Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Der verborgene Schaltplan des Gehirns
Manuskript: Mein Konnektom, das bin ich!

Alles, was wir wahrnehmen, fühlen oder lernen, wird in unserem Gehirn gespeichert. Jede Erfahrung führt zu einer neuen Verschaltung von Nervenzellen. Die Summe dieser Billionen Kontakte ist das, was unsere Persönlichkeit ausmacht.

Von Michael Lange | 11.05.2014
    Das Modell eines menschlichen Gehirns
    Das Modell eines menschlichen Gehirns (dpa / picture alliance / Weigel)
    Vor einem Jahr trat US-Präsident Barack Obama mit einem ungewöhnlichen Thema vor die Presse. Er sprach über das menschliche Gehirn.
    "Wir haben immer noch nicht das Mysterium der drei Pfund Materie entschlüsselt, die zwischen unseren Ohren sitzt."
    Was Obama "Materie zwischen den Ohren" nennt, ist das komplizierteste Netzwerk der Welt: über hundert Milliarden Nervenzellen mit etwa hundert Billionen Verbindungen. Gemeinsam bilden sie das "Konnektom". Ein gewaltiges Rätsel, das darauf wartet gelöst zu werden.
    Schon einmal, in den 90er-Jahren, machte man sich auf, den Menschen ganz zu verstehen - Computer waren so weit, Milliarden Daten zu speichern, und so wuchs der Plan, die gesamte Erbinformation des Menschen zu lesen und zu erforschen. Der Mensch als Produkt seiner Erbinformation stand im Mittelpunkt: "Ich bin mein Genom".
    Heute wissen wir: Das Genom erklärt nicht alles. Die Milliarden Buchstaben im menschlichen Bauplan werfen ständig neue Fragen auf.
    Weitere Großprojekte wurden ins Leben gerufen. Dem Genom folgte das Transkriptom, die Gesamtheit der Genaktivitäten und das Proteom, die Gesamtheit der Proteine.
    Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wagen die Datensammler den nächsten großen Schritt. Im Zeitalter von Internet und sozialen Netzwerken wenden sie sich dem Gehirn zu. Hier finden sie das komplizierteste und beste aller Netze. Ihr Ziel: Sie wollen die Gesamtheit der Verknüpfungen im Gehirn-Netzwerk erfassen - das Konnektom.
    Nichts ist Zufall
    5.000 Gehirnexperten füllten die große Halle bei der Tagung der amerikanischen Neurowissenschaftler in San Diego. Und sie staunten nicht schlecht. Auf mehreren Leinwänden präsentierte der Harvard-Professor Jeff Lichtman ein undurchschaubares Gewirr dünner Fäden in unterschiedlichen Farben – einen winzigen Teil des Mäuse-Gehirns.
    Nichts im Gehirn ist zufällig, planlos oder Willy Nilly, wie Jeff Lichtman es nennt. An der Harvard-Universität hat er in den letzten Jahren Methoden entwickelt, mit denen sich das Konnektom in allen seinen Einzelheiten entschlüsseln lässt.
    "Das, was einen Menschen ausmacht, kommt nicht aus seinen Genen. Vielmehr ist es die besondere Verdrahtung der Zellen im Gehirn, die jeden Menschen einzigartig macht. Und jetzt betrachten wir erstmals jede einzelne Zelle im Netzwerk Gehirn als Individuum."
    Um ein Netzwerk zu verstehen muss man wissen, wer mitspielt im Netz und wer wann mit wem in Kontakt steht. Im Gehirn sind die Nervenzellen die Mitspieler und die Kontaktstellen heißen "Synapsen".
    Immer wenn wir etwas lernen, entsteht eine Synapse, oder es wird eine Synapse verstärkt oder abgeschwächt. Mit jeder Erfahrung ändert sich unser Konnektom und mit ihm unsere Persönlichkeit. Eine Synapse, die die Forscher heute sehen, könnte morgen schon wieder verschwunden sein. Und dennoch hoffen die Forscher um Jeff Lichtman, im Konnektom nicht nur eine große Vielfalt zu entdecken. Sie wollen durch die Untersuchung des Netzwerks verstehen, wie das Gehirn arbeitet.
    "Es ist wahr: Ihre Verdrahtung im Gehirn und meine sind sehr unterschiedlich. Dennoch funktionieren unsere Netzwerke nach den gleichen Prinzipien - so wie jedes Schachspiel anders verläuft, weil es bei jedem Zug verschiedene Möglichkeiten gibt. Im Prinzip jedoch folgen alle Spiele den gleichen Regeln."
