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Der vergebliche Kampf um Reformen

Wahlkampf in Syrien. Bäume, Straßenlaternen und Telefonzellen in der Hauptstadt Damaskus sind mit Plakaten zugepflastert, auf denen die Kandidatinnen und Kandidaten betont seriös dreinblicken. Über Straßen und Plätze spannen sich Stoffbahnen und bunte Transparente mit arabischen Wahlslogans. In einem Land, in dem normalerweise nur Bilder des Präsidenten zu sehen sind, wirken die vielen Portraits durchaus verwirrend. Sie erwecken den Anschein freier und fairer Wahlen.

Von Kristin Helberg | 19.04.2007
    Dabei wiederholt sich im sozialistischen Syrien dieses Jahr nur das, was Osteuropa aus Sowjetzeiten kennt: An diesem Sonntag finden Parlamentswahlen statt, bei denen Sitze vorab vergeben sind, im Sommer folgt ein Referendum zur Bestätigung des Präsidenten - ohne Gegenkandidaten. Ihsan Sanqar will trotzdem ins Parlament einziehen. Der Geschäftsmann glaubt, dass sich das Land politisch öffnen wird.

    " In den vergangenen Jahren hat Präsident Assad Reformen vorbereitet, jetzt wird er sie umsetzen. Noch ist nichts davon zu sehen, aber die Stimmung ist reif dafür. Manche Dinge kann man nicht sehen, nur fühlen. Und ich spüre, dass eine gute Zeit anbricht. "

    Sanqar ist einer von mehr als 9.000 unabhängigen Kandidaten, die sich um die 83 frei wählbaren Sitze im syrischen Parlament bewerben. Für den untersetzten Mann mit dem Schnurrbart und den lebhaften Augen stehen die Chancen nicht schlecht - er stammt aus einer angesehenen Familie und hat als Unternehmer einen guten Ruf. Sollte er es schaffen, kann er jedoch nicht viel ausrichten, denn zwei Drittel der insgesamt 250 Parlamentssitze sind für Mitglieder der Baathpartei und der mit ihr verbündeten Nationalen Progressiven Front reserviert. Die 83 Parteilosen können zwar ihre Meinung äußern, aber keine Abstimmung gewinnen. Für die Syrer habe das Parlament deshalb auch kaum Bedeutung, sagt Marwan Kabalan, Politikwissenschaftler an der Universität Damaskus.

    " Viele glauben, dass die Abgeordneten nur aufgrund ihrer Beziehungen ausgewählt werden, aus der Sicht der Menschen ist das Parlament nicht besonders repräsentativ. Es soll vor allem dazu dienen, dem Regime Legitimität zu geben. "

    Interessant sei in Syrien weniger das Wahlergebnis als vielmehr die Wahlbeteiligung, erklärt Kabalan. Denn sie reflektiere die Stimmung im Land. Glauben die Menschen an die Reformversprechen ihrer Machthaber und nehmen an den Wahlen teil? Oder wenden sie sich frustriert ab in der Überzeugung, Veränderungen dienten - wenn überhaupt - nur einer kleinen Elite. Da es keine unabhängigen Wahlbeobachter gibt, ist schwer festzustellen, wie viele der 12 Millionen stimmberechtigten Syrer tatsächlich zu den Urnen gehen. Vertreter der Opposition rechnen mit gerade mal fünf bis zehn Prozent, und tatsächlich scheinen sich nur wenige Syrer für die Parlamentswahlen zu interessieren. Selbst die 83 unabhängigen Kandidaten würden nicht fair gewählt, sagt Hassan Abdelazim, der Vorsitzende der verbotenen Demokratischen Nationalversammlung.

    " Wenn ein Unabhängiger, der ihnen nicht passt, zu gewinnen droht, kommt im letzten Moment von irgendwoher eine Wahlurne, die das Ergebnis verändert. Das sind keine echten demokratischen Wahlen, an so einem abgekarteten Spiel beteiligt sich die Opposition nicht. "

    Abdelazim hat zum Boykott der Wahlen aufgerufen, da die Regierung angekündigte Reformen nicht umgesetzt hat: Weder wurde ein neues Parteiengesetz erlassen noch das Wahlgesetz reformiert, und der Ausnahmezustand, der das Land seit 44 Jahren lähmt, ist weiterhin in Kraft. Ohne diese Reformen bleibt jedes politische Engagement außerhalb der staatlichen Organisationen verboten. Wer in einer Menschenrechtsgruppe oder Oppositionspartei mitarbeitet, kann jederzeit verhaftet und vor Gericht gestellt werden. Hassan Abdelazim und seine Mitstreiter sind deshalb vorsichtig.

