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Der Verfall der argentinischen Gesellschaft

Nathan Englander ist in einer orthodox-jüdischen Familie in New York aufgewachsen. Sein 1999 erschienener Erzählband "Zur Linderung unerträglichen Verlangens" wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Jetzt ist im Luchterhand Verlag sein erster Roman erschienen: "Das Ministerium für besondere Fälle". Englander führt den Leser nach Buenos Aires, wo Generäle 1976 den so genannten "Schmutzigen Krieg" gegen die eigene Bevölkerung begannen.

Von Sigrid Brinkmann | 01.07.2008
    "Was wir wissen, ist uns doch zum großen Teil anerzogen worden. Ich bin durch und durch Amerikaner. Meine Eltern wurden in Amerika geboren, meine Großeneltern ebenfalls, auch zwei meiner Urgroßeltern. Ich bin bewusst jüdisch erzogen worden. Der Holocaust war Teil der Erinnerung, die mir wie ein Vermächtnis mitgegeben wurde. Das einzige Familienmitglied, das einen gewaltsamen Tod starb, trug eine amerikanische Uniform. Keiner von uns kam im Konzentrationslager um. Die zentrale Rolle, die der Holocaust dennoch in meinem Gedächtnis einnimmt, ist mir anerzogen worden. Warum war es nicht der Völkermord an den Armeniern?"

    Die Lückenhaftigkeit unseres geschichtlichen Bewusstseins findet Nathan Englander geradezu sträflich. Die Ignoranz, die seine Weltwahrnehmung bestimmte, beschämt ihn noch heute. Mit einem Roman daran zu erinnern, dass der "Schmutzige Krieg" unzählige Leben auslöschte und die Hinterbliebenen in einen Zustand der Amnesie versetzte, ist Englanders Art der Wiedergutmachung.

    "Wenn ich mit neunzehn nicht nach Jerusalem gegangen und dort einigen Jungs aus Argentinien begegnet wäre, dann hätte ich mit meinen 38 Jahren heute vermutlich immer noch keinen Schimmer vom Ausmaß des "Schmutzigen Krieges". Und das, obwohl er sich auf demselben Kontinent zutrug, auf dem ich zeitgleich herangewachsen bin. Die zehn Jahre Arbeit an diesem Roman haben mein Denken verwandelt. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mir dieses Drama zu Herzen geht, wie sehr ich hoffe, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfahren möge."

    In seinem vielschichtigen Epos verknüpft Nathan Englander den Verfall der argentinischen Gesellschaft unter der Junta mit der Erinnerung an den Untergang einer jüdischen Schicht, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Prostitutionsgewerbe in Buenos Aires beherrschte. Englander, spürbar fasziniert von den schillernden Figuren aus dem Zuhälter- und Hurenmilieu, bannt auch den Leser mit Details aus der halbseidenen "Kaftan"-Gesellschaft. Treffsicher platziert er ironische Bonmots wie das von den Juden, die sich so bestatten, wie sie leben: "Noch im Tod hocken sie aufeinander und nehmen sich Platz weg". Man lacht und ahnt, dass wir eingestimmt werden auf eine tragische Geschichte.

    " Für mich handelt dieses Buch hauptsächlich von der Auslöschung. Es lebt von Erzählungen über das, was wir nicht erzählen, nicht weitergeben."

    Die Nachkommen der Huren und Zuhälter setzen bei Englander alles daran, die Namen ihrer Vorfahren von den Grabsteinen tilgen zu lassen. Sie wollen die Schmach auslöschen. Gleichzeitig wächst im Land die Zahl der Verschleppten und Getöteten, deren Leichen keine Grabstelle finden. Englander legt den Finger auf die große Wunde des Schamempfindens. Wer seine Herkunft versteckt, wird gegebenenfalls auch seine Kinder leugnen. Im Zentrum des Romans stehen Kaddisch und Lillian Poznan. Kaddisch ist der Grabschänder, der heimlich Namen wegmeißelt, und selber Sohn einer Hure.

    "Einer der Gründe, die mich so für die jüdischen Zuhälter eingenommen haben, sind ihre Namen. Schlomo, die Stecknadel zum Beispiel. Schlomo war ein König - König Salomon. Aber wenn ich Schlomo höre, denke ich nicht an einen mächtigen kraftvollen Mann; nicht an Schlomo, den Ringkämpfer, sondern an Schlomo, den Buchhalter. Ich mag diese jüdischen Schtetl-Namen. Wenn es dann heißt: Zawul ist auf Durchreise, heut' kommt er in die Stadt, dann stellst du dir vor: Vielleicht reißt er dir das Herz raus, du krepierst, er schaut dir dabei zu und isst dein Herz auf. Diese Zuhälter damals waren brutale Gangster, weiße Sklavenhalter, grässliche Leute, denen ich Namen verpasst habe, die provinziell und unbedeutend klingen."

