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Der veränderte Blick. Über den Einfluß von Sehfehlern auf Kunst und Charakter

Künstler, befanden unsere Großeltern mokant, sind verkrachte Existenzen. Im besten Falle mutwillige Selbstzerstörer, die sich durch ausschweifendes Sexualverhalten syphilitischen Wahnsinn zuzogen, im schlechtesten Falle Psychopathen oder von Geburt an verstümmelt. Das Volk wusste es immer schon, doch erst 1928 verhalf der deutsche Psychiater Wilhelm Lange-Eichbaum diesem Vorurteil zu akademischen Ehren. "Genie, Irrsinn und Ruhm" betitelte er seine umfangreiche Datensammlung zur Pathogenese genialer Menschen wohlklingend, die in ihrem Sammelwahn selbst etwas irrsinnig Genialisches hat. Mittlerweile ist das - immer noch lieferbare - Werk auf 11 Bände angeschwollen, ein nie versiegender Quell des Trostes und der Selbstvergewisserung. Denn wer durchschnittlich ist, will sich versichern können, dass Überdurchschnittlichkeit einen unbezahlbaren Preis kostet.

Florian Felix Weyh |
    Auch Patrick Trevor-Ropers Studie "Der veränderte Blick" stammt nicht aus dem ersten Jahrzehnt unseres neuen Jahrtausends, sondern wurde bereits 1970 veröffentlicht. Allerdings nur in Großbritannien, dem Land, das seinen Exzentrikern rote Teppiche ausrollt, weswegen die Bewertungen des Ophtalmologen - also Augenarztes, nicht Psychiaters - viel dezenter ausfallen. Gleichwohl will er etwas nachweisen, dass nämlich Sehfehler, vom Schielen bis zur Kurzsichtigkeit, von der Farbenblindheit bis zum Grauen Star, für die Betroffenen keine Bagatellen darstellen. Und den Beweis führt er an derselben Klientel wie Lange-Eichbaum: den Überdurchschnittlichen, den Begabten, den Empfindsamen. Kurzum an jenen Menschen, denen man früher das Prädikat "genial" verlieh - als es noch nicht undemokratisch-anrüchig klang.

    Bei Malern fällt die Beweisführung naturgemäß leicht. Dass Albrecht Dürer schielte, lässt sich nicht nur seinen Selbstportraits entnehmen, sondern auch dem berühmten Abbild seiner Mutter, deren Augenfehlstellung Dürer offensichtlich erbte. Ein Gemeinplatz auch die Kurzsichtigkeit der Impressionisten. Renoir genügte es, unbebrillt ein paar Schritte zurückzutreten, schon nahm er konventionelle Gemälde quasi impressionistisch wahr, und von Çezanne ist der Ausruf überliefert: "Nehmt diese vulgären Dinger weg!", als man ihm eine Brille anbot. Je komplizierter die Fehlstellungen des Auges, desto gravierender die Auswirkungen auf den Bildaufbau. Der Krümmungsfehler der Hornhaut beim Astigmatismus beeinflußt die Komposition, wie Trevor-Roper in seinem mit reichhaltigem Bildmaterial ausgestatten Band demonstriert. Fotografiert man nämlich Bilder von El Greco, Holbein oder Lucas Cranach durch eine korrigierende Linse, verändert sich die Bildwirkung verblüffend: Die Körperproportionen der Abgebildeten - etwa beim berühmten Portrait Heinrichs des Achten - entzerren sich und gewinnen an Natürlichkeit.

    Schwieriger wird es bei der Fehlsichtigkeit von Dichtern. Ihre Metaphernsprache folgt nicht zwangsläufig dem Handikap der Augen, wenngleich sich Trevor-Roper um Belege von kurzsichtigen und farbenblinden Autoren bemüht. Nachvollziehbar wird die Veränderung erst beim Totalverlust des Augenlichts: Blinde Autoren schreiben anders als sehende, von Geburt an erblindete anders als diejenigen, die noch eine Vorstellung von der visuellen Welt bewahrt haben. Das Zusammenspiel der Sinne - und die evolutionär gewachsene Dominanz des Auges - beschreibt der britische Augenarzt plastisch und einleuchtend. Nur dort, wo es an spezifische Krankheitsbilder seines Fachbereiches geht, verlässt ihn sein Talent zur Anschaulichkeit. Was jenseits der skurrilen Fallsammlung nach der Lektüre übrigbleibt, hat die Londoner Times schon nach der Erstveröffentlichung mit britischem Understatement auf den Punkt gebracht: Man könne dieses Buch nicht ohne Gewinn für die eigene Konversation lesen. Verblüffen wir also bei der nächsten Party mit dem Aperçu, dass sich Umzugskartons, die man grün anstreicht, subjektiv leichter tragen lassen als schwarze. Die Umstehenden werden dankbar sein.