurück, um an der dortigen theologischen Fakultät eine zweite Promotion zu "bauen" - über ein moraltheologisches Thema.

    Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse haben zu allen Zeiten bedeutende Kirchenführer in Polen hervorgebracht. Immer wieder war die polnische Kirche Trägerin und Hüterin des nationalen Gedankens, nahm sie in den "führerlosen Zeiten" des Landes auch die politische Regentschaft wahr, verteidigte die Kirche, die Rechte und Eigenheiten des polnischen Volkes - bis in unsere Tage hinein.

    Dieser Geist beseelte auch Papst Johannes Paul II. Seit seiner Wahl übertrug Karol Wojtyla dieses Bewusstsein und Selbstverständnis der polnischen Kirche auf sein Pontifikat. Die "res ecclesia", die Sache der Kirche, war mit der Annahme der Wahl zum Papst seine ureigenste Angelegenheit geworden.

    Gerade seine zahlreichen Briefe und apostolischen Schreiben an die Weltkirche beweisen das. Wenn sich der Papst so vehement für die Menschenrechte, für das Recht auf Arbeit und Wohnung, die freie Meinungsäußerung einsetzte, für das Recht der Religionsausübung und der freien Wahl des Wohnsitzes plädierte, so tat er dies stets in dem Bewusstsein, dass die Menschen diese Rechte nicht als Gnadenerweis irgendwelcher übergeordneter staatlicher Amtsträger bekommen, sondern dass ihnen diese Rechte grundlegend aus ihrem Menschsein heraus zuwachsen, weil der Mensch "Mitschöpfer Gottes" und "Miterbe Christi" ist. Dazu Höffner:

    "Es geht dem Papst nicht um die Menschenrechte, sondern um die Würde und Ehre und Größe des Menschen, und das ist mehr. Papst Johannes Paul II. schreibt in seiner ersten Enzyklika: Gott ist in die Menschheitsgeschichte eingetreten, einer von Milliarden, und doch dieser eine. Gerade wegen dieser unbegreiflichen Größe und Würde des Menschen – der Papst spricht von Königswürde – darf der Mensch nicht Sklave der Dinge, Sklave der Wirtschaftssysteme, Sklave der Produktion, Sklave der eigenen Produkte werden. Das sind Worte aus der Enzyklika. Mit anderen Worten: Das Eintreten des Christen für die Freiheit und Würde des Menschen gründet in der Frohbotschaft vom Gott ebenbildlichen erlösten Menschen. Die Kirche hat es deshalb nicht nötig, zu Systemen und Ideologien ihre Zuflucht zu nehmen, um die Befreiung des Menschen zu erstreben. Erst recht wäre es eine Verkürzung der Frohbotschaft Christi, wenn man die gottgeschenkte Würde und die ewige Berufung des Menschen beiseite ließe und für eine rein innerweltliche Befreiung kämpfen würde."

    Zwei bedeutende Ereignisse markieren wie Mahnzeichen die Regierungszeit Johannes Pauls II. Da ist einmal das Attentat vom 13. Mai 1981, als der Türke Ali Agca den Papst während einer Audienz auf dem Petersplatz niederschoss, als Karol Wojtyla in seinem offenen weißen Jeep die Runde durch die tausendköpfige Menschenmenge fuhr.

    Dieses in seinen letzten Einzelheiten bis heute nicht ganz aufgeklärte Attentat warf einen Frosthauch auf den Papst und in der Folge auch auf sein gesamtes Pontifikat. Beobachter gehen noch heute davon aus, dass seit dem Attentat sich das Wesen des Papstes verändert habe, manche meinen sogar verhärtete.

    Gegen Ende seines Pontifikats wird dann bekannt, dass nach der Interpretation des Vatikans das Attentat auf den Papst im so genannten "Dritten Geheimnis" der Seherkinder von Fatima bereits angedeutet werde.

    Das zweite Großereignis ist die Kirchenspaltung des Marcel Lefebvre, der sich gegen die Umsetzung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils gestellt hatte und nach langem Ringen mit dem Papsttum - ein Ringen, das bereits unter Paul VI. begonnen hatte - unter dem Pontifikat Karol Wojtylas zum endgültigen Eklat kommen ließ.

