Dienstag, 14. Mai 2024

Archiv


"Er lebte eigentlich von Enttäuschung zu Enttäuschung"

In einer neuen Biografie zeichnet der israelische Historiker Tom Segev das Leben von Simon Wiesenthal nach, das der Verfolgung von Naziverbrechern gewidmet war. Wiesenthal habe stets an das liberale Rechtssystem geglaubt, obwohl dieses Rechtssystem in Österreich und in Deutschland gar nicht interessiert daran gewesen sei, NS-Verbrecher zu verurteilen, sagt Segev.

Tom Segev im Gespräch mit Christoph Heinemann | 08.10.2010
    Christoph Heinemann: Zu den Sachbüchern, die bereits vor der Frankfurter Buchmesse für Aufmerksamkeit sorgten, gehört eine Biografie: Tom Segevs Buch über den Nazijäger Simon Wiesenthal. Wiesenthal, in Ostgalizien geboren, überlebte die NS-Zeit und mehrere Konzentrationslager, auch dank, wie er sich ausdrückte, anständiger Deutscher. Nach dem Krieg lebte er in Wien und sammelte, unterstützt durch den israelischen Geheimdienst Mossad, Informationen über NS-Verbrecher. Wiesenthal spürte neben vielen anderen Adolf Eichmann auf und Franz Stangl, den Kommandanten der Lager Sobibor und Treblinka. 1967 sagte Simon Wiesenthal:

    "Sogar die Todesstrafen, die gegenüber diesen Tätern angewendet wurden, konnten nur einen symbolischen Charakter haben. Wichtig ist dabei vor allem der Schuldspruch. Warum? - Weil der Schuldspruch ermöglicht es sozusagen den Anständigen, sich von den Unanständigen abzugrenzen, denn schließlich geht es ja darum."

    Heinemann: Wiesenthal ist vor fünf Jahren gestorben. - Der israelische Historiker Tom Segev hat also nun eine Biografie über ihn vorgelegt. Ich habe ihn vor dieser Sendung gefragt, ob sich sein Bild von Simon Wiesenthal während seiner Recherchen verändert hat.

    Tom Segev: Ja. Ich war dauernd überrascht und erstaunt und verblüfft und fasziniert. Ich hatte ihn eben nur als sehr bekannte Persönlichkeit gekannt und nur sehr wenig von seinem persönlichen Leben gewusst. Ich hatte aber Gelegenheit bekommen, in sein Archiv zu gehen, also in das kleine Büro, in dem er sein ganzes Leben lang gearbeitet hat, und dort alles zu sehen, was es gab: ungefähr 300.000 Seiten. Ich war manchmal schon überrascht.

    Heinemann: Worüber?

    Segev: Darüber, dass er sich herausstellte als ein sehr humanistischer Mensch, der eine sehr weit humanistische Auffassung des Holocaust hatte. Er betrachtete die Judenvernichtung als ein Verbrechen gegen die Menschheit in erster Linie und er verglich den Holocaust mit Völkermorden, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch passieren, etwa in Kambodscha oder in Ruanda, und er interessierte sich auch für andere Gruppen, die die Nazis verfolgten und vernichteten, und das konnte ich alles nachvollziehen als einen sehr tapferen Stand, weil das israelische Erinnerungsestablishment und in Amerika auch immer von der Einzigartigkeit der Judenermordung sprachen.

    Dann gab es natürlich eine ganze Reihe von konkreten Dingen, von denen niemand was gewusst hat, etwa, dass er schon 1948 Anteil hatte an einem israelischen Versuch, Adolf Eichmann in Österreich zu verhaften. Dieser Versuch war völlig unbekannt, Wiesenthals Anteil daran war unbekannt. Etwa, dass er schon 1953 in der Lage war, Israel davon zu informieren, dass Adolf Eichmann sich in Argentinien befindet, etwa seine Mitarbeit bei dem israelischen Mossad, etwa die sehr erstaunliche Freundschaft, die er später pflegte mit Albert Speer.

    Heinemann: Wie erklären Sie sich diese Freundschaft mit Hitlers letztem Rüstungsminister, mit Albert Speer?

