Freitag, 29. März 2024

Archiv


Der ungarische Franzose

François Fejtö (1909-2008), in Frankreich allseits geschätzter Schriftsteller, ist in Deutschland ein Geheimtipp geblieben. 1952 erschien seine zweibändige "Geschichte der Volksdemokratien", die vorwegnahm, was sich später immer deutlicher hinter dem Eisernen Vorhang abzeichnete. Nach über 70 Jahren erscheint erstmals seine "Reise nach Gestern" in deutscher Übersetzung.

Von Lerke von Saalfeld | 08.01.2013
    "Das Buch ist in den Wirrnissen der Geschichte untergegangen. François Fejtö publizierte es 1936 in Budapest, und kurze Zeit später, nämlich 1938, musste er emigrieren. Er war engagierter Sozialist, oder erst Kommunist, und wurde als solcher verfolgt, er saß auch im Gefängnis und war dann ab 1938 in Frankreich, außer 1946/47 ist er kurz nach Budapest gefahren – das war während der Zeit der Republik – genau, er hat dann immer sehr kritisch die Ereignisse in Ungarn verfolgt. Das erste war der Schauprozess gegen den damaligen kommunistischen Innenminister László Rajk, der ein Jugendgefährte oder Freund von ihm war. Und von da ab hat er Ungarn nicht mehr betreten und gesagt, solange in Ungarn ein solches Regime an der Macht ist, will er dieses Land nicht mehr betreten. Und das war auch so. Das erste Mal ist er 1989 wieder nach Ungarn gefahren. Er war Persona non grata, war totgeschwiegen, er existierte in Ungarn offiziell nicht."

    Die Übersetzerin Agnes Relle, die den 97-jährigen Fejtö 2006 in Paris kennenlernte, war begeistert von diesem Reisebericht aus dem Jahr 1934, von dem der Autor sagt,

    "Ich hatte ein Stimmungsbuch geschrieben, Belletristik, keine wissenschaftliche Abhandlung. Von der Politik hatte ich mich eine Weile beurlaubt, um zu mir zu finden, frische Luft zu atmen, meine Gedanken zu klären."

    Die ungarische Originalfassung von 1936 war im Orkus der Geschichte verschwunden und vergessen, 2001 erschien die erste Übersetzung ins Französische. Geschildert wird in diesem Buch, wie der junge Ungar im Alter von 25 Jahren nach einem Jahr Gefängnis wegen kommunistischer Agitation, Budapest verlässt und nach Kroatien reist, wo er einen Teil seiner Kindheit verbrachte, wo ein Teil seiner Familie noch immer lebte. Das Original hatte Fejtö nach Lawrence Sterne "Empfindsame Reise" tituliert, die deutsche Übersetzung lautet heute "Reise nach Gestern", und das ist ein passender Titel, denn der Leser wird zurückgeführt in eine Welt von noch friedlichem Völker- und Sprachengemisch, die heute längst versunken ist:

    "Das ist eben auch das Interessante, und das wird noch einmal in diesem Reisetagebuch so deutlich, sie sprachen alle Deutsch – und zwar fließend Deutsch. Das heißt, es ist auch die Familie, die da zerrissen ist: Der eine Teil in Kroatien, eher schon kroatisiert, und kroatisch sprechend; der andere Teil mehr im italienischen Bereich und mehr italienisch sprechend; und eben Fejtö und seine Familie mehr im Ungarischen zu Hause. Und dann beschreibt er die großen Familientreffen, und natürlich sprach man Deutsch miteinander. Er nennt es auch 'unsere internationale Sprache'."

    Fejtö reiste nach Kroatien, weil er nach seiner Gefängnishaft Abstand zu Ungarn brauchte, weil er eine freie Luft atmen wollte und froh war, nicht mehr die Embleme von Hammer und Sichel oder Hakenkreuz sehen zu müssen. Seine erste Station ist Zagreb, dort lebten seine Großeltern und seine Schwester. Auf den Spuren der Familiengeschichte entwirft der Autor ein lebendiges Bild einer zivilisierten Gesellschaft. Der Weg führt ihn weiter an der Küste entlang bis nach Ragusa, das heutige Dubrovnik. Er fühlt sich unbeschwert, denn die Natur, die Vögel, das Meer umfangen ihn in einem poetischen Zauber. Er empfindet sich zu einer Generation gehörig, die, aufgewachsen vor dem Ersten Weltkrieg, hineingeworfen wurde in eine Welt, die in allen Fugen knirschte und krachte. "Die abendländische Bildung", so Fejtö, "war für uns nur Makulatur, nur ein Schulzeugnis in der Tasche, nicht ein lebendiges Ideal in unserem Herzen." In Kroatien findet er Zeit, über sein Leben nachzudenken, sich neu zu orientieren. Er besucht den berühmten kroatischen Dichter Miroslav Krleža, begegnet ihm voller Ehrfurcht, aber der kauzige, linksradikale Schriftsteller bleibt unwirsch, bis sie auf den ungarischen Lyriker Endre Ady kommen, den Krleža in die kroatische Literatur eingeführt hat, da taut er endlich auf. Die Sprache, in der sich die beiden Schriftsteller unterhalten - wie selbstverständlich Ungarisch.

