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Der unschickliche Antrag

Filippo Genuardi, genannt Pippo, Holzhändler in dem sizialianischen Städtchen Vigatà und innig geliebter Ehemann, wendet sich an einem Sommertag im Jahre 1891 an seine Exzellenz Vittorio Marascianno, den Präfekt von Montelusa. In seinem Schreiben bittet er untertänigst um die Mitteilung, welche Unterlagen für die Beantragung eines Telefons zum privaten Gebrauch von nöten seien. Dazu der Autor Andrea Camilleri:

Maike Albath |
    "Mir geriet dieses wunderbare Dokument aus dem Nachlaß meines Großvaters in die Hände, ein gesetzliches Dekret des Ministers für die Bewilligung eines Telefons. In meinem Buch gebe ich es zum Teil wieder. Die Idee entstand wirklich aus dem, was dort dargelegt wird: daß die Kosten für die Errichtung der Anlage von demjenigen getragen werden müssen, der das Telefon beantragt. Ich habe mir folgendes überlegt. Alle 50 Meter muß man einen Masten setzen, auf meinem eigenen Grundstück bringe ich gerade fünf unter, dann geht es bei meinem Nachbarn weiter. Die Leitungen mußten damals völlig gradlienig verlegt werden. Ich gehe also zu meinem Nachbarn und der sagt mir "Nein". "Warum nicht?" "Weil ich dich noch nie leiden konnte". Also, was macht man dann?"

    Wie immer bei unlösbaren Schwierigkeiten gibt es auf Sizilien noch eine andere Möglichkeit, seinen Willen durchzusetzen. Man wendet sich an den ortsansässigen Mafiaboß, in Vigatà Calogero Longhitano, genannt Don Lollò, und läßt ihn walten. Doch bevor Pippo Genuardi in die Fangarme der ehrenwerten Gesellschaft gerät, laufen noch eine Menge anderer Dinge schief. Mit seinem Anliegen tritt er eine Lawine los: Weil der Präfekt die falsche Anlaufstelle ist, bekommt Pippo keine Antwort. Er schreibt weitere Briefe, bittet Bekannte und Freunde um Beistand, wird schließlich von dem paranoiden Präfekt des Hohns verdächtigt und heimlich überwacht, facht Streitigkeiten zwischen dem Polizeipräsidenten, dem Kabinettchef und dem Kommandanten der Carabinieri an, die fünf Strafversetzungen nach Sardinien zur Folge haben und landet irgendwann selbst im Gefängnis. Und das ist nur der Anfang des virtuos verschachtelten Romangebildes Der unschickliche Antrag von Andrea Camilleri, in dem der Leser mitten in das Wirrwarr sizilianischer Ränkeschmiede und Kungeleien hinein stürzt. Camilleri, der 1978 debütierte und 40 Jahre lang als Theater- und Filmregisseur beim staatlichen Fernsehen beschäftigt war, entwirft seinen Roman als eine dichte Szenenfolge:

    "In Der unschickliche Antrag unternehme ich den Versuch, mich als Autor völlig zurückzuziehen. Natürlich geht das eigentlich nicht, denn jeder weiß, daß selbstverständlich ich es bin, der sämtliches Material auswählt und zusammenstellt. Es handelt sich um ein Verfahren, daß häufig in Theaterstücken angewandt wird. Ich bekomme auf diese Weise eine größere Freiheit in der Komposition und lasse mich als Autor nicht von der Systematik des Romans absorbieren, sondern übertrage sie dem Leser. Ich sage ihm, übernimm du das, ich verstecke mich solange hinter den Kulissen."

    Rund vierzig Figuren läßt Camilleri auf seiner imaginären Bühne tanzen: Da korrespondiert der Leiter der Polizeidienststelle mit dem Polizeipräsidenten, da werden Schriftstücke ausgetauscht zwischen der Verwaltung des Post- und Telegraphenwesens und dem Landvermesser, da wendet sich der Generaldirektor der Polizei an den Unterpräfekt Cavalliere Bivona, der wiederum mit dem Leiter des Postamtes, dem Pfarrer und verschiedenen Advokaten in Kontakt tritt. Außerdem konferieren, plaudern, tratschen und zanken Ehepaare, Geliebte und Freundinnen miteinander, ebenso wie Brüder, Schwäger und Schwiegerväter. Camilleri unterteilt seinen Roman in sieben Kapitel, die er als "Geschriebens" oder "Gesagtes" ankündigt und präsentiert seine vielköpfige Heldenschar ausschließlich in Briefen und wörtlicher Rede, ergänzt durch einige Zeitungsartikel. Aus den Äußerungen Rückschlüsse zu ziehen und die Handlungsfragmente zusammenzusetzen, ist Aufgabe des Lesers. Obwohl dieser immer etwas besser Bescheid weiß als die Akteuere, kann er die Verwicklungen nicht voraussagen und ist bald ebenso in die Turbulenzen verstrickt wie die Bewohner des Städtchens Vigatà. Ein polyphones Stimmengewirr entspinnt sich, das zuweilen zu einem regelrechten Gezeter anwächst, wirkungsvoll kontrastiert mit dem Formalismus der schriftlichen Korrespondenz. In den Dialogen verwendet Camilleri ein vitales sizilianisches Idiom:

    "Ich mußte eine Sprache erfinden. Am Anfang habe ich versucht, in einem normalen Hochitalienisch zu schreiben. Aber das ist eine Art Passepartout. Man benutzt dieselbe Sprache, um zu sagen "hatten sie eine gute Reise" oder "Herr Präfekt, könnten sie mir folgendes geben". Das war nicht gut. Ich suchte nach anderen Ausdrucksformen, ich brauchte etwas, das über die normale Alltagssprache hinausging. Also habe ich erforscht, wie bei uns Zuhause gesprochen wird, wie sich die sizilianischen Kleinbürger ausdrücken, die eine Mischung aus Italienisch und Dialekt benutzen und beides miteinander vermischen. Ich habe darauf geachtet, wann man den Dialekt gebraucht und wann die Hochsprache. Der Dialekt signalisiert Familiarität, eine engere Beziehung, während das Italienische Distanz ausdrückt, das Gesetz, das Offizielle."

