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Der Verkäufer

"Wenn Du jemals wieder erwachst, werden diese Seiten, diese Wörter auf Dich warten. Dafür werde ich sorgen. Ich verspreche mir nicht allzuviel davon, schließlich sind es nur schwarze Flecken auf Papier, ein paar Rechtfertigungen, und kein Ersatz dafür, was du eigentlich von mir verdienst. Aber es wird dir ein bißchen verstehen helfen, woher du kommst, wie irrsinnig deine Mutter und ich dich geliebt haben und wie kurz und flüchtig unsere eigene Liebe war."

Tanya Lieske |
    Das Leben des Billy Sweeny ist ein Scherbenhaufen. Seine Frau Grace hat sich von ihm scheiden lassen, die Stieftochter Lizzie ist mit den Enkeln nach Australien emigriert und Sweenys jüngere, leibliche Tochter Maeve ist das Opfer eines schweren Verbrechens geworden. "Der Verkäufer" heißt der neue Roman des irischen Schriftstellers Joseph O’Connor. Der Titel erinnert an jenen anderen Verkäufer, Willy Loman, der in Arthur Millers Theaterstück "Death of a Salesman" ein tragisches Ende findet. Die Erwartungen des Lesers werden bestätigt: Billy Sweeny hat, genau wie Willy Loman, die besten Jahre seines Lebens hinter sich gelassen. Er hat Speck angesetzt, seine Stelle als Lehrer verloren, nun schlägt er sich als Verkäufer von Satellitenschüsseln durch. Er ist ein Außenseiter, der nur noch scheinbar, quasi berufsbedingt, mit seinen Mitmenschen kommuniziert, und der sich in seinen Selbstgesprächen auf banale Maximen zurückzieht, Zitat: "Ein guter Verkäufer darf die Hoffnung nie aufgeben. Das ist kein Leben für einen Pessimisten". Zitat Ende. Billy Sweeny hat zum Pessimusmus allen Grund, sein größtes Problem ist seine Tochter Maeve. Maeve wurde das Opfer eines Raubüberfalls, wie er in Dublin, dem Schauplatz des Romans, an der Tagesordnung ist. Vier junge Männer, die von Drogen abhängig sind und Geld brauchen, überfallen eine Tankstelle und schlagen das Mädchen hinter der Kasse zusammen. Maeve Sweeny wird lebensgefährlich verletzt, sie liegt in einem Koma, aus dem sie wahrscheinlich bis zum Ende ihres Lebens nicht mehr erwachen wird. Ihr Vater erlebt die Tat noch einmal mit, als das Sicherheitsvideo der Tankstelle vor Gericht eingespielt wird:

    "Plötzlich fiel Davis über dich her; er traktierte dich mit Tritten und Fausthieben, packte dich bei den Haaren und riß dir den Kopf zurück und setzte dir ein Messer an die Kehle. Du schlugst auf ihn ein. Man hörte eine Reihe von lauten Schlägen, dann einen einzigen Schrei von Dir. Er ging mir durch Mark und Bein. (...). Und dann, einen Augenblick später, flehtest Du sie an, daß sie dich nicht umbringen sollten. Deine Stimme war im Gerichtssaal ganz deutlich zu hören. Bitte bringt mich nicht um. Nehmt, was ihr wollt, und verschwindet. Aber tut mir nichts. Ich werde niemandem etwas sagen. Bitte. Ich werde euch nicht verraten. Ich verspreche es. Mit einem Flackern endete der Film. Der Gerichtsdiener schaltete das Licht wieder ein. Eine Weile lang war es sehr still im Saal. Der Richter schrieb etwas auf. Jemand hustete. Eine elektronische Armbanduhr piepste."