    Jede Nervenzelle im Gehirn steht mit tausenden, manchmal sogar Zehntausenden anderer Nervenzellen in Kontakt. An der Harvard-University wollen die Forscher jeden einzelnen dieser Kontakte kennenlernen. Zunächst bei der Maus und später beim Menschen.
    Durcheinander im Hirn
    Es gibt bereits verschiedene Karten und Diagramme des menschlichen Gehirns, aber sie sind zu grob. Mit der funktionellen Kernspin-Tomografie kommen Wissenschaftler gerade einmal in den Millimeterbereich. Ein mikroskopischer Gehirnatlas aus Jülich und Düsseldorf zeigt eine Auflösung von 20 Mikrometern. Das ist der fünfzigste Teil eines Millimeters. Dort sieht man die großen Autobahnen im Gehirn, das Durcheinander der vielen kleinen Verbindungsstraßen bleibt im Dunkel.
    Aber genau auf diese Details hat es Jeff Lichtman abgesehen. Seine Schnitte sind nur 30 Nanometer dünn. Fast 1000 Mal dünner als beim existierenden Gehirnatlas. Und eine Billion Mal genauer als die Kernspin-Tomografie.
    "Wir haben bereits große Teile einer solchen ultrafeinen Gehirnkarte entwickelt. Wir schneiden eine extrem dünne Scheibe einer Gehirnregion nach der anderen ab und fixieren sie auf einem Band - wie auf einer Filmrolle, in der sich einzelne Bilder zu einem Film verbinden. Und jeder dieser Schnitte ist 1.000 Mal dünner als ein menschliches Haar."
    Die vielen Schnittbilder lassen sich unter dem Elektronenmikroskop untersuchen. Sie werden in Bilddaten verwandelt und im Computer entstehen dann dreidimensionale Strukturen. Den Anfang macht - wie so oft - die Maus. Ihr Gehirn ist ähnlich vernetzt wie das des Menschen, nur eben viel kleiner. Und dennoch ist die Aufgabe, jede einzelne Verknüpfung in diesem winzigen Gehirn kennenzulernen, gewaltig.
    "Wir schaffen etwa tausend Gigabyte am Tag, also ein Terabyte. Und in hundert Tagen sind das hundert Terabyte. Das ist ein Bereich des Gehirns – so groß wie ein Salzkorn. Und die Maus hat Tausende davon. Deshalb entwickeln wir mit der Firma Zeiss eine Anlage, die drei oder vier Terabyte in der Stunde schafft. So wollen wir das Salzkorn in wenigen Tagen schaffen in hoher Auflösung."
    Um das vollständige Konnektom einer Maus zu erfassen, braucht dieses verbesserte Gerät "nur" noch ein paar Jahre – statt vieler Jahrzehnte. Auch am Konnektom der Taufliege Drosophila wird gearbeitet. Mit etwa 100.000 Nervenzellen ist es deutlich überschaubarer, vermutlich werden hier deutlich früher Ergebnisse vorliegen. Lichtman setzt dennoch auf die Maus, weil das Grundprinzip der Vernetzung wahrscheinlich ähnlich ist wie beim Menschen.
    "Nervenzellen sind wie ein soziales Netzwerk bei Facebook. Die meisten Freunde wohnen in der Nähe, aber einige Zellen haben Freunde überall und sind über lange Drähte mit ihnen verbunden. Und die Freunde kennen wieder andere, die auch weit verteilt sind. Das zu erfassen, ist nicht einfach."
    Spielerisch zum Konnektom
    Beim Genom-Projekt und anderen Großprojekten setzten die Wissenschaftler auf Fortschritte in der Computertechnik. Und tatsächlich wurden die Rechner immer kleiner und schneller. Aber das Konnektom lässt sich nicht einfach errechnen. Um die einzelnen Kontakte im Netz der Nerven zu finden, brauchen die Forscher Intelligenz - zum einen künstliche Intelligenz und zum anderen massenhafte Intelligenz im Netz.
    Amy Robinson sitzt am Computer und jagt eine Synapse – eine Verbindung zwischen zwei Nervenzellen. Als Creative Director gehört sie zu einem Forscherteam am M.I.T., dem Massachusetts Institute of Technology. Hier wird Hirnforschung nicht betrieben, sondern gespielt.
