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Der Urknall – ein gerichtsphilologisches Gutachten

Das 9000-Euro-Wörtchen lautet: "durchgeknallt". Durchgeknallt reimt sich auf Staatsanwalt. Man muss nicht Michael Naumann heißen und Chefredakteur der "Zeit" sein, um die Poesie dieses Zusammenhanges zu empfinden. Wenn man aber der Berliner Generalstaatsanwalt Hans-Jürgen Karge ist und sich mit "durchgeknallt" gemeint fühlt, dann liegt die Sache anders. Dann nämlich knallt’s. So kommt es, dass in einem hauptstädtischen Amtsgericht nun schon zum zweiten Mal als Strafsache verhandelt wird, was der Ex-Verlagsleiter von Rowohlt und Ex-Kulturminister vor ein paar Monaten in einer Fernsehtalkshow äußerte. Er sprach von einem "durchgeknallten Staatsanwalt", ein Ausdruck, welcher der Begrifflichkeit des Elektrizitätswesens entstammt, wie Naumann beim ersten Prozeßtermin letzte Woche ausführte.

    Wir treten also im Geiste vor den Sicherungskasten. Der Vergleich scheint umso passender, als auch die Staatsanwaltschaft viel mit Sicherheit zu tun hat. Aber dann befallen uns doch Zweifel wegen der Bezüge. Kann der Inhaber einer Sicherung genauso durchknallen wie diese selbst? Wo bleibt die Subtilität des vorgestellten Subjekt-Objekt-Verhältnisses zwischen einem Staatsanwalt und seinem Oberstübchen? Weg ist sie, umgangssprachlich zusammengeschmolzen wie eine durchgeknallte Sicherung, die übrigens in dem Augenblick, da sie elektrischer Überlast nachgibt, nicht wirklich knallt. Der Schalleffekt bildet jedoch des Wortes ursprüngliche Bedeutung: mittelhochdeutsch hieß es "erknellen", der englische Ausdruck "knell" für "Glockenschlag" leitet sich davon ab. Später fand eine Übertragung der Hör- auf Gesichtsempfindungen statt; deswegen kann zum Beispiel ein Staatsanwalt vor Wut auch knallrot anlaufen.

    Da der Berliner sowieso das Knallige liebt, hat er das Vorkommnis des Knallens ins Besitzhafte gewendet. "Er hat einen Knall" heißt demnach: er ist durchgeknallt, was wiederum bloß eine Kurzform für die durchgeknallten Sicherungen ist. In jedem Fall sind Knalleffekte allenthalben linguistisch auf dem Vormarsch. Und das liegt wahrscheinlich daran, dass im Knall eine irgendwie triftige Zeitgeistdiagnose steckt: laut und plötzlich – das sind die wichtigsten Attribute unserer Existenz geworden. Selbst etwas ganz Weiches, Langsames und Leises ist davon affiziert: Man knallt sich noch ein Bier 'rein, bevor man sich ins Bett knallt. In diesem Sinne können wir uns eine ganz allmähliche Entwicklung des Berliner Generalstaatsanwalts zum Wunderlichen hin vorstellen und sie dennoch mit der Formulierung "durchgeknallt" in Einklang bringen. Ja, wir wollen die psychologische Ambivalenz dieser Entwicklung noch betonen. Möglicherweise hat sich der Staatsanwalt in Naumann nicht nur verkrallt, sondern eben auch verknallt.