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Der unsichtbare Präsident

In seiner Antrittsrede nahm Christian Wulff all seinen Mut zusammen für den Satz "Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland". Seitdem ist es irgendwie still geworden um den Bundespräsidenten, der heute ein Jahr im Amt ist.

Von Arno Orzessek | 30.06.2011
    Über Christian Wulff ein bisschen abzulästern ist - bei allem Respekt - nun wirklich keine Kunst. Lästermäuler könnten auch sagen, dass Wulff sich genauso gern ruhig verhält, wie sein Lebensweg monoton ist. Der Mann ist ja auf einer geraden Linie oberhalb des 52sten Breitengrads aus seiner Heimatstadt Osnabrück ostwärts nach Hannover gegangen, wo er Ministerpräsident wurde, und von dort wiederum strikt ostwärts nach Berlin. Wolfsburg, wo Wulff als VW-Aufsichtsrat viel zu sagen hatte, lag natürlich auch genau auf der Linie.

    Als Bundespräsident a. D. wird Wulff dann vermutlich ostwärts nach Frankfurt an der Oder weiterziehen und dort mit Gesine Schwan, der Viadrina-Präsidentin, irgendetwas Gutes tun.

    Aber im Ernst: Ist Wulff nicht tatsächlich der ewige Osnabrücker geblieben, der Sohn der Friedensstadt, in deren Rathaus 1648 das konfessionelle Blutbad des 30-jährigen Krieges beendet wurde? Als Bundespräsident hat sich Wulff natürlich die Integration der Muslime im christlichen Abendland auf die Fahnen geschrieben - der Religionsfriede liegt dem Mann einfach im Blut. Für den Spruch, der Islam gehöre inzwischen auch zu Deutschland, seinem einzigen für die Geschichtsbücher bisher, nahm er sogar "friendly fire" in Kauf.

    Wenn man außerdem weiß, dass Osnabrück konfessionell wie auch parteipolitisch extrem ausgewogen ist, hat man dann den Katholiken Wulff, der in zweiter Ehe die Protestantin Bettina geheiratet hat, schon restlos durchschaut als den wackeren Ausgleich und Durchschnitt in Person?

    Nein, beileibe nicht! Niemand wird Wulff zum Wolf im Schafspelz stilisieren und auch nicht zum Cicero der raren Worte, aber man muss anerkennen: Ein Lebemann und Vollstrecker moderner Paradoxien ist er doch.

    Ein Friedrich Merz, ehemals CDU-Fraktionsvorsitzender, der musste sich interessant machen, indem er herausposaunte, er habe mit 14 Bier getrunken, an der Pommes-Bude abgehangen und überhaupt langhaarig auf dem Mofa das halbe Sauerland gerockt. Wulff macht sich verbal nicht wilder, als er ist, er macht einfach. Er ist Kuratoriumsmitglied der missionarisch-evangelikalen - um nicht zu sagen: fundamentalistischen - Vereinigung ProChrist, verteidigte aber die Ernennung Aygul Özkans zur niedersächsischen Sozialministerin und bändelte im Privaten mit einer Jüngeren an wie tausend andere Männer, denen christliche Gebote schnuppe sind.

    Der liebe Wulff, der wegen der Kreide in seiner Stimme als Anti-Sarrazin gelobt wird, hat in Niedersachsen das pauschale Blindengeld gestrichen und Sozialausgaben gekürzt. Als er im letzten Jahr, vor der Wahl zum Bundespräsidenten, tatsächlich etwas lauter wurde, ging's um die Atomkraft. Wulff empfahl der CDU, die Laufzeitverlängerung bitte schön offensiver zu vertreten. Als Bundespräsident hat er das Thema nicht mehr auf die Agenda gesetzt.

    Keiner der letzten Bundespräsidenten bekam nach einem Jahr eine herausragende Note. Christian Wulff setzt diese Reihe fort. Muss man sich Sorgen machen um seine künftige Reputation? Ja, man muss. Angela Merkels Ausstieg aus der politischen Sprache stellt Christian Wulff vor missliche Alternativen. Wenn er sich geistvoll in den Diskurs mischt, entblößt er die führungsschwache Kanzlerin, wenn er schweigt, vergeudet er sein Amt.

    Der Mann aus der Friedenstadt steckt offenbar in der Klemme.