    Segev: Sie fragen mich gleich die schwerste Frage am Anfang. Es ist schwer zu erklären. Ich kann verstehen, warum Albert Speer die Freundschaft von Wiesenthal brauchte, weil er ja sehr viel investiert hat in seinem Image-Building, nachdem er von Spandau befreit wurde. Aber wieso Wiesenthal diese Freundschaft brauchte? - Also am Anfang: Es fing damit an, dass Speer ihn fragte, ob er ihn empfangen würde in seinem Büro, und das war für Wiesenthal erst mal spontan als Holocaust-Überlebender eine Art Sieg. Da kommt der nächste Freund von Hitler und bittet um seine Freundschaft, seine Gesellschaft, seine Anerkennung, und das war für ihn erst mal ein Sieg als Holocaust-Überlebender. Später hat diese Freundschaft dann zum Ausdruck gebracht die Tatsache, dass Wiesenthal sein ganzes Leben lang ein sehr schweres Schuldgefühl mit sich trug. Und ich glaube, es ist eine Art von Identifizierung zwischen einem Opfer und dem Täter.

    Heinemann: Herr Segev, Sie haben dieses Schuldgefühl beschrieben, Wiesenthal habe es nie verwunden, dass er während der Nazizeit weniger gelitten habe als seine Schicksalsgenossen. Wie ist das zu erklären und wie sind Sie zu dieser Einschätzung gelangt?

    Segev: Ja. Erst mal hatte er das Schuldgefühl, dass er überhaupt überlebt hat. Zweitens war er zwar in fünf Konzentrationslagern, aber eine relativ kurze Zeit. Die meiste Zeit des Krieges hat er irgendwie überlebt unter Bedingungen, die weniger fürchterlich waren als viele andere Holocaust-Überlebende. Und ich glaube, dass er auch irgendwie ein Schuldgefühl hatte, deshalb, weil er durch zwei anständige Deutsche gerettet wurde, und ich glaube, dass die Kombination von all dem ihn dazu gebracht hat, dass er das Gefühl hatte, er hat eine Pflicht an die Opfer, sein Leben dazu zu widmen, dass er NS-Verbrecher vor Gericht bringt.

    Heinemann: Herr Segev, Sie sprachen eben über den Humanisten Wiesenthal. Die Mörder waren für ihn die Nazis, nicht die Deutschen per se. War Wiesenthal realistischer als zum Beispiel der Soziologe Daniel Goldhagen, der ja den Deutschen und der deutschen Kultur insgesamt einen eliminatorischen Antisemitismus unterstellt hat?

    Segev: Also es ist mir nicht bekannt, dass Wiesenthal und Goldhaben je in Kontakt standen. Aber ich glaube, dass wenn das so wäre, dann würde Wiesenthal ihm bestimmt widersprochen haben. Wiesenthal war immer gegen Kollektivschuld, er war immer für ganz konkrete Fakten. Er fahndete nach Kriegsverbrechern und nicht nach Nazis, nicht nach Deutschen, und ich glaube, dass er in dem Sinne viel humanistischer in Wahrheit war etwa als Goldhagen. Also auf jeden Fall keine Kollektivschuld und auch keine Rache übrigens. Er glaubte an das liberale Rechtssystem, was natürlich sehr ironisch ist, denn dieses Rechtssystem in Österreich und in Deutschland war ja gar nicht interessiert daran, NS-Verbrecher zu verurteilen, und er lebte eigentlich von Enttäuschung zu Enttäuschung. Aber er hat immer weiter festgehalten an diesem Glauben an dem Rechtssystem und er war gegen Rache und gegen Kollektivschuld.

    Heinemann: Stichwort Enttäuschung. Simon Wiesenthal hat säckeweise Drohbriefe und beleidigende Schreiben erhalten. Wieso ist er nach dem Krieg überhaupt in Österreich geblieben?

