Dem Philosophen will nicht wohl werden beim Anblick seines Landes. Nichts Universales, nichts Außergewöhnliches verkörpert es mehr, der weltgeschichtliche Anspruch von einst ist gründlich dahin. Spätestens 1898, mit dem Verlust der letzten Kolonien, hat Spanien seine frühere Größe verloren, und wie viele Intellektuelle seiner Generation glaubt der 1883 geborene Philosoph José Ortega y Gasset vor dem Trümmerhaufen der Geschichte zu stehen. Verantwortlich dafür: der spanische Nationalcharakter.
"Wir sind ein Volksvolk, eine ackerbautreibende Rasse, bäuerliche Charaktere. Denn Bäuerlichkeit ist das charakteristische Merkmal von Gemeinschaften ohne Elite. Wenn man die Pyrenäen überschreitet und spanischen Boden betritt, hat man immer das Gefühl, zu einem Volk von Landleuten zu kommen. Wuchs, Gebärden, Gedanken und Gefühle, Tugenden und Laster sind typisch bäuerlich. In Sevilla, einer Stadt von 3000 Jahren, trifft man auf den Straßen fast lauter Ackerbauern."
Ortega y Gasset dachte in heute befremdlich anmutenden Begriffen. Kulturpsychologie und Nationalcharakter, das waren Vorstellungen, mit denen er etwas anfangen konnte. Und doch war er kein Fatalist. Er selbst suchte von 1905 an der Enge seines Landes durch einen langjährigen Studienaufenthalt in Deutschland zu entkommen. Hier lernt er außer der Sprache auch den philosophischen Idealismus kennen, der ihn eine dynamische Geschichtsvorstellung lehrte. Sie erklärt er ein halbes Jahrhundert später, in den frühen 1950er Jahren auf einer Vortragsreise in Deutschland:
"Eine Zivilisation ist in Wahrheit eine Kontinuität von Geschehnissen, die zeitweise eine geschlossene Figur bilden. Aber die Zivilisation ist nichtsdestoweniger frei von dieser Figur. "
Und doch, dieser Optimismus reibt sich mit der Diagnose seines berühmtesten Werks, des "Aufstands der Massen" aus dem Jahr 1930. In ihm hatte er die europäische Kultur in durchaus düsteren Farben gemalt – verdüstert vom Schatten der Massen, der sich auf den Kontinent gelegt hatte.
"Die Städte sind überfüllt mit Menschen, die Häuser mit Mietern, die Hotels mit Gästen, die Züge mit Reisenden, die Cafés mit Besuchern; es gibt zu viele Passanten auf der Straße, zu viele Patienten in den Wartezimmern berühmter Ärzte; Theater und Kinos, wenn sie nicht ganz unzeitgemäß sind, wimmeln von Zuschauern die Badeorte von Sommerfrischlern. Was früher kein Problem war, ist es jetzt unausgesetzt: einen Platz zu finden. "
Wer sich da auf den Bänken lümmelt und der Elite die Plätze stiehlt, der, man ahnt es, ist zu politischer Reife ganz und gar unfähig. Das Aufkommen der Masse, so sah es Ortega y Gasset, ist auch eine große politische Gefahr, denn unter ihrer Macht verkommt auch die Demokratie, die ja stets darauf angewiesen sei, von den Besten gestaltet zu werden. Auf diese Besten hören die Vielen aber immer weniger.
"Die alte Demokratie wurde durch eine kräftige Dosis Liberalismus und Verehrung für das Gesetz gemildert. Wer diesen Grundsätzen diente, war verpflichtet, bei sich selbst eine strenge Zucht aufrechtzuerhalten. (…) Heute wohnen wir dem Triumph einer Überdemokratie bei, in der die Masse direkt handelt, ohne Gesetz, und dem Gemeinwesen durch das Mittel des materiellen Drucks ihre Wünsche und Geschmacksrichtungen aufzwingt. (…) Die Masse glaubt, es sei ihr gutes Recht, ihre Stammtischweisheiten durchzudrücken und mit Gesetzeskraft auszustatten. Ich bezweifle, dass es noch eine geschichtliche Epoche gegeben hat, in der die Masse so umweglos reagierte wie in unserer Zeit. Darum spreche ich von einer Hyperdemokratie."
Ortega y Gasset war elitär. Aber er war kein Feind der Republik. 1931 wurde er Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung seines Landes. Vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs floh er ins Ausland. Nach Spanien kehrte er erst 1945 wieder zurück. Die Isolation seines diktatorisch regierten Landes veranlasste ihn, die Zukunft Europas in transnationalen Gefügen zu suchen. Die einzelnen Länder, so sah er es bereits Anfang der 1950er Jahre, waren längst nicht mehr fähig, auf die Probleme der entstehenden Weltgesellschaft angemessen zu reagieren.
"Nicht einmal die elementarsten Wirtschaftsprobleme können von einer einzelnen Nation aus gelöst werden. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil diese Probleme gar nicht in irgendeinen nationalen Territorium wurzeln, sondern in ungleich weiteren historischen Räumen. "
Spaniens Aufbruch aus der Isolation erlebte Ortega y Gasset nicht mehr. Gegen Ende seines Lebens am Schicksal seines Landes kaum glücklicher geworden als an dessen Anfang, erlag der große Verächter der Massengesellschaft am 18. Oktober 1955 den Folgen seines schweren Krebsleidens.