    " Wenn wir uns treffen, vereinbaren wir schon den Ort und den Zeitpunkt des nächsten Treffens, damit wir zwischendurch nicht telefonieren müssen. Früher fand alles im Geheimen statt, da haben wir uns unter den widrigsten Umständen getroffen. "

    Zuletzt versammelten sich die Regimegegner vor dem Justizpalast in Damaskus. Sie wollten an den Jahrestag der Notstandsgesetze erinnern, die in Syrien seit 44 Jahren gelten. Doch zu einem Protest kam es nicht. Die Aktivisten wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen, bevor sie sich überhaupt begrüßt hatten. Zwanzig Minuten später saßen fast 40 Oppositionelle im Militärtransporter Richtung Adra, wo sich das syrische Zentralgefängnis befindet. Dort, vor den Toren von Damaskus, wurden sie grüppchenweise am Straßenrand ausgesetzt. Ziel der Festnahmen war es offensichtlich nur, die Protestaktion zu verhindern, ohne jedoch durch Inhaftierungen großes Aufsehen zu erregen. Unter den Oppositionellen war auch Riad Seif, eine der prominentesten Figuren der politischen Szene in Syrien. Er bewertet das Vorgehen des Sicherheitsapparates als ein Zeichen von Schwäche.

    " Warum erlauben sie uns keine friedlichen Proteste? Weil sie schwach sind. Wäre das Regime selbstbewusst, würden sie sagen: Bitteschön, versammelt euch, protestiert ein bis zwei Stunden und dann geht alle nach Hause. Aber das Regime ist zu schwach, um die kleinste Aktion zuzulassen, die kleinste Meinungsäußerung. "

    Der 60-Jährige spürt das am eigenen Leib, die Schikanen der syrischen Geheimdienste gehören für ihn zum Alltag. Offensichtlich sieht das Baath-Regime in Riad Seif einen besonders gefährlichen Widersacher - er ist unbeugsam, kompromisslos und populär. Aus eigener Kraft wurde der breitschultrige Mann einst zum erfolgreichen Textilunternehmer, in den 90er Jahren ging er in die Politik, um für Reformen zu kämpfen. Offen prangerte Seif Korruption und Vetternwirtschaft an und machte dabei nicht vor der Familie des Präsidenten halt. Auf sieben Jahre im Parlament folgten deshalb viereinhalb Jahre Gefängnis - eine Zeit, die er zum Studieren genutzt habe, erzählt der Politiker. Im Januar 2006 verließ ein innerlich gestärkter und vor Tatendrang strotzender Seif seine Einzelzelle mit der Absicht, eine liberale Volkspartei zu gründen. Heute, mehr als ein Jahr später, wirkt Seif kraftlos und verzweifelt.

    " Ich bin völlig isoliert. Mein Büro wird rund um die Uhr überwacht, wer mich anruft, wird kontrolliert. Vor meiner Wohnung stehen immer Geheimdienstmitarbeiter, alle Telefonanrufe werden abgehört. Sie haben allen klar gemacht: Riad Seif ist ein rotes Tuch. Ich habe deshalb schon Bedenken, Freunde anzurufen, ich will ihnen ja keinen Ärger machen. "

    Ein sicherer Ort, um Gleichgesinnte zu treffen, ist für Riad Seif der Justizpalast. Jener Justizpalast, vor dem er kürzlich verhaftet und in dem er vor sechs Jahren verurteilt wurde. Das imposante Gebäude im Herzen von Damaskus beherbergt das Oberste Strafgericht - die Verhandlungen dort sind öffentlich, so dass Seif und andere Oppositionelle daran teilnehmen können. Derzeit laufen die Prozesse gegen einige prominente Regimekritiker. Michel Kilo, ein bekannter syrischer Autor und Vertreter der Zivilgesellschaft, sitzt im Gefängnis, weil er die Damaskus-Beirut-Erklärung unterschrieben hat. Darin fordern Intellektuelle beider Länder die Normalisierung der syrisch-libanesischen Beziehungen. Der Menschenrechtsanwalt Anwar Al Bunni steht vor Gericht, weil er ein von der Europäischen Union finanziertes Menschenrechtszentrum in Damaskus eröffnet und einen Bericht über Folter in syrischen Gefängnissen veröffentlicht hat. Und Kamal Labwani, Arzt und Maler, wurde am Flughafen von Damaskus verhaftet, nachdem er sich in Washington mit Vertretern der US-Regierung getroffen hatte. Alle drei haben mit ihren Auslandskontakten rote Linien überschritten. Denn nach den Erfahrungen in Afghanistan und im Irak fürchtet das Assad-Regime nichts so sehr wie eine Annäherung zwischen syrischen Oppositionellen und ausländischen Regierungen - sei es die libanesische, die amerikanische oder einzelne europäische. Die Verhaftungen und das harte Vorgehen der Geheimdienste zeigen Wirkung: Um Syriens Opposition ist es still geworden. Der Rechtsanwalt Hassan Abdel Azim.