    Segev: Ich glaube, weil er sich als österreichischer Patriot gefühlt hat. Das ist ein bisschen schwer zu verstehen und war auch für mich auch als Israeli sehr schwer. Ich bin nicht der Auffassung, dass jeder Jude in Israel leben muss, aber er hätte ja mit Leichtigkeit in Amerika oder sonst wo leben können. Aber er ist eben in Österreich geblieben, weil er sich sein Leben lang als Österreicher gefühlt hat. Sein Vater ist im Ersten Weltkrieg umgekommen in österreichischer Uniform. Er hat seine Kindheit in Wien verbracht und Wien war eigentlich immer die politische und kulturelle und intellektuelle Hauptstadt, und das kann man auch daran sehen, dass er sich so furchtbar bemühte, die Österreicher nach dem Krieg von antisemitischen Ausstreitungen zu befreien. Ich habe mir immer gesagt, was geht Sie das eigentlich an, die Österreicher sind Nazis und Antisemiten, was geben Sie sich so Mühe, sie von ihrer Vergangenheit zu befreien? Aber er hat das eben getan, weil er das als seine eigene Gesellschaft betrachtete.

    Heinemann: Sie beschreiben Wiesenthal auch als einen Mann mit der Neigung zu Fantastereien. Wieso nahm er es mit der Wahrheit manchmal nicht so genau?

    Segev: Ja, er neigte, zwischen Fantasie und Wirklichkeit zu leben. Er verbreitete manche Legenden, zum Teil, weil er sich nicht immer erinnern konnte, zum Teil, weil er eben auch als Teil dieses Schuldgefühls seine eigene Biografie neu erfinden musste, damit sie heroischer ist, damit sein Leiden größer wird, damit die Umstände seiner Rettung verwunderlicher werden. Das ist eine Neigung, die viele Leute haben und auch sehr viele Holocaust-Überlebende, überhaupt Überlebende von Katastrophen, also wenn jemand sagt, er ist im 50. Stock von den Twin Towers in New York gewesen, und in Wirklichkeit war er in der Lobby. Die Neigung, sich in das Zentrum der Katastrophe zu bringen, ist typisch für Menschen, die das Gefühl haben, sie hätten eigentlich mehr leiden müssen.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk, ein Gespräch mit dem israelischen Historiker Tom Segev. - Herr Segev, Sie haben in einem Interview über die Biografie gesagt, jedem jungen Menschen in Uniform, oder der Uniform trägt, muss man einprägen, dass es Befehle gibt, die man nicht ausführen darf. Was wissen junge Israelis heute über Simon Wiesenthal?

    Segev: Sie wissen immer mehr, seitdem das Buch erschienen ist. Ich bin erstaunt, wie viele besonders auch junge Israelis das Buch lesen. Man tut sich in Israel schwer, sich mit Leiden von Diaspora-Juden zu identifizieren, aber eben jetzt mehr als früher. Früher wollte man immer nur von den heroischen Israelis selber wissen. Also man ist offener. Es ist auch so, dass das israelische Gesetz das Konzept kennt von einem ungesetzlichen Befehl, und theoretisch ist es so, dass jeder Soldat mindestens einmal hören muss während seiner Dienstzeit im Militär, dass es so etwas gibt wie einen ungesetzlichen Befehl. Und ich glaube, dass Wiesenthal die Erinnerung des Holocausts gepflegt hat unter anderem auch als Mahnung eben, weil Völkermord und Kriegsverbrechen ja mit dem Zweiten Weltkrieg nicht beendet wurden. Der Holocaust als Mahnung, dass jeder junge Mensch in Uniform irgendwo auf der Welt wissen muss, dass wenn er einen ungesetzlichen Befehl doch ausfüllt, dann kann es ihm auch nach 60 Jahren noch passieren, dass er sich irgendwo in einem Gerichtssaal befindet, wie etwa Demjanjuk jetzt in München. Ein alter Mann, der auf der Bahre liegt, und man kann sich fragen, ja was wollt ihr noch von dem alten Demjanjuk. Eben nichts von ihm, würde Wiesenthal sagen, von Demjanjuk will ich nichts, ich will eben, dass jeder junge Mensch das weiß, dass es so etwas gibt wie einen ungesetzlichen Befehl. Ich glaube, das ist wohl die wichtigste Errungenschaft von allen, die er uns hinterlässt.

    Heinemann: Der israelische Historiker Tom Segev, Autor der Biografie über Simon Wiesenthal, 576 Seiten, erschienen im Siedler-Verlag. Herr Segev, danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Segev: Danke, Ihnen auch.