    Die kleinen Blasen auf dem bunten Monitor sind die Synapsen. Sie verknüpfen die unzähligen feinen Zweige und Fäden, die sich gegenseitig umschlingen. Das Netzwerk ist undurchschaubar. Aber wer sich auf einen Strang konzentriert, kann eine neue Synapse finden – solange der Computer nicht abstürzt.
    Die Idee zum Spiel hatte der Leiter der Arbeitsgruppe Sebastian Seung. Im Durcheinander der spielenden, programmierenden und diskutierenden Studenten ist der Professor gar nicht so leicht zu finden. Alle Türen stehen offen, aber nach der Begrüßung findet er doch ein ruhiges Eckchen und erläutert seinen Weg von der theoretischen Physik zum Gehirn.
    Als selbstbewusstem Physiker war Sebastian Seung die Physik nicht kompliziert genug, und deshalb wollte er das Gehirn verstehen, sagt er.
    "Wir sehen, wie das Gehirn arbeitet. Aber wie es das anstellt, davon haben wir keine Ahnung. Und ich glaube, wir brauchen unbedingt das Konnektom, um eine wirkliche Erklärung zu erhalten."
    Sebastian Seung betrachtet das Gehirn durch die Augen des Physikers. Für ihn ist das Gehirn eine komplizierte Maschine, und nur wer den Aufbau erfasst, kann herausbekommen, wie die Maschine arbeitet.
    "Die langen Verästelungen der Nervenzellen sehen aus wie Spaghetti. Und in diesem Durcheinander müssen wir jeder einzelnen Spaghetti folgen. Die Nudeln sind die Drähte im Gehirn. Sie sind entscheidend. In meinem Labor haben wir Computer-Algorithmen entwickelt, die Schnittbilder analysieren, sodass sie den Weg jeder Nerven-Spaghetti erkennen können."
    Aber immer wieder stieß der Computer mit seiner einprogrammierten, künstlichen Intelligenz an seine Grenzen. Denn einzelne Nervenfasern enden in einem Schnittbild, um dann in einem ganz anderen wieder aufzutauchen.
    "Wir müssen künstliche und menschliche Intelligenz verknüpfen, wenn wir die Verbindungen im Gehirn aufspüren wollen. Deshalb haben wir das Onlinespiel 'Eyewire' geschaffen. Jetzt kann jeder Computernutzer über das Internet nach Verbindungen suchen, indem er Bilder des Gehirns anmalt."
    Massive Multiplayer Science Game?
    Mittlerweile hat das Spiel unter der Adresse "eyewire.org" über 100.000 Mitspieler auf der ganzen Welt. Die meisten in den USA und Europa - darunter viele Studierende, aber auch Techniker, Börsenmakler und ein Zahnarzt.
    "Eyewire" bedeutet wörtlich Augendraht. Denn die Mitspieler durchstöbern elektronenmikroskopische Bilder des Nervengeflechts der Netzhaut im Mausauge. Sie stammen vom Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg. Die Aufgabenstellung lautet: Findet so viele Verknüpfungen wie möglich, um das Netzwerk realistisch und detailgetreu nachzubilden. Durch Spielen im 3D Modus finden Menschen manchmal eine Lösung, die der Computer übersieht. Jeder spielt für sich. Denn "Eyewire" könnte auch heißen: I – also ich – wire – verdrahte. Jeder Spieler wird selbst zum Forscher und wirkt mit am großen Mäuse-Konnektom.
    Amy Robinson koordiniert vom M.I.T. aus die weltweite Spielergemeinde. Manchmal spielt sie auch mit, und während sie mit jemandem in der Schweiz chattet, verfolgt sie einen dünnen Zweig zwischen zwei Nervenzellen. Wie mit einem Flugzeug fliegt sie kreuz und quer durch die unterschiedlich gefärbten Spaghetti auf dem Monitor ... und nach ein paar Minuten hat sie die Synapse gefunden.
    140 Punkte. Das reicht nur für Platz 188 auf der Rangliste des Tages. Wer ganz nach oben will, braucht einige Tausend Punkte, und das erfordert jede Menge Geduld. Auch nach einem Jahr ist das Spiel weit vom großen Finale entfernt: dem vollständigen Konnektom.