    Joseph O’Connors Roman ist in Form eines langen Briefs verfaßt, den Billy an seine Tochter Maeve schreibt und den sie lesen soll, falls sie jemals wieder erwacht. Der Beginn der Niederschrift ist Teil der erzählten Zeit, die ein gutes Jahr und im Rückblick Billy Sweenys Leben ab seiner Jugend umfaßt. Die verschiedenen Zeitebenen ermöglichen es dem Autor, erzählerische Distanz in ein kontroverses Thema zu bringen: Es geht um die Frage, ob durch Selbstjustiz Gerechtigkeit geschaffen werden kann. Billy Sweeny ist mit dem Ergebnis des Gerichtsverfahrens unzufrieden. Der wichtigste Täter, ein Mann namens Donal Quinn, ist aus der Haft entflohen. Die Mittäter werden verurteilt in einem Prozeß, der zwar den Spielregeln des Rechtswesens gehorcht, der dem verzweifelten Billy Sweeny aber wie eine Farce erscheint:

    "Ich sah, daß die Anwälte der gegnerischen Parteien vorne im Saal ein Schwätzchen hielten. Sie gaben sich die Hände und lachten, und einer von ihnen klopfte einem anderen freundschaftlich über die Schulter. Es sah aus, als hätten sie gerade zusammen Tennis gespielt. Ich begriff, daß jeder von ihnen ebensogut die Gegenseite hätte vertreten können; für sie war es nur eine Routineangelegenheit, sonst nichts. Sie waren wie Verkäufer. Das war alles. Mehr nicht."

    Billy Sweeny sinnt auf Rache, er will den flüchtigen Donal Quinn zu töten. Der Roman gehorcht in weiten Teilen den Gesetzen eines Thrillers: Von seinen Mordplänen berichtet Sweeny im Prolog, doch erst im vorletzten Kapitel, gute vierhundert Seiten später, erfährt man, ob und wie er seinen Vorsatz ausführt - die überraschende Wendung ist Teil dieses Pakets. Joseph O‘Connor ist ein Autor, der sich auf klassische Erzähltugenden versteht, auf gut gebaute, spannend und anschaulich geschriebene Geschichten. Das ist umso bemerkenswerter, da der Mordkomplott zwar der rote Faden des Romans ist, nicht aber sein Daseinszweck. Im Mittelpunkt des Romangeschehens steht der Zerfall einer Familie, das Scheitern der Ehe zwischen Billy Sweeny und der schönen, gebildeten Jüdin Grace Lawrence. "Der Verkäufer" ist auch ein Familienroman mit allem, was die Autoren vergangener Jahrhunderte an diesem Genre so liebten, mit Standes- und Generationskonflikten, dem Motiv einer ungeklärten Vaterschaft und der Grundthese, daß der Mensch nur als soziales, gesellschaftlich intaktes Wesen überleben kann. Joseph O’Connor unterstreicht den Wert der Familie, indem er dem Scheitern von Billy Sweenys Ehe einen Großteil seiner erzählerischen Aufmerksamkeit widmet. Grace Lawrence kommt über eine Fehlgeburt nicht hinweg, ihr Mann betrinkt sich, das Geld ist knapp. Den Rest erledigt der Trott des Alltags:

    "Wir redeten ständig davon, daß wir aufs Land ziehen oder vielleicht sogar nach London gehen könnten, aber irgendwie schafften wir nie den Absprung. Immerhin redeten wir davon; das Reden füllte die Leere aus, die sich zwischen deiner Mutter und mir breitmachte, ein Strom von Worten, Hoffnungen und Versprechungen, von denen wir wohl schon damals wußten, daß sie sich nie erfüllen würden. Es ist auffällig, wie oft in Filmen und Romanen Menschen, die einander fremd werden, schweigen. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß Leute, die in Schwierigkeiten stecken, mit einer hektischen, rastlosen Beharrlichkeit reden."

    "Der Verkäufer" hat bei seinem Erscheinen vor zwei Jahren in Irland einiges Aufsehen erregt. Die Öffentlichkeit sah in dem Roman den letzten Paß in einem langen Schlagabtausch zwischen Jospeh O’Connor und seiner jüngeren Schwester, der Popsängerin Sinéad. 1993 hatte Sinéad O’Connor die Zerrüttungen ihres Elternhauses gegen den Willen ihres Bruders an die Öffentlichkeit gebracht, die Geschwister überwarfen sich. Inzwischen hat O’Connor sich damit abgefunden, daß seine Geschichte Gemeingut ist. "Meine Eltern waren unglücklich verheiratet", hat er einmal gesagt. "Dadurch wird man selbst gerade so verrückt, daß man noch gut schreiben kann". Tatsächlich gibt es in "Der Verkäufer" einige Konstellationen, die autobiografische Parallelen zu O’Connors Familie aufweisen: Maeve Sweeny zieht nach der Trennung der Eltern zu ihrem Vater so wie Joseph O’Connor einst zur Mutter, und wie diese stirbt Grace Lawrence in einem Autounfall.