    Wojtyla, der sich persönlich in dieser Sache engagiert hatte und der bis zum Bruch mit der Lefebvre-Bewegung eine erfolgreiche Regierungszeit vorweisen konnte, wollte nicht - wie andere vor ihm - als "Papst des Schismas" in die Kirchengeschichte eingehen. Daher hatte er bis an den Rand des Erträglichen Lefebvre und seinen Anhängern jede nur denkbare Brücke geschlagen, um die Kirchenspaltung zu verhindern. Bis es dann kein Zurück mehr gab.

    Ein weiteres bedeutendes innerkirchliches Ereignis im Pontifikat des Papstes ist 1983 die Veröffentlichung eines neuen Gesetzbuches der Kirche. In diesem Kodex - so Kenner der römischen Kirche - verkörpert sich die erklärte Absicht des Papstes, der lateinischen Kirche eine neue, unverwechselbare "Disziplin" zurückzugeben, mit deren Hilfe die Kirche Aufweichungstendenzen im Glauben und einem allzu ungestümen Andrängen eines zunehmenden gesellschaftlichen Individualismus weltweit Paroli bieten und darüber hinaus jeglichen Stürmen der Zeit wehrlich trotzen sollte. In dem von dem deutschen Kurienkardinal Joseph Ratzinger geleiteten Glaubensministerium hatte der Papst eine der wichtigsten Motoren für die Umsetzung der "Disziplin" in der Kirche zur Seite.
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    So verstand der Papst denn auch unter der Wiederherstellung der Disziplin vor allem die Reinhaltung der tradierten Lehre. In einer sich über das gesamte Pontifikat des Papstes hinziehenden Arbeit hat die Glaubenskongregation im Auftrag des Papstes und der zahlreichen Bischofssynoden die katholische Lehre von glaubensfremden Überwucherungen und Verdunkelungen freizumachen versucht.

    Die wiederholten Absagen an jede Form der so genannten "Theologie der Befreiung" wie auch das Einschärfen der moralischen Traditionen der Kirche, gehörten mit zu den Schwerpunkten im Pontifikat Johannes Pauls II.

    In diesem Zusammenhang geriet die Kirche in Deutschland in den Jahren zwischen 1996 und 2001 in einen scharfen Gegensatz zur Auffassung des Papstes von Lehre und Disziplin. In der Frage des Engagements der Kirche für den Schutz des ungeborenen Lebens untersagte der Papst nach langjährigen Verhandlungen der deutschen Kirche, sich in welcher Form auch immer an einer Schwangeren-Konfliktberatung zu beteiligen, die in letzter Konsequenz zu einer - kirchlich mitgetragenen - Abtreibung führen könnte.

    Auf zahllosen Reisen, die ihn rund um den Erdball führten, hat Karol Wojtyla versucht, seine Vision von der Kirche mit den Lebensvollzügen der katholischen Teilkirche in den unterschiedlichsten Kulturen und Zivilisationen in Einklang zu bringen.

    Die Offenheit für eine zeitgemäße Erneuerung der Kirche in dem jeweiligen kulturellen Kontext - Stichwort "Inkulturation" - hat der Papst nur vorsichtig vorangetrieben. Vor allem hinderte ihn und seine Berater ein allzu enger Blickwinkel, ein überkommener "Eurozentrismus", den katholischen, weit umspannenden Anspruch auch in den "Teilkirchen" sichtbar werden zu lassen.

    Dennoch: ein - viertes - Ereignis im Pontifikat Johannes Paul II. war für den Papst wohl das am meisten beglückende: die unblutige "Wende" in Mittel- und Osteuropa, im Bereich des ehemaligen "Ostblocks".

    Aufbauend auf der "Vatikanischen Ostpolitik" seines Vor-Vorgängers, Papst Paul VI., hat Karol Wojtyla mit seiner auf der Grundlage des KSZE-Abkommens von Helsinki über grundlegende Freiheiten für Menschen und Nationen in allen Teilen Europas aufgestellten Forderungen nach Religions- und Gewissensfreiheit die nach marxistisch-leninistischer Ideologie ausgerichteten Regime in ihren Grundfesten mit erschüttern helfen und mit dazu beigetragen, die "Wende" herbeizuführen. Und wäre von Karol Wojtyla nichts anderes zu berichten als diese Haltung: mit dieser Leistung allein wird Karol Wojtyla in der Erinnerung überleben - und nicht nur in der Geschichte der Kirche.