    Die US-Regierung und einige Stiftungen wollen in den nächsten zehn Jahren über drei Milliarden US-Dollar ausgeben, damit das Geheimnis des Gehirns kein Geheimnis bleibt. Der Name des Großprojektes: die Gehirn-Initiative. Manche sagen auch: "Obama Brain".
    "Die Gehirn-Initiative wird den Wissenschaftlern die Werkzeuge liefern, die sie brauchen, um zu verstehen, wie wir denken, lernen und uns erinnern."
    Schneller als die USA waren diesmal die Europäer. Während die Amerikaner noch die Ideen ordneten, startete die Europäische Union bereits das Human Brain Project. Im Mittelpunkt des 1-Milliarden-Euro-Projektes steht dabei die Simulation des menschlichen Gehirns im Computer. Der Hintergedanke: Die Hirnforschung soll helfen, die Computertechnik zu verbessern. Auch bei Obama Brain ist Erkenntnisgewinn nur eines der Ziele.
    "Wenn es um Innovation geht, sind wir führend. Innovation stärkt unsere Wirtschaft. Wir investieren in Ideen bevor jemand anderes das macht. Und darum geht es auch in der Gehirn-Initiative."
    Die Gehirn-Initiative ist breit aufgestellt. Von zwölf Förderschwerpunkten befassen sich zwei mit dem Konnektom. Hier entsteht gewissermaßen die Basis für weitere Forscherpläne.
    Ein komplizierter Schaltplan
    Auch in Europa könnte man die Schaltpläne des Gehirns gebrauchen. Vielleicht helfen sie, wenn demnächst ein Gehirn im Großcomputer simuliert werden soll. Aber die Aussage, dass das Konnektom wirklich die Arbeitsweise des Gehirns erklären wird, stößt nicht nur auf Zustimmung.
    "Ich glaube, wenn man den gesamten Schaltplan des Gehirns hätte. Man würde nichts verstehen. Man wüsste nicht, wie es funktioniert."
    Sonja Grün leitet eine Arbeitsgruppe beim europäischen Human Brain Project. Am Forschungszentrum Jülich beschäftigt sie sich mit statistischer Neurowissenschaft. Drei wichtige Dinge fehlen ihr beim Konnektom, sagt sie:
    "Dynamik, Aktivität, Zeitabhängigkeit."
    Wer wissen will, wie das Gehirn arbeitet, muss es in Aktion erleben. Das lässt sich einfach erklären.
    "Deutschland hat ein großes Autobahnnetz. Aber ob auf einer spezifischen Straße morgens um halb vier wirklich ein Auto fährt, ist eine andere Frage. Die Autobahn muss nicht benutzt werden, aber sie ist generell da. Und genau so ist es im Gehirn: Eine physikalische Verbindung gibt die Möglichkeit, dass darüber Aktivität läuft, aber sie muss nicht zu jeder Zeit benutzt werden."
    Wer eine Kontaktstelle kennt, weiß deshalb noch lange nicht, was sie macht. Denn das Zusammenspiel der Signale im Nervennetzwerk hat unterschiedliche Folgen. Manchmal müssen mehrere Signale zusammen wirken; sie addieren sich, bis sie einen Schwellenwert überschreiten. Erst dann feuert die Zelle und erzeugt ein neues Signal. Auch der zeitliche Abstand zwischen den Signalen spielt eine Rolle. "Synchron oder nicht synchron?", lautet eine wichtige Frage. Und das alles im Bereich von tausendstel Sekunden. Das Konnektom verrät nichts über diese zeitliche Ebene. Auch ein Kernspin-Tomograph gibt keine Auskunft. Die Aufnahmen sind viel zu grob und zu langsam. Deshalb ist es wichtig, die Aktivitäten der einzelnen Neuronen – also der Nervenzellen - in Netzwerken zu bestimmen.
    "Man kann in der Zwischenzeit von – sagen wir mal – 200 bis 500 einzelne Neuronen ableiten während eines Verhaltens. Man macht das zwar nicht an Menschen, aber an sich verhaltenden Tieren. Und das ist genau das Spannende: Man kann das Netzwerk beobachten, während ein Affe nach einer Tasse greift."
    Das große Ziel wäre demnach mehr als das Konnektom: nämlich der Aktivitätsplan – und zwar in extrem hoher Auflösung.
    "Wenn ich mir ein Projekt ausdenken dürfte, ich würde gerne von allen Nervenzellen die Aktivität gleichzeitig beobachten können."
