Es mangele der Politik an Visionen. Sie verkomme zu reinem tagespolitischen Pragmatismus. So ertönen seit einigen Jahrzehnten die Klagen von Links. Von konservativer Seite wirft man der Politik eher vor, sie habe jegliches ethisches Fundament verloren und ende im Relativismus.
Oliver Marchart diagnostiziert im Anschluss an linke politische Theorien aus Frankreich den Verlust eines letzten Fundaments von Staat und Gesellschaft. Gott, Kaiser oder Vaterland, der Sozialismus und noch die neoliberale Ökonomie spielen diese Rolle eines sozialen Bandes nur noch unzulänglich, letztere spätestens, seit sie in den Finanz- und Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahre gegenüber den Staaten den Offenbarungseid ablegen musste und es immer vernünftiger erscheint, die Wirtschaft wieder stärker zu regulieren.
In Frankreich hat man diese Entwicklungen frühzeitig ohne ideologische Scheuklappen reflektiert, so dass eine Reihe von sogenannten postfundamentalistischen politischen Philosophien entstand, die sich nicht nur links, das heißt emanzipatorisch positionieren, die sich vielmehr auf den in den Nationalsozialismus verwickelten Martin Heidegger berufen - eine wundersame Begegnung, die Oliver Marchart folgendermaßen kommentiert:
"Doch gleichgültig, ob Heideggers Spuren nun verwischt wurden oder sein Einfluss mit Händen zu greifen bleibt (...), zumeist wurde er in politisch fortschrittliche Bahnen gelenkt. Die Entwicklung der französischen Nachkriegsphilosophie, die in der einen oder anderen Weise von der Erfahrung des Heidegger'schen Denkens berührt wurde, kann überhaupt nur nachvollzogen werden, wenn dieser politische Impuls - der seinen Höhepunkt natürlich in der Allianz vieler Denker in der Bewegung des Mai 68 fand - Berücksichtigung findet. Die Urbanisierung des Schwarzwalds verdankt sich nicht zuletzt den Straßenkämpfen von Paris."
Damit assoziiert Marchart nicht nur Heideggers Hütte im Schwarzwald. Vielmehr verschärft er jene Bemerkung von Jürgen Habermas, der dem biederen Philosophieprofessor und Heideggerschüler Hans-Georg Gadamer attestierte, die heideggersche Provinz urbanisiert zu haben, natürlich nicht mit brennenden Barrikaden, sondern mit einer weiteren Auslegung von Platon.
Doch jene Barrikaden, vor allem der Geist der Zeit, der damit einherging, erschütterten die Gewissheiten der Politik. Auf der einen Seite reduziert sie sich zu einem demokratischen und medialen, eher oberflächlichen Machtspiel um Einfluss und Pfründe. Auf der anderen Seite mangelt damit der Gesellschaft ihr traditioneller fester politischer Halt, muss dieser jetzt mühsam institutionell und durch politische Partizipation der Bürger hergestellt werden. Dabei bleiben Institutionen oder die Rechte der Bürger ständig umstritten und lassen sich verändern, genauer reformieren. Jene französischen postfundamentalistischen Theorien nennen diese Ebene von Institutionen und Handlungsstrukturen das Politische im Unterschied zur Politik als alltäglicher Auseinandersetzung der Parteien. Mit dieser sogenannten politischen Differenz beziehen sich diese Theorien auf berühmte Unterscheidungen Martin Heideggers. So bemerkt Marchart im Anschluss an Jean-Luc Nancy:
"Die Differenz zwischen Politik und dem Politischen kann als der symptomatische Verweis auf den abwesenden Grund von Gesellschaft und Gemeinschaft verstanden werden."
Nach Heidegger verläuft sich die abendländische Philosophie in einer ständigen Suche nach Gründen. Marchart stimmt dem insoweit zu, wie auch er eine Letztbegründung, einen ersten absoluten Grund für unsinnig hält. Dergleichen Gründe versuchen vornehmlich Theologen zu liefern. Doch selbst wenn die moderne Gesellschaft beziehungsweise das Politische keine letzten Gründe, damit keine stabilen Fundamente besitzt, braucht die Politik wie die Gesellschaft weiterhin Begründungen. Marchart schreibt:
"Auch wenn Philosophie niemals einen letzten Grund finden oder 'gründen' können wird, ist doch die Suche nach Gründen im Postfundamentalismus noch lange nicht abgeblasen. Sie wird vielmehr akzeptiert (...) als unmögliches und doch unvermeidbares Abenteuer."