    Der Zerfall der traditionellen Familie spielt eine große Rolle in der zeitgenössischen irischen Literatur, man denke an Autoren wie Colm Toibín oder Roddy Doyle. O’Connor setzt hier einen neuen Akzent. Billy Sweenys Ehe scheitert ohne Drama, ohne Inzest oder häusliche Gewalt. Sie scheitert trotz, oder vielleicht weil Grace und Billy sich lieben. Am ehesten noch läßt sich Sweenys Alkoholismus verantwortlich machen, der hier ohne jede romantische Verklärung der irischen Trunksucht vorgeführt wird. "Ich war verliebt in die gute Laune", sagt Billy Sweeny, "jeder Säufer kann dir sagen, daß das einfach nur die Gestalt ist, die an guten Tagen der Kummer annimmt." Sweeny wird durch seinen Alkoholismus auf den Grund der Existenz gezogen, er verliert seinen Job als Lehrer, einmal erwacht er mit vollgeschissenen Hosen in einer öffentlichen Parkanlage. Er ist auch betrunken, als er den endgültig letzten Streit mit seiner Frau vom Zaun bricht.

    "Ich sah sie an. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Die ganze Küche drehte sich, alles war erfüllt von einem seltsamen Licht. Meine Zunge fühlte sich an wie ein Stück Seife. "So hast du ihn doch damals auch kennengelernt, nicht wahr? Lizzies Herrn Papa. Auf einer Party, nicht wahr? Auf einer Party mit Dichtern und Künstlern. Keine Sweeny-Scheißer da. Keine Herumtreiber wie mein Bruder. Kein Pöbel. Nur Grace Lawrence und ihre feinen intellektuellen Freunde, für die einer wie ich ja nie gut genug war. Sie lehnte sich an den Herd, die Hand an der Stirn. Doch trotzdem machte ich weiter. Ich glaube nicht, daß ich hätte aufhören können. Es gibt eine Phase der Trunkenheit, wo man meint, man sähe klarer als alle anderen, und wo man alles sagt, was einem überhaupt einfällt, um dem anderen weh zu tun."

    Joseph O’Connor hat seinen Roman in vier Teile geteilt, rein inhaltlich kann man zwei Erzählabschnitte unterscheiden. Der erste umfaßt rund drei Jahrzehnte von 1963 bis 1994, von Billy Sweenys erstem Rendezvous mit Grace Lawrence über ihre Scheidung und Grace’s Tod bis zu jenem Tag, an dem Billy Sweeny den flüchtigen Verbrecher Donal Quinn in seine Gewalt bekommt. Im zweiten Teil geht es um die darauf folgenden Ereignisse zwischen den beiden Männern, er ist genau datiert auf die vier Monate zwischen dem 12. Juli und dem 27. November 1994. Die nun folgende zeitliche Dichte der Ereignisse bedingt einen Wechsel hin zu einem konkreteren Erzählstil. Als Billy Sweeny den Täter Donal Quinn zu fassen bekommt, beginnt er ein Tagebuch zu führen, in dem er alle Ereignisse unmittelbar notiert. Joseph O’Connor gewinnt so an Spannung und Nähe zum Geschehen, allerdings zum Preis jener Fähigkeit zur Reflexion, mit der sein Ich-Erzähler bislang beeindruckte. Sweenys Ton wird gröber, der Mann befindet sich im Ausnahmezustand, er hat eine Geisel im Hinterhof liegen und bringt es nicht übers Herz, sie zu erschießen: "

    - Na, Mr. Quinn, wie fühlen wir uns denn heute morgen?"

    - Nehmen Sie mir die Handschellen ab.

    Sagte Nein.

    - Bitte, Mann. Um Himmels willen.

    - Nein.