"Wir sind ein Volksvolk, eine ackerbautreibende Rasse, bäuerliche Charaktere. Denn Bäuerlichkeit ist das charakteristische Merkmal von Gemeinschaften ohne Elite. Wenn man die Pyrenäen überschreitet und spanischen Boden betritt, hat man immer das Gefühl, zu einem Volk von Landleuten zu kommen. Wuchs, Gebärden, Gedanken und Gefühle, Tugenden und Laster sind typisch bäuerlich. In Sevilla, einer Stadt von 3000 Jahren, trifft man auf den Straßen fast lauter Ackerbauern."
Ortega y Gasset dachte in heute befremdlich anmutenden Begriffen. Kulturpsychologie und Nationalcharakter, das waren Vorstellungen, mit denen er etwas anfangen konnte. Und doch war er kein Fatalist. Er selbst suchte von 1905 an der Enge seines Landes durch einen langjährigen Studienaufenthalt in Deutschland zu entkommen. Hier lernt er außer der Sprache auch den philosophischen Idealismus kennen, der ihn eine dynamische Geschichtsvorstellung lehrte. Sie erklärt er ein halbes Jahrhundert später, in den frühen 1950er Jahren auf einer Vortragsreise in Deutschland:
"Eine Zivilisation ist in Wahrheit eine Kontinuität von Geschehnissen, die zeitweise eine geschlossene Figur bilden. Aber die Zivilisation ist nichtsdestoweniger frei von dieser Figur. "
Und doch, dieser Optimismus reibt sich mit der Diagnose seines berühmtesten Werks, des "Aufstands der Massen" aus dem Jahr 1930. In ihm hatte er die europäische Kultur in durchaus düsteren Farben gemalt – verdüstert vom Schatten der Massen, der sich auf den Kontinent gelegt hatte.
"Die Städte sind überfüllt mit Menschen, die Häuser mit Mietern, die Hotels mit Gästen, die Züge mit Reisenden, die Cafés mit Besuchern; es gibt zu viele Passanten auf der Straße, zu viele Patienten in den Wartezimmern berühmter Ärzte; Theater und Kinos, wenn sie nicht ganz unzeitgemäß sind, wimmeln von Zuschauern die Badeorte von Sommerfrischlern. Was früher kein Problem war, ist es jetzt unausgesetzt: einen Platz zu finden. "
Wer sich da auf den Bänken lümmelt und der Elite die Plätze stiehlt, der, man ahnt es, ist zu politischer Reife ganz und gar unfähig. Das Aufkommen der Masse, so sah es Ortega y Gasset, ist auch eine große politische Gefahr, denn unter ihrer Macht verkommt auch die Demokratie, die ja stets darauf angewiesen sei, von den Besten gestaltet zu werden. Auf diese Besten hören die Vielen aber immer weniger.
"Die alte Demokratie wurde durch eine kräftige Dosis Liberalismus und Verehrung für das Gesetz gemildert. Wer diesen Grundsätzen diente, war verpflichtet, bei sich selbst eine strenge Zucht aufrechtzuerhalten. (…) Heute wohnen wir dem Triumph einer Überdemokratie bei, in der die Masse direkt handelt, ohne Gesetz, und dem Gemeinwesen durch das Mittel des materiellen Drucks ihre Wünsche und Geschmacksrichtungen aufzwingt. (…) Die Masse glaubt, es sei ihr gutes Recht, ihre Stammtischweisheiten durchzudrücken und mit Gesetzeskraft auszustatten. Ich bezweifle, dass es noch eine geschichtliche Epoche gegeben hat, in der die Masse so umweglos reagierte wie in unserer Zeit. Darum spreche ich von einer Hyperdemokratie."
Ortega y Gasset war elitär. Aber er war kein Feind der Republik. 1931 wurde er Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung seines Landes. Vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs floh er ins Ausland. Nach Spanien kehrte er erst 1945 wieder zurück. Die Isolation seines diktatorisch regierten Landes veranlasste ihn, die Zukunft Europas in transnationalen Gefügen zu suchen. Die einzelnen Länder, so sah er es bereits Anfang der 1950er Jahre, waren längst nicht mehr fähig, auf die Probleme der entstehenden Weltgesellschaft angemessen zu reagieren.
"Nicht einmal die elementarsten Wirtschaftsprobleme können von einer einzelnen Nation aus gelöst werden. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil diese Probleme gar nicht in irgendeinen nationalen Territorium wurzeln, sondern in ungleich weiteren historischen Räumen. "
Spaniens Aufbruch aus der Isolation erlebte Ortega y Gasset nicht mehr. Gegen Ende seines Lebens am Schicksal seines Landes kaum glücklicher geworden als an dessen Anfang, erlag der große Verächter der Massengesellschaft am 18. Oktober 1955 den Folgen seines schweren Krebsleidens.