Darin sieht Marchart den entscheidenden Unterschied zwischen den von ihm diskutierten Theorien und postmodernen Ansätzen, die auf das Begründen ganz verzichten und sich angeblich im Relativismus und in der Beliebigkeit verlaufen. Denn Marchart will sich nicht mit einer abstrakten Analyse zufrieden geben, gipfelt sein Buch vielmehr in einem Versuch, dem Politischen soweit wie möglich den verlorenen Rahmen wiederzugeben, bleibt dieser auch instabil und schwankend. So gelangt er im letzten Teil in die politische Ethik und deutet - und das ist der Höhepunkt des Buches - den Begriff der Solidarität um. Es reicht nicht, Solidarität nur mit Mitgliedern der eigenen sozialen Gruppe zu entwickeln. Es reicht auch nicht, Solidarität mit Fremden zu entwickeln, weil diese fremd sind. Das führt leicht zu deren Bevormundung und Anpassung. Um zur Solidarität mit anderen unter den besagten instabilen politischen Umständen zu gelangen, muss man sich selbst, seine eigene Position, seine eigenen Interessen hinterfragen. Nur aus solcher Hinterfragung heraus kann man Gemeinsamkeiten herstellen beziehungsweise Solidarität unter ungewissen Bedingungen entwickeln. Marchart bemerkt:
"Emanzipatorischer Politik ist deshalb ein Motiv konstanter Infragestellung der eigenen Praxis eingeschrieben, das sich im Besonderen dort beobachten lässt, wo die selbst produzierten Ausschlüsse zum Thema gemacht werden - wo gefragt wird: Welches 'wir' konstituieren wir? Für wen sprechen wir?"
Marchart ist kein Gegner der Demokratie, wie manche der von ihm dargestellten Theoretiker. Er fordert vielmehr eine radikale Demokratie, also eine Weiterentwicklung dessen, was heute existiert und zwar sowohl in die Richtung der Gleichheit wie der Freiheit. Das klingt angesichts der Probleme des Sozialstaats einigermaßen utopisch. Sein Konzept der Solidarität liefert dafür bessere Argumente, wenn er schreibt:
"Eine Politik aber, die sich der Selbstinfragestellung verweigert, mag nach wie vor Politik heißen, es würde aber schwer fallen, sie als demokratische Politik zu bezeichnen."
Oliver Marchart: "Die politische Differenz - Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben", Suhrkamp stw, Berlin 2010, 391 S., 13 Euro
Oliver Marchart diagnostiziert im Anschluss an linke politische Theorien aus Frankreich den Verlust eines letzten Fundaments von Staat und Gesellschaft. Gott, Kaiser oder Vaterland, der Sozialismus und noch die neoliberale Ökonomie spielen diese Rolle eines sozialen Bandes nur noch unzulänglich, letztere spätestens, seit sie in den Finanz- und Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahre gegenüber den Staaten den Offenbarungseid ablegen musste und es immer vernünftiger erscheint, die Wirtschaft wieder stärker zu regulieren.
In Frankreich hat man diese Entwicklungen frühzeitig ohne ideologische Scheuklappen reflektiert, so dass eine Reihe von sogenannten postfundamentalistischen politischen Philosophien entstand, die sich nicht nur links, das heißt emanzipatorisch positionieren, die sich vielmehr auf den in den Nationalsozialismus verwickelten Martin Heidegger berufen - eine wundersame Begegnung, die Oliver Marchart folgendermaßen kommentiert:
"Doch gleichgültig, ob Heideggers Spuren nun verwischt wurden oder sein Einfluss mit Händen zu greifen bleibt (...), zumeist wurde er in politisch fortschrittliche Bahnen gelenkt. Die Entwicklung der französischen Nachkriegsphilosophie, die in der einen oder anderen Weise von der Erfahrung des Heidegger'schen Denkens berührt wurde, kann überhaupt nur nachvollzogen werden, wenn dieser politische Impuls - der seinen Höhepunkt natürlich in der Allianz vieler Denker in der Bewegung des Mai 68 fand - Berücksichtigung findet. Die Urbanisierung des Schwarzwalds verdankt sich nicht zuletzt den Straßenkämpfen von Paris."
Damit assoziiert Marchart nicht nur Heideggers Hütte im Schwarzwald. Vielmehr verschärft er jene Bemerkung von Jürgen Habermas, der dem biederen Philosophieprofessor und Heideggerschüler Hans-Georg Gadamer attestierte, die heideggersche Provinz urbanisiert zu haben, natürlich nicht mit brennenden Barrikaden, sondern mit einer weiteren Auslegung von Platon.