    - Ich gehe fast ein vor Schmerzen, Mann. In den Schultern, und in der Brust, es ist kaum auszuhalten. Bitte. Ich hab die Dinger doch schon werweißwielange an. Ich kriege kaum noch Luft. Schüttelte den Kopf.

    Blick huschte hin und her, als ob er’s allmählich mit der Angst zu tun bekäme, und das ist schön, denn ich will ja schließlich, daß ihm mulmig wird. Soll er mal kennenlernen, das Gefühl, wie das ist, wenn man in der Klemme sitzt und nichts tun kann.

    Wieder hat man es mit einer Paarbeziehung zu tun, diesmal der zwischen Täter und Opfer, nun ist Herrschaft das Thema, nicht Liebe. Das, was sich in den folgenden Tagen und Wochen zwischen Billy Sweeny und Donal Quinn abspielt, kann man mit dem in der Psychologie bekannten Begriff des "Stockholm Syndrom" beschreiben, darunter versteht man die Verbrüderung des Opfers mit dem Täter in einer scheinbar auswegslosen Lage. Bei Joseph O’Connor tauschen Täter und Opfer zusätzlich die Rollen. Nach wenigen Tagen bricht Donal Quinn aus seinem provisorischen Drahtkäfig aus, er steckt Billy Sweeny hinein und nimmt Rache an dem gescheiterten Rächer. Fünf Tage lang liegt Sweeny im Dreck, dann läßt Quinn ihn frei. Nun beginnt eine absurde Gemeinschaft. Die beiden Männer richten sich ein gemeinsames Leben in Sweenys großem Landhaus ein. Ihre stückweise Annäherung gipfelt darin, daß Quinn sich bei Sweeny entschuldigt, daß Sweeny Quinn, wenn auch nur ein einziges Mal "Junge" nennt, "Son" im englischen Original.

    Er stieß eine Rauchwolke aus. ""Es tut mir leid, das mit deiner Tochter."

    Ich stellte meine Teetasse ab. Der Wind heulte im Kamin. Die Vorhänge flatterten von der Zugluft.

    "Und es hat dir auch leid getan, als dein Kumpel, dieser Dreckskerl, ihr mit der Eisenstange über den Kopf schlug?"

    Er starrte mich an. "Sie hat sich den Kopf an der Kante von der Kasse aufgeschlagen. Mann, das schwöre ich. Niemand hat ihr was getan."

    "Red keinen Unsinn, Quinn."

    "Hör mal, ich habe da nicht freiwillig mitgemacht. Ich hatte keine andere Wahl, Mann. Ich habe ein Schwester, die hat sich von so einem Kredithai in Tallaght Geld geborgt, und der wollte es zurückhaben. Er hat gesagt, sonst tut er ihrem Jungen etwas an. Ihrem vierjährigen Jungen. Er würde ihn aus dem Kindergarten holen und ihm etwas antun, wenn er sein Geld nicht zurückkriegt, und zwar pronto."

    Die Botschaft ist deutlich, auch der Täter ist ein Opfer und nur Versöhnung kann die Spirale der Gewalt beenden. Dagegen, daß ein Autor die Moral seiner Geschichte formuliert, ist im Prinzip nichts einzuwenden. Das Problem liegt anderswo: Durch solches Streben nach Auflösung bricht O’Connor die Kontinuität seines Romans. Zu überzeugend war Sweenys Haß auf Quinn im ersten Teil angelegt, als daß Sweeny den Verbrecher nun glaubhaft an Sohnes statt annehmen könnte. Joseph O’Connor verläßt den Boden jenes psychologischen Realismus, durch den er bislang beeindruckte. Seine Geschichte stößt an die Grenzen der Wahrscheinlichkeit, sie wirkt konstruiert und kann sich fortan nur mit einer Reihe von Aussparungen und sehr knappen Dialogen behaupten. Der Autor mag dies gespürt haben, denn er beendet alle Unstimmigkeiten mit einem Überraschungscoup. Kurz vor Schluß schlägt sein Plot einen kunstvollen Haken, die Gewalt, die beide Männer säten, holt sie gegen ihren Willen ein. Mehr soll hier nicht verraten werden, um der eigenen Lektüre nicht vorwegzugreifen. Denn ein lesenswertes und spannendes Buch ist "Der Verkäufer" allemal.