    Landkarte für das Hirn
    Ähnliche Ziele hat auch die Gehirn-Initiative in den USA formuliert. Am Ende soll eine Brain-Activity-Map stehen – eine Gehirnaktivitätskarte.
    "Ich habe ein paar Zellen im Schnitt, die ich messe. Und wenn ich Eingänge sehe, sobald ich die aktiviere, weiß ich, dass diese Zellen miteinander verbunden sind... Und dadurch kann ich nun eine Kartierung vornehmen."
    In New York City, an der berühmten Columbia-Universität, versuchen Wissenschaftler um Rafael Yuste, diese Idee zu verwirklichen – oder ihr wenigsten Schritt für Schritt näher zu kommen.
    "Es ist wichtig, dass wir die Strukturen im Gehirn erforschen, aber in meinen Augen ist die Funktion noch wichtiger. Und davon sind wir noch weit entfernt. Wir müssen die Aktivität des ganzen Gehirns erfassen."
    Vor drei Jahren hatte Rafael Yuste als erster die Idee zu einer großen Gehirn-Initiative, bei der die Kartierung der Gehirnaktivität im Mittelpunkt stehen sollte.
    "Ich hoffe die Gehirn-Initiative wird wie das Human-Genom-Project Milliarden Dollar für die Forschung bringen. Und hoffentlich wird das die Neurowissenschaft für immer verändern."
    Raffael Yuste wünscht sich ein großes Gehirn-Observatorium – oder besser gleich mehrere. So wie die Astronomen aus aller Welt zu den großen Teleskopen pilgern, sollen sich dort die Neurowissenschaftler und Hirnforscher treffen. Dort könnten sie dann mit den besten Methoden arbeiten und Daten sammeln, um sie später zu Hause an den Universitäten und Forschungsinstituten auszuwerten. So sollte nach und nach eine dreidimensionale Karte aller Gehirnaktivitäten entstehen.
    "Mikroskope stellen die Welt von jeher in einer Ebene dar – also zweidimensional. Damit eine dritte Dimension hinzukommt, müssen wir die Funktion von Mikroskopen grundlegend verbessern. Wir müssen das Licht so einfangen, dass eine räumliche Auflösung entsteht. Außerdem brauchen wir eine besondere Software, die die Daten so verarbeitet, dass wir die Nerven-Schaltkreise im Netzwerk dreidimensional erfassen."
    Verbindung der Zellen beleuchten
    Im Labor von Rafael Yuste arbeiten junge Forscher aus der ganzen Welt auf der Suche nach neuen Methoden. Der Postdoktorand Jan Hirtz kam aus Deutschland nach New York.
    "So, wir gehen jetzt hier in einen separaten Raum. Der ist separat, weil es hier komplett abgedunkelt sein muss. Hier drinnen wird nämlich 2-Photonen-Mikroskopie benutzt."
    Im 2-Photonen-Mikroskop trifft ein starker, kurzer Laserstrahl auf fluoreszierende Moleküle. Der Computer macht aus den eingehenden Daten ein dreidimensionales Bild in hoher Auflösung. Aber die Mess-Apparatur von Jan Hirtz kann noch mehr. Der Postdoktorand hat Nervenzellen gentechnisch so verändert, dass sie sich mit Licht aktivieren lassen. Optogenetik heißt diese Technik.
    "In dem Moment, wenn ich eine Zelle mit Licht aktiviere, und dann ein elektrisches Signal in der anderen Zelle habe, die ich messe, dann weiß ich: Ich habe eine Zelle aktiviert, die mit dieser Zelle verbunden ist. Und das mache ich Stück für Stück für das gesamte Netzwerk, gehe ungefähr 200 Zellen eine nach der anderen ab und rekonstruiere so, welche Zelle mit der Zelle verbunden war, die ich messe."
    Auf diese Weise kann Jan Hirtz Verbindungen zwischen den Nervenzellen nicht nur sehen, sondern er kann die elektrische Aktivität messen, wenn sie über diese Verbindungen von einer Zelle zur anderen gelangt. Das geschieht in feinen Hirnschnitten von Mäusen. Verglichen mit einem ganzen Gehirn sind sie Netzwerke aus 200 Zellen winzig. Schon eine Fliege besitzt etwa 100.000 Nervenzellen. Beim Menschen sind es 100 Milliarden. Das Prinzip, nach dem das Netzwerk arbeitet, müsste aber das gleiche sein.