    Eine andere wichtige Begegnung ist die Zusammenkunft mit dem Maler Dobrović, mit dem er schnell in eine hitzige ästhetische und politische Debatte gerät. Dobrović ist voll düsterer Vorahnungen. Er spürt, dass die Welt am Zusammenbrechen ist, und warnt den jungen Ungarn:

    "Entweder gelangen die Barbaren der modernen Völkerwanderung an die Macht, egal wie viel Blut, Zerstörung und persönliches Unglück das auch kostet, oder das Ganze verfault, so wie es ist."

    Ständig oszillieren Fejtös Beshreibungen zwischen der Beschwörung vom Zauber dieses Landstrichs und seiner Bewohner und der Ahnung, die Welt ist brüchig geworden. Deshalb betont auch seine Übersetzerin Agnes Relle:

    "Natürlich ist es sehr viel mehr als eine Bestandsaufnahme dessen, was er dort gerade sieht, es sind auch dann ganz grundsätzliche Überlegungen. Diese Reise war ein Aufatmen, eine Befreiung und eben auch die Möglichkeit, sich über den eigenen Standpunkt bewusst zu werden. Das heißt, in diesem Buch sind ganz viele, ganz grundsätzliche weltanschauliche Gedanken mit einer wunderbaren Leichtigkeit und mit großartigen Formulierungen, das heißt, es ist einfach ein Rundbild von so Vielem: Es sind die Erinnerungen, die Monarchie, seine Kindheitserlebnisse, die Familiengeschichte; aber es sind auch ganz philosophische Überlegungen und Fejtö liebte das Leben sehr, immer, und genoss es, und auch dieser Lebensgenuß ist in diesem Buch."

    Sein Haus in Neuilly bei Paris war immer ein offener, gastfreundlicher Ort für alle freien Geister Europas. Er war befreundet mit Joseph Roth, Egon Erwin Kisch, Arthur Koestler, Eugène Ionesco, André Malraux, Albert Camus und Jean-Paul Sartre. Vor allem aber fanden die Dissidenten aus Mittel- und Osteuropa immer eine herzliche Aufnahme in seinem Haus. Der Nobelpreisträger Imre Kertész besuchte ihn dort mehrfach:

    "Sie schätzten sich gegenseitig sehr. Imre Kertész schrieb auch eine Hommage auf Fejtö und sagte da, wer einmal das Vergnügen hatte, mit Dir ein Gespräch zu führen, wird es nie mehr missen wollen."

    Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, der Europa so schmerzlich getrennt hatte, kehrte François Fejtö zurück ins Bewusstsein seiner Heimat und wurde zu einem gefeierten Zeitzeugen, dessen Rat gefragt war. Als er am 2. Juni 2008 in Paris starb, wurden in Ungarn die Fahnen auf Halbmast gesetzt - das war noch unter der sozialdemokratischen Regierung - und er wurde beigesetzt auf dem Budapester Nationalfriedhof.

    "Mit Ehrengarde und so weiter, es war ein ganz großes, hochoffizielles Staatsbegräbnis. Jeder, der Rang und Namen hatte, äußerte sich dazu. Wobei es fast ein bisschen zu rot/weiß/grün geworden ist, dieses Begräbnis, denn François Fejtö war ein überzeugter Ungar, aber er war in allererster Linie eben auch Europäer par excellence. Seine Utopie war immer, dass man doch zu einer europäischen Identität finden müsse über die Grenzen hinweg."

    Fejtö bezeichnete sich selbst als 'ungarischer Franzose'. Wie schon in seiner "Reise nach Gestern" war sein Respekt gegenüber freiheitsliebenden Völkern tief verwurzelt und deren Literaturen waren ihm immer – obwohl er im Hauptberuf Historiker war – ein wichtiger Quell seiner Erkenntnis. Bereits im Jahr 1936 gab er zusammen mit dem ungarischen Nationalpoeten Attila József in Budapest die Literaturzeitschrift "Szép Szó" – schönes Wort – heraus, die wegweisend auf die damalige junge ungarische Literatur wirkte. Ein großes Glück für den heutigen Leser ist, nun seinen eigenen literarischen Text, der so lange verschollen war, lesen zu können in einer vorzüglichen Übersetzung. Angereichert hat Agnes Relle den Band mit einem Fototeil, Fotos aus der Familiengeschichte von Fejtö, die er ihr in einer Schachtel überreichte, und erweitert durch Ansichtskarten aus der Zeit, die die Übersetzerin aus Archiven ausgegraben hat und die stimmungsvoll den Reisebericht ergänzen. Unbefangen kann der heutige Leser diese empfindsame poetische Reise nicht wahrnehmen, darüber hat sich die Dämonie der Geschichte gelegt.

    "Ich muss sagen, dass mich dieses Stimmungsbuch eben auch deswegen so betroffen hat, weil ich die heutige Lage gespenstisch, gespenstische Parallelen empfinde, oder mich frage, wie sieht es heute aus, wie geht es heute weiter. Und darum finde ich dieses Buch gerade heute noch mal doppelt brisant, und es erklärt auch so viel dessen, was heute die Wurzeln dieser ganzen Spannungen sind."

    François Fejtö: "Reise nach Gestern". Aus dem Ungarischen von Agnes Relle, Matthes & Seitz, 351 S., 29,90 Euro