    Die gekonnte Vermischung verschiedener Sprachebenen, der phantasievolle Umgang mit dialektalen Redeweisen und die bewußt inszenierten Stilbrüche sind eine Spezialität des ehemaligen Regisseurs und machen ihn zu einem der interessantesten italienischen Romanciers der Gegenwart. Obwohl das sizilianische Kolorit in der deutschen Fassung zwangsläufig verloren geht, gelingt es dem Übersetzer Moshe Kahn, Camilleris Stilvielfalt ins Deutsche zu übertragen. Die Schriftstücke der Regierungsbeamten sind gleichermaßen servil, pompös und barock verschnörkelt. Im Privatleben des unglücklichen Protagonisten mit dem Telefonwunsch herrscht eher ein drastisch-rotziger Tonfall. An unflätigen Vokabeln wird nicht gespart, von "gehörnter Sauknochen" bis "Tripperblödel" muß Pippo Genuardi sich einiges an den Kopf werfen lassen. Das Sizilianische taucht in Camilleris Romanen nicht nur als sprachlicher Humus auf. Für den Schriftsteller, der seine Heimat in den 50er Jahren verließ und seitdem in Rom lebt, steht Sizilien auch für einen bestimmten Menschenschlag, eine Lebensweise. Es ist fast so etwas wie ein Topos:

    "Ein Kennzeichen des Sizilianischen ist das Inseldasein. Es ist das Wissen darum, daß man vom Meer umgeben ist, daß man, um auf den Kontinent zu gelangen, das Meer überqueren muß. Das ist etwas ganz anderes als eine normale Reise. Man nimmt nicht einfach einen Zug oder einen Wagen wie von Neapel nach Rom oder umgekehrt. Es gibt einen Riß, eine Trennung. Also richtet sich der Blick stärker auf das Innere, auf das, was innerhalb der Grenzen liegt. Auf Sizilien wie übrigens auch auf Sardinien hat die Familie einen ganz anderen Stellenwert als im Rest des Landes. Die Familie ist so etwas wie eine Burg, ihre Mauern schützen nicht nur vor Eindringlingen von außen, sondern verhindern, daß man von Innen nach Außen gelangt, und das ist der bremsende Effekt an der Sache. Auf den Inseln gibt es außerdem ein tiefes Empfinden von Solidarität."

    Der Antrag auf ein Telefon kann eine sizilianische Familie mit all ihren Verästelungen und Verzweigungen ins Wanken bringen, zumal wenn Intrigen und Betrug im Spiel sind und eine treu ergebene Gattin ihrem untreuen Gemahl auf die Spur kommt. Für den armen Pippo Genuardi, so viel sei verraten, geht die Geschichte schlecht aus. Das italienische Publikum mochte den sizilianischen Pechvogel und verhalf dem Roman, der mit mit den üblichen Bestsellerformaten völlig bricht, zu Platz eins auf den Listen der meist verkauften Titel. In Italien ist inzwischen von dem "Phänomen Camilleri" die Rede, denn nachdem der sizilianische Autor zwanzig Jahre lang nahezu unbeachtet schrieb und publizierte, schnellten 1997 plötzlich die Verkaufszahlen in die Höhe. Während die Literaturkritik Camilleri schlichtweg übersehen hatte, waren nun die Leser auf ihn aufmerksam geworden. Über eine Million Exemplare seiner Krimis und historischen Romane gingen im vergangenen Jahr über den Ladentisch. Dazu Camilleri:

    "Erfolg ist etwas sehr Schönes, das ist klar. Aber es ist nicht ganz einfach, danach so weiter zu schreiben, wie man es sich vorstellt. Ich muß mir Ohren verstopfen, denn mich erreichen jeden Tag Briefe, hunderte von Anregungen, das ist wie eine Fernsehserie, die immer weitergeht. Und dann einfach nein zu sagen, nein, ich höre nicht darauf, ich mache so weiter, wie ich es für richtig halte, ist nicht leicht. Außerdem lenken mich all diese Anfragen und Einladungen aus Bogotà, Amsterdam und von überallher zu sehr ab. Es gibt ein italienisches Lied, das heißt "ich bin nicht im richtigen Alter" im Sinne von "ich bin zu jung". Ich bin auch nicht im richtigen Alter in umgekehrter Hinsicht."

    Für eine commedia dell'arte alla siciliana scheint es genau das richtige Alter zu sein. Der unschickliche Antrag ist ein ironisches Sittengemälde Siziliens, witzig, humorvoll, angefüllt mit sprachlichen Preziosen. Vor einem Festnetzanschluß auf Sizilien sei allerdings gewarnt.