    " Seit 30 Jahren sind wir im Gefängnis, seit 30 Jahren vom Geheimdienst geknebelt, 30 Jahre lang ohne Medien, 30 Jahre Versammlungsverbot. Sie haben die Macht des Militärs und der Geheimdienste, aber sie haben nicht die Macht des Volkes. Und die wahre Macht in einem Staat ist immer das Volk. "

    Nach Ansicht der Opposition steht die Mehrheit der syrischen Bevölkerung dem Regime kritisch gegenüber. Auch wenn davon noch nichts zu spüren ist. Riad Seif, Ex-Parlamentarier und Ex-Häftling, hat tiefes Vertrauen in seine Landsleute.

    " Die Opposition - das sind mehr als 90% des Volkes. Aber es ist eine stille Opposition. Alle diese Syrer träumen von dem Tag, an dem die Unterdrückung aufhört und sie ihre Rechte bekommen. Wenn man diesen Leuten eine Chance gibt, sich friedlich und sicher ihre Rechte zu nehmen, werden sie die Angst überwinden und ihre Kraft erkennen. "

    Friedliche schrittweise Veränderungen von innen, lautet die Zauberformel der syrischen Opposition, sie will weder einen radikalen Umbruch noch eine Einmischung von außen. Diese Forderungen teilt auch Ihsan Sanqar, der Geschäftsmann, der für einen Sitz im Parlament kandidiert. Sanqar und Seif sind alte Bekannte - sie saßen in den 90er Jahren gemeinsam im Parlament und kämpften Seite an Seite für wirtschaftliche Reformen, bis sich ihre Wege trennten. Sanqar zog sich 1998 frustriert aus der Politik zurück, während Seif in die Offensive ging, und damit ins Gefängnis. Die Lebenswege der beiden ehemaligen Abgeordneten veranschaulichen einen Grundkonflikt in der syrischen Gesellschaft. Es geht um die Frage, ob das Regime willens und in der Lage ist, das System, das es selbst geschaffen hat, zu reformieren oder nicht. Riad Seif, der ehemalige politische Häftling, glaubt nicht mehr an den Reformwillen des Regimes, Ihsan Sanqar, der pragmatische Unternehmer, hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Für den einen führt der Weg zur Demokratie über den Protest, für den anderen durch die Institutionen. Seif setzt auf das Volk, Sanqar auf die Reformer innerhalb des Systems, und er fordert vor allem eines: Geduld.

    " Wir können für politische Reformen eintreten, so wie wir zuvor für wirtschaftliche Reformen gekämpft haben. Für neue Ideen braucht man nicht viele Leute. Wenn die Vorschläge sich als richtig und gut für die Gesellschaft erweisen, dann werden die anderen sie irgendwann akzeptieren, sie brauchen nur etwas Zeit dazu. "

    Um einzusehen, dass es ohne Wirtschaftsreformen nicht geht, brauchten Syriens Machthaber ein Jahrzehnt. Heute sprechen sie von freier Marktwirtschaft und interessieren sich für die Sozialsysteme Europas. Doch in Behörden und Ministerien riecht es noch immer nach staatlicher Planwirtschaft. Und auf die breite Bevölkerung wirken sich die Reformen bislang negativ aus. Riad Seif:

    " Wir sehen Preissteigerungen in allen Bereichen. In Syrien gibt es keine soziale Marktwirtschaft, wir haben die hässlichste Form von Kapitalismus: Momentan gehen alle gewinnbringenden Projekte an Regimevertreter und ihre Freunde. Die breite Bevölkerung profitiert nicht von den Investitionen, im Gegenteil: die einfachen Leute verlieren. "

    Gleichzeitig ist in Syrien eine neue Schicht von Superreichen herangewachsen, die zum Einkaufen von Armani-Jeans und Gucci-Handtaschen nicht mehr nach Beirut fahren müssen, weil sie Luxusgüter inzwischen auch in Damaskus finden - den freien Märkten sei Dank. Dieser neue Wohlstand führe aber keineswegs zu mehr Demokratie, sagt Politologe Marwan Kabalan:

    " Die syrische Bourgeoisie, die neuen Reichen, sind mehr an politischer Stabilität interessiert als an Veränderungen. Denn sie haben so schon großen Einfluss. In Wirklichkeit verhindern sie Reformen, denn sie sind ganz zufrieden mit der aktuellen Situation und fürchten, eine politische Öffnung könnte zu Instabilität führen. "

