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Der Vater der Geisteswissenschaften

Wilhelm Dilthey gilt bis heute als einer der bedeutendsten deutschen Philosophen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er wollte die Geisteswissenschaften als eigene Disziplin etablieren und unterschied sie deutlich von den Naturwissenschaften.

Von Florian Ehrich | 01.10.2011
    "Auf welche Weise ist die Welt, welche für uns nur in unserer Anschauung und Vorstellung existiert, in dieser uns gegeben? Durch welche Vorgänge gestaltet sich in uns aus den zerstreuten, von überall eindringenden Reizen, welche die Sinne treffen, das Bild der Außenwelt, in welchem wir leben? Durch welche Vorgänge und mit welchem Grad von Realität fassen wir die innere geistige Welt auf?"

    Bereits in seiner Baseler Antrittsvorlesung im Jahre 1867 warf Wilhelm Dilthey die zentralen Fragen seines Denkens auf. Der 1833 im hessischen Biebrich geborene Philosoph wollte die Geisteswissenschaft als eigenständige Disziplin etablieren und betonte ihre Verschiedenheit von den Naturwissenschaften. 1870 erschien sein Aufsehen erregendes Werk, das "Leben Schleiermachers". Die Studie über den preußischen Theologen bescherte Dilthey den Ruf eines feinsinnigen Kenners der deutschen Geistesgeschichte. Seine Absichten gingen jedoch viel weiter: Dilthey versuchte darzulegen, wie Vernunft und Erfahrung durch die Geschichte geprägt sind. In Anlehnung an Kant nannte Dilthey dieses Projekt einmal "Kritik der historischen Vernunft." Der Kunsthistoriker Gustav Friedrich Hartlaub, der sich in seiner Forschung selbst auf Dilthey bezog, erklärte:

    "Für die Frage, was denn der Mensch sei, hat Wilhelm Dilthey eine besondere Bedeutung, weil er den Menschen als ein geschichtliches Wesen bestimmt hat, das sich niemals durch Introspektion, sondern immer nur durch die Geschichte versteht. Er sagt darüber: ?Was der Mensch sei, das erfährt er ja doch nicht durch Grübelei über sich, auch nicht durch psychologische Experimente, sondern durch die Geschichte.? Und so wurde das Sein in der Zeit sein eigentliches Thema."

    Wie aber kann dieses geschichtliche Sein erkannt werden? Dilthey zufolge, der wie so viele Gelehrte seiner Zeit Sohn eines protestantischen Pfarrers war, kann das nur in strikter Abgrenzung zu den Methoden der im 19. Jahrhundert so immens erfolgreichen Naturwissenschaften gelingen:

    "Nun unterscheiden sich zunächst von den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften dadurch, dass jene zu ihrem Gegenstande Tatsachen haben, welche im Bewusstsein als von außen, als Phänomene und einzeln gegeben auftreten, wogegen sie in diesen von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten. Hier ergibt sich für die Naturwissenschaften, dass in ihnen nur durch ergänzende Schlüsse, vermittelst einer Verbindung von Hypothesen, ein Zusammenhang der Natur gegeben ist. Für die Geisteswissenschaften folgt dagegen, dass in ihnen der Zusammenhang des Seelenlebens als ein ursprünglicher gegeben und überall zugrunde liegt. Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir."
    Dilthey interessierten alle Facetten des menschlichen Seelenlebens. Er untersuchte die theoretischen Grundlagen der Philosophie, beschäftigte sich aber auch mit pädagogischen Fragen, entwarf ein System der Ethik und schrieb sogar eine Novelle. Berühmt wurde sein Buch "Das Erlebnis und die Dichtung" mit Aufsätzen über Lessing, Goethe, Novalis und Hölderlin.
    Von besonderer Bedeutung war sein Aufenthalt in Breslau, wo er Johannes Brahms und Clara Schumann kennenlernte. Hier begann auch der intensive Gedankenaustausch mit Paul Yorck von Wartenberg. Der Freund, selbst Philosoph, begleitete Diltheys Schaffen über Jahrzehnte mit Rat und Kritik, wie der Briefwechsel der beiden Denker zeigt.

    Nach Dilthey können die Geisteswissenschaften zwar nicht das unergründliche Leben selbst erhellen, wohl aber seine Äußerungen, so der Philosoph und Pädagoge Max Liedtke:

    "Gegenstand der Geisteswissenschaften ist aber nicht das Leben, sondern Dilthey sagt die Objektivation des Lebens. Was heißt Objektivation im Sinne Diltheys? Das bedeutet, das Leben hat nach außen hin, das heißt in der Sinnenwelt seinen Ausdruck gefunden. In dem Sinne ist Leben objektiviert - etwa in der Literatur, im Kunstwerk, überhaupt in der Gesetzgebung, in den gesellschaftlichen Verhaltensweisen. Dilthey spricht manchmal von dem objektivierten Geist, mit dem wir es in den Geisteswissenschaften zu tun haben."

    Das ehrgeizige Vorhaben, den zweiten Band seiner "Einleitung in die Geisteswissenschaften" zu schreiben, der seine Gedanken auf eine systematische Grundlage stellen sollte, konnte der unermüdlich Produktive jedoch nicht mehr verwirklichen. Wilhelm Dilthey starb am 1. Oktober 1911 in Seis am Schlern in Südtirol.