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Der verfolgte Jäger

1200 Nationalsozialisten brachte Simon Wiesenthal vor Gericht. Der israelische Historiker Tom Segev hat nun eine neue Biografie des Nazi-Jägers vorgelegt. Als erster Journalist überhaupt konnte er dafür Wiesenthals Privatarchiv auswerten.

Von Jochanan Shelliem |
    Tom Segev ist ein kaltschnäuziger Ermittler mit skeptischem Blick. Einem Blick für die Randnotiz und den Indizienbeweis. Darum ist seine Wiesenthal-Biografie auch 507 Seiten lang und verfügt über einen wertvollen Anhang. Segev gibt sich unprätentiös, verweist auf Vorarbeiten, bezieht sich auf die Interviews, die Hella Pick in den 1990er-Jahren mit Simon Wiesenthal geführt hat, baut darauf auf. Leicht sei es nicht gewesen, das Leben von Wiesenthal nachzuvollziehen, sagt Segev. Dazu mag dessen Neigung beigetragen haben, seine Biografie den jeweils neuen Umständen variabel anzupassen.

    "Die Biografie, die ich geschrieben habe, ist sehr anders als die anderen Biografien, in dem Sinne, als dass in allen anderen Biografien genau das stand, was er wollte. Und in der Biografie, die ich geschrieben habe, steht eben drin, was die Akten uns zeigen und uns erzählen. Es ist wirklich die erste voll dokumentierte Biografie über Wiesenthal."
    Es ist ein israelischer Blick, mit dem Tom Segev das Leben von Simon Wiesenthal durchstreift. "All die Zeit haben wir Hitler nicht ernst genommen", mit diesem Satz von Wiesenthal überschreibt er die Ausgrenzung und Verfolgung der in Galizien lebenden 870.000 Juden nach dem Ersten Weltkrieg. Segev erzählt, mit welcher Energie der 31-jährige Wiesenthal um das Leben der Familie kämpft. Im "jüdischen Viertel" besticht er Deutsche, um Arbeitspapiere im Ghetto von Lwów zu erhalten. Seine Armbanduhr reicht nicht als Schmiergeld, den Abtransport der Mutter zu verhindern. Im Sommer 1942 wird sie zu den Gaskammern des Lagers Belzec deportiert. Belastet mit dem Schuldgefühl und ausgestattet mit einem sicheren Instinkt für eine Wirklichkeit, die sich mit jedem Wimpernschlag verwandeln kann, speichert Wiesenthal, was er, nun selbst deportiert, im Konzentrationslager sieht. Bereits vierzehn Tage nach seiner Befreiung in Mauthausen den Amerikaner eine erste Liste von NS-Verbrechern vor.

    "Ich hab Akten gesehen, die er seit 40 Jahren selbst nicht mehr in der Hand gehalten hat, ein sehr gut geordnetes Privatarchiv, das sehr viel lehrt."
    Auf seiner Suche nach Verbündeten ist Simon Wiesenthal nicht zimperlich. 1949 kündigt er dem Bürgermeister von Tel Aviv das Begräbnis von 200.000 Juden an und reist als selbst ernannter Abgesandter mit 30 Porzellantiegeln voller Asche aus Mauthausen und anderen österreichischen Krematorien mit einem gläsernen Sarg zum Wohnsitz des Staatspräsidenten Chaim Weizmann in Rechovot. Der jüdische KZ-Verband in Österreich habe beschlossen, so Wiesenthal in seinem ersten Schreiben, die Asche der Märtyrer nach Israel zu überführen. Israel Rokach, der Bürgermeister antwortet, Tel Aviv würde die Urnen mit einem "Schauer der Heiligkeit" empfangen und ist gleichzeitig ratlos. Mit Aktionen wie dieser zwingt Wiesenthal dem jungen Judenstaat die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen auf. Schon 1953 schreibt Simon Wiesenthal dem israelischen Konsul in Wien, Adolf Eichmann halte sich in Argentinien auf. Doch seine Hinweise sind unerwünscht. Erst nach Eichmanns Ergreifung 1960 auf Druck des Hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer wird Wiesenthal als nützlicher Informant von Jerusalem geschätzt.