    Hezzi Doppelkinge, Talmud-Harry und Einauge Weiss liegen längst unter der Erde. Kaddischs Sohn Pato hasst die Grabschändungen seines Vaters, der zudem den bedrohlichen Spitzeleien der Junta-Schergen mental nichts entgegenzusetzen weiß. Aus Angst vor einer Durchsuchung verbrennt Kaddisch Bücher seines Sohnes. Der Sohn aber kehrt früher als erwartet zurück. Englanders Dialoge reißen Abgründe auf. Sie gleichen vertikalen Schnitten in einem breit angelegten Epos.

    "Tun wir so, als ob es nie geschehen wäre - als ob ich nie geschehen wäre. Gehen wir getrennte Wege. Ich habe keinen Vater, und du hast keinen Sohn."

    "Du kannst mich nicht einfach für tot erklären, falls es das ist, was du vorhast. So funktioniert das nicht." Kaddisch tätschelte Pato sanft die Wange. "Du bist nicht der erste Sohn, der in so einer Zwickmühle sitzt."

    "Was weißt du schon, wie es ist, einen Vater zu haben?" sagte Pato. "Davon hast du doch keinen Schimmer."

    "Genau das macht mich in dieser Frage zu einem Experten", antwortete Kaddisch. "Ohne ihn je getroffen zu haben, ohne irgendetwas über ihn zu wissen, kann ich dir sagen, es ist anstrengend zuzusehen, wie ein Vater zunichte gemacht wird."


    Nathan Englanders zugespitzte Dialoge sind oft von schneidendender Kälte, manchmal auch komisch. Und mehr als einmal enthüllen sie in ergreifenden Wendungen die ganze Verzweiflung eines Paares, dessen Identität sich nur mehr aus dem Verlust des Kindes speist, denn Pato wurde von Junta-Schergen entführt. Kaddisch, der die Ungewissheit des Wartens nicht dauerhaft erträgt, verlangt verzweifelt nach einem Grabmal für den Sohn. Seine Frau hingegen verkörpert die stille Würde der Mütter von der Plaza de Mayo, die bis auf den heutigen Tag allwöchentlich im Zentrum von Buenos Aires schweigend im Kreis gehen und so gegen den Mord an ihren Kindern demonstrieren. Regungslos, doch voller Hoffnung wartet Lillian am Fenster auf die Rückkehr ihres Kindes. Packend entfaltet Englander die Unversöhnlichkeit der beiden Positionen. Selbst wenn Lillians Haltung moralisch unangreifbar ist, rührt uns die Resignation des Vaters. Nathan Englander hat jene Dokumente gelesen, die das verbrecherische Vorgehen der Junta belegen. Er versagt sich jedes quälend voyeuristische Schildern von Leidensmomenten. Schamvoll geht er mit der grausamen Realität von Verschleppung und Mord um.

    "Als jemand, der in Amerika groß geworden ist, kenne ich natürlich sämtliche Actionfilme. Ich bin mit Schwarzenegger, Rambo und Sylvester Stallone aufgewachsen. Folterszenen zu erfinden, das wäre für mich ein Leichtes. Von früh bis spät könnte ich ausschmücken, wie Leuten Gliedmaßen abgeschnitten werden. An einer einzigen Stelle gebe ich einem der Opfer ein Gesicht. Eine vor Entsetzen stumme Frau wacht überraschend aus der Betäubung auf. Sie krallt sich an ihren Mörder, der sie aus dem Flugzeug in den Fluss werfen wird. Das ganze Buch bündelt sich in dieser Szene."

    Nathan Englander ist ein beeindruckendes Debüt als Romancier gelungen. Er selbst betont im Gespräch, dass er während des zehnjährigen Schreibprozesses moralisch und emotional gereift sei. Nach der Lektüre dieses Buches, das so ungeheuer vielschichtig vom gewaltsamen Auslöschen menschlicher Identitäten erzählt, wird man Englanders Selbsteinschätzung nicht in Zweifel ziehen.

    Nathan Englander: "Das Ministerium für besondere Fälle". Roman
    Aus dem Amerikanischen von Michael Mundhenk
    Luchterhand Verlag, München April 2008