    "Das Netzwerk über das gesamte Gehirn zu kartieren, wäre ein großartiges Projekt, ist aber momentan mit dieser Methode noch nicht machbar."
    Eine neue Technik müsste das ganze Gehirn umfassen und doch jede einzelne Zelle darin beobachten.
    "Es ist sehr wahrscheinlich, dass die beste Methode plötzlich und unerwartet auftaucht. Es ist wichtig, dass wir die Techniken weiter entwickeln und nach neuen Techniken suchen, aber was den Durchbruch bringt, lässt sich nicht vorhersagen."
    Eine umfassende Gehirn-Aktivitätskarte wird erst dann entstehen, wenn die Methodenentwicklung einen weiteren Sprung macht. Darauf hoffen die Forscher. Wie vor 50 Jahren bei der Mondlandung oder vor 20 Jahren beim Human-Genom-Projekt sind sie überzeugt, dass ein Ziel erreichbar ist, wenn man es mit aller Kraft erreichen will.
    Unverstandene Arbeitsweise
    "Ich glaube: In letzter Instanz führt das zu einer Verengung unseres Nachdenkens über den Menschen."
    Wer einen Computer im Schädel sucht, wird auch nichts anderes finden. Das gleiche gilt für den Begriff Konnektom. Wer das Gehirn als Netzwerk wie das Internet betrachtet, wird ein Netzwerk finden. So sieht es zumindest Jan Slaby.
    Die Großprojekte liefern viele Daten, aber nicht unbedingt geniale Ideen. Sie gehen von einer einfachen Überlegung aus und schotten sich vor Überraschungen ab, kritisiert der Philosoph von der Freien Universität Berlin.
    "Man sucht immer nach informationstragenden Strukturen oder nach Kommunikation. Das sind aber Begriffe aus der Menschenwelt. Was macht denn eine Zelle, wenn sie kommuniziert? Projizieren wir da nicht ... Begriffe aus der Lebenswelt des Menschen auf eine Struktur, die wir doch gar nicht verstanden haben? Müssen wir da nicht offener herangehen? Müssen wir da nicht fragen, ob da ganz andere Interaktionen und Verhältnisse oder Beziehungen zwischen Strukturen herrschen als wir sie in diesen immer gleichen Kommunikationsbegriffen beschreiben?"
    Egal ob Denkmaschine, Gedankenpumpe oder Erinnerungsnetzwerk - die Begriffe, mit denen das Gehirn beschrieben wird, prägen die Forschungsansätze und damit auch die Ergebnisse, gibt Jan Slaby zu bedenken.
    "Solange wir noch nicht klar sehen, welches die Grundprinzipien sind und ob es überhaupt Grundprinzipien gibt, ob das Gehirn nicht selber eine immens verteilte Struktur ist, die mit ganz unterschiedlichen Datenformaten, Interaktionsformen – wie immer man das beschreiben will – operiert, ist es sehr sinnvoll, das Feld verteilt zu lassen. Leute an allen Ecken und Enden mit unterschiedlichen Ansätzen mit unterschiedlichen Ansätzen arbeiten zu lassen. Die Vielfalt, die es im Gehirn geben mag, auch abzubilden in einer Vielfalt von Forschungsansätzen. Alles andere wäre töricht."
    Wer die meisten Daten sammelt, weiß deshalb nicht unbedingt mehr als andere. Viel wichtiger ist es, die Arbeitsweise des Gehirns zu durchschauen.
    Andererseits: Man kann ja schon einmal mit dem Datensammeln anfangen. Vielleicht hat dann irgendwer irgendwo eine Idee und liefert die große Erklärung. Davon ist der Neurowissenschaftler Rafael Yuste überzeugt.
    Als 1953 die Doppelhelix entdeckt wurde, die Struktur des Erbmoleküls DNA, erklärte sie auf einen Schlag den Code der Vererbung. Einen ähnlichen Code, eine biologische Verschlüsselung, vermutet Rafael Yuste auch im Gehirn von Tier und Mensch: Eine Art Gehirn-Code, der alles erklärt. Einfach und schön – so mögen es Wissenschaftler ... und Präsidenten.
    "Vermutlich wäre mein Leben einfacher, wenn wir das Gehirn verstehen würden. Vielleicht könnte man erklären, was hier in Washington abläuft, und dann etwas dagegen verschreiben."