    "Dann bin ich auf eine Korrespondenz gekommen mit einem Mann in Israel, von der ich mir nicht erklären konnte, was ist da die Verbindung zwischen diesem Mann und Wiesenthal. Und irgendwann war da eine Telefonnummer auf einem der Briefe und habe ich da angerufen und ein großes Schweigen gehört auf der anderen Seite und dann hat er gesagt, na ja, ich habe mir schon gedacht, dass einmal jemand mich danach fragt, irgendwann kommt es raus. Also ja, also ich war Agent in Wien und der Wiesenthal hat für uns gearbeitet."
    Dass Simon Wiesenthal für den Mossad tätig gewesen ist, galt nach dem Erscheinen der Biografie als ein Skandal. Und doch hält Tom Segev die hämischen Bemerkungen österreichischer Zeitungen, die den unerwünschten Patrioten nun diskreditieren wollten, für nicht angebracht. Simon Wiesenthal nutzte den Apparat des israelischen Geheimdienstes, um nach Nazis zu fahnden.

    "Deshalb als jetzt das Buch erschien und die Österreicher haben sich dann gefreut, aha, haben sie gesagt, er war Agent, er war Spion, er war ja gar nicht Patriot. Und ich habe ihnen dann gesagt, nein, er war großer Patriot, er hat für euch getan, was ihr vielleicht gar nicht verdient habt, dass ihr einen solchen Wiesenthal unter euch habt. Aber jedenfalls war es vielmehr so, dass nicht Wiesenthal für den Mossad gearbeitet hat, sondern der Mossad für Wiesenthal gearbeitet hat."
    Segev beschreibt in seiner Biografie die spektakulärsten Erfolge Wiesenthals: Die Ergreifung Eichmanns, nach der er weltweit als "Nazi-Jäger" gilt, die Festnahme des Polizisten, der Anne Frank verhaftete, die Fahndungserfolge von Franz Murrer bis Franz Stangl, dem Kommandanten von Treblinka – 1200 Nationalsozialisten brachte er vor Gericht. – Segev analysiert die Konkurrenz zu Kreisky und den Humanismus Wiesenthals, der nicht Rache wollte, sondern Recht. Am Ende ist es ein Satz, den Segev aus einem Wiesenthal-Brief zitiert, der die Tragödie seines Lebens deutlich macht. Ein Satz gerichtet an Albert Speer, Hitlers Vertrauten und Rüstungsminister. Kurz vor Speers Tod waren sich beide begegnet, als "Celebrities", wie Segev schreibt. Sie kamen sich näher, als Buchautoren, als Architekten und sind fast Freunde geworden. Wiesenthal schreibt an Speer.

    "'Wir haben alle Fehler gemacht.' Wie konnte er ihm einen solchen Satz schreiben und das ist wirklich das Beste Beispiel für die Tiefe der Schuld, die der Wiesenthal in sich getragen hat."
    Segevs Buch ist aufgrund seiner Faktenfülle zuweilen ein verwirrender Ritt durch das Leben und die Wirkungsgeschichte von Simon Wiesenthal. Doch birgt der stets lakonisch distanzierte Blick des Historikers, der fesselnd erzählen kann, eine profunde Auseinandersetzung mit einem Jahrhundert, in dem so viele nichts lieber wollten, als das größte Verbrechen aller Zeiten zu verdrängen. Hitler habe den Krieg verloren, zitiert Tom Segev Simon Wiesenthal. Doch der verfolgte Jäger fügte oft hinzu: "Wir haben die Nachkriegszeit verloren."

    Jochanan Shelliem war das über Tom Segev: Simon Wiesenthal. Die Biografie, erschienen bei Siedler, 576 Seiten kosten 29,95 Euro, ISBN: 978-3-88680-858-8.