    Sollte sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnen, könnte es für Syriens Machthaber eng werden, meint Kabalan. Denn irgendwann werde wirtschaftliche Not die Menschen auf die Straße treiben. Hinzu kommt die Möglichkeit einer ausländischen Intervention, die wie ein Damoklesschwert über dem Regime schwebt. Der außenpolitische Druck der vergangenen zweieinhalb Jahre hat sich für Syriens Innenpolitik als kontraproduktiv erwiesen - darin sind sich in Damaskus alle einig. Bedrohung von außen führe stets zu innenpolitischem Stillstand, sagt Samir Al Taqi, Leiter des Orient Instituts für Internationale Studien, ein think tank, der dem syrischen Außenministerium nahe steht. Wer Syrien auf friedlichem Wege demokratisieren wolle, komme um einen institutionellen Modernisierungsprozess nicht herum.

    " Syrien ist keine kleine Bananenrepublik, in der ein Führer mit seiner Armee kommt, dies und das beschließt und putscht. Es gibt hier eine institutionelle Tradition. Die Amerikaner haben es im Irak versucht. Sie haben Saddam gestürzt, das System zerstört und bei Null angefangen. Das Ergebnis ist - vorsichtig gesagt - nicht erfreulich. Man braucht eine Übergangsphase, in der sich die vorhandenen Institutionen schrittweise anpassen können. "

    Als Paradebeispiel dient Al Taqi Osteuropa. Der Kalte Krieg habe nur deshalb ein friedliches Ende genommen, weil der Westen auf Entspannung gesetzt habe, so der Politikberater. Doch statt diese erfolgreiche Strategie auch in anderen Regionen anzuwenden, verfolgten westliche Politiker seit einigen Jahren wieder eine aggressive und ideologisierte Außenpolitik, kritisiert Samir Al Taqi.

    " Polen und der Ostblock konnten die Entwicklung demokratischer sozialer Kräfte in ihren Gesellschaften nur zulassen, weil Westeuropa und vor allem Deutschland eine große Entspannungsoffensive gestartet hatten. Sie haben die Bedrohung und aggressive Haltung gegenüber diesen Ländern abgebaut. Syrien dagegen ist isoliert und steht vor einer großen wirtschaftlichen Krise. Es hat eine sehr verletzliche Gesellschaft und ist umgeben von wachsenden ethnischen und konfessionellen Konflikten. Warum erlauben wir Syrien nicht, was Polen erlaubt wurde? Wenn Syrien zu Reformen bereit ist, warum umarmt der Westen das Land nicht, um ihm dabei zu helfen? "

    Auch syrische Oppositionelle wünschen sich eine konstruktivere Haltung des Westens. Statt sich auf die Rolle Syriens in der Region zu konzentrieren, sollte Europa der syrischen Innenpolitik mehr Aufmerksamkeit schenken, sagt Hassan Abdelazim, der Vorsitzende der Demokratischen Nationalversammlung. Europäische Politiker sollten in Damaskus auf politische Reformen bestehen, Respekt für Menschenrechte anmahnen, eine mögliche Wirtschaftsförderung an bestimmte Bedingungen knüpfen und die Zivilgesellschaft mit Projekten fördern. Kurz: Mehr Zuckerbrot weniger Peitsche.

    Hassan Abdelazim: " Wir wollen nicht, dass Amerika unser Regime auswechselt, dagegen wehren wir uns. Veränderungen müssen aus der syrischen Gesellschaft kommen. Das Ausland soll diese Veränderungen nur unterstützen ohne wirtschaftlichen Druck auszuüben oder militärisch aktiv zu werden. "

    Die Erfahrungen in Osteuropa sind auch für Syriens Opposition ein Vorbild. Riad Seif, der rund um die Uhr vom Geheimdienst überwacht wird, spricht voller Bewunderung von den friedlichen Massenprotesten und dem unblutigen Ende der dortigen kommunistischen Regime. Die diesjährigen Wahlen lösen bei ihm das Gefühl aus, in der Vergangenheit zu leben. 17 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wirke das syrische System wie ein Anachronismus, so Seif. Er hofft, die Geschichte werde auch Syrien bald einholen.

    " Große Ereignisse sind nie vorhersehbar. Die Öffnung der Berliner Mauer war zwei Monate vorher nicht absehbar. Das Ende der Sowjetunion hatte keiner erwartet, wer so etwas prognostizierte, wurde für verrückt erklärt. Es gibt etwas, was sich nicht zeigt, aber was im entsprechenden Moment aufblüht. Wir sind aktiv und hoffen, dass die Zukunft der Demokratie gehört. Vielleicht in ein paar Monaten, vielleicht erst in zehn Jahren. "