Doch jene Barrikaden, vor allem der Geist der Zeit, der damit einherging, erschütterten die Gewissheiten der Politik. Auf der einen Seite reduziert sie sich zu einem demokratischen und medialen, eher oberflächlichen Machtspiel um Einfluss und Pfründe. Auf der anderen Seite mangelt damit der Gesellschaft ihr traditioneller fester politischer Halt, muss dieser jetzt mühsam institutionell und durch politische Partizipation der Bürger hergestellt werden. Dabei bleiben Institutionen oder die Rechte der Bürger ständig umstritten und lassen sich verändern, genauer reformieren. Jene französischen postfundamentalistischen Theorien nennen diese Ebene von Institutionen und Handlungsstrukturen das Politische im Unterschied zur Politik als alltäglicher Auseinandersetzung der Parteien. Mit dieser sogenannten politischen Differenz beziehen sich diese Theorien auf berühmte Unterscheidungen Martin Heideggers. So bemerkt Marchart im Anschluss an Jean-Luc Nancy:
"Die Differenz zwischen Politik und dem Politischen kann als der symptomatische Verweis auf den abwesenden Grund von Gesellschaft und Gemeinschaft verstanden werden."
Nach Heidegger verläuft sich die abendländische Philosophie in einer ständigen Suche nach Gründen. Marchart stimmt dem insoweit zu, wie auch er eine Letztbegründung, einen ersten absoluten Grund für unsinnig hält. Dergleichen Gründe versuchen vornehmlich Theologen zu liefern. Doch selbst wenn die moderne Gesellschaft beziehungsweise das Politische keine letzten Gründe, damit keine stabilen Fundamente besitzt, braucht die Politik wie die Gesellschaft weiterhin Begründungen. Marchart schreibt:
"Auch wenn Philosophie niemals einen letzten Grund finden oder 'gründen' können wird, ist doch die Suche nach Gründen im Postfundamentalismus noch lange nicht abgeblasen. Sie wird vielmehr akzeptiert (...) als unmögliches und doch unvermeidbares Abenteuer."
Darin sieht Marchart den entscheidenden Unterschied zwischen den von ihm diskutierten Theorien und postmodernen Ansätzen, die auf das Begründen ganz verzichten und sich angeblich im Relativismus und in der Beliebigkeit verlaufen. Denn Marchart will sich nicht mit einer abstrakten Analyse zufrieden geben, gipfelt sein Buch vielmehr in einem Versuch, dem Politischen soweit wie möglich den verlorenen Rahmen wiederzugeben, bleibt dieser auch instabil und schwankend. So gelangt er im letzten Teil in die politische Ethik und deutet - und das ist der Höhepunkt des Buches - den Begriff der Solidarität um. Es reicht nicht, Solidarität nur mit Mitgliedern der eigenen sozialen Gruppe zu entwickeln. Es reicht auch nicht, Solidarität mit Fremden zu entwickeln, weil diese fremd sind. Das führt leicht zu deren Bevormundung und Anpassung. Um zur Solidarität mit anderen unter den besagten instabilen politischen Umständen zu gelangen, muss man sich selbst, seine eigene Position, seine eigenen Interessen hinterfragen. Nur aus solcher Hinterfragung heraus kann man Gemeinsamkeiten herstellen beziehungsweise Solidarität unter ungewissen Bedingungen entwickeln. Marchart bemerkt:
"Emanzipatorischer Politik ist deshalb ein Motiv konstanter Infragestellung der eigenen Praxis eingeschrieben, das sich im Besonderen dort beobachten lässt, wo die selbst produzierten Ausschlüsse zum Thema gemacht werden - wo gefragt wird: Welches 'wir' konstituieren wir? Für wen sprechen wir?"
Marchart ist kein Gegner der Demokratie, wie manche der von ihm dargestellten Theoretiker. Er fordert vielmehr eine radikale Demokratie, also eine Weiterentwicklung dessen, was heute existiert und zwar sowohl in die Richtung der Gleichheit wie der Freiheit. Das klingt angesichts der Probleme des Sozialstaats einigermaßen utopisch. Sein Konzept der Solidarität liefert dafür bessere Argumente, wenn er schreibt:
"Eine Politik aber, die sich der Selbstinfragestellung verweigert, mag nach wie vor Politik heißen, es würde aber schwer fallen, sie als demokratische Politik zu bezeichnen."
Oliver Marchart: "Die politische Differenz - Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben", Suhrkamp stw, Berlin 2010, 391 S., 13 Euro