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Der verratene Sommer

Achtzehn Jahre hatte er beinahe ununterbrochen im Gefängnis gesessen, der chinesische Dissident Wei Jingsheng. Sein Vergehen war groß in den Augen der Pekinger Machthaber: Er forderte Freiheit und Demokratie für das Volk und hatte dies in einer Wandzeitung kundgetan. Wei Jingsheng ist einer der bekanntesten und mutigsten Regimegegner, Symbolfigur und Vordenker jener Studenten, die im Juni 1989 auf dem Pekinger Tien Anmen, dem Platz des himmlischen Friedens, für Demokratie demonstrierten und deren Zusammenkunft so blutig niedergeschlagen wurde.

Simone Hamm |
    Auf diesem Platz war damals auch die Schriftstellerin Hong Xing und hat mitdemonstriert, hat den Terror zu spüren bekommen. Ihr Roman: "Der verratene Sommer" ist jetzt in deutscher Sprache erschienen. Lin Yings Rock ist blutverschmiert. Ihre Geldbörse, ihre Armbanduhr hat sie verloren. Sie ist gerannt, gestolpert: fort, nur fort vom Platz des himmlischen Friedens, dem Geräusch von Gewehrsalven, dem Gemisch der Gerüche von verbranntem Asphalt, vermengten Leichen, warmem Blut. Sie sieht Panzer rumpeln, die Fahrräder, Busse, eiserne Geländer wie Unrat zusammenschieben. Sie sieht Menschen, die Schutz suchen vor Gewehrkugeln - vergeblich. Lin Ying gelingt es zu entkommen. Tote liegen in den Straßen. Eine fremde junge Frau nimmt sie ein Stück auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades mit. Lin Ying hastet zur Wohnung ihres Freundes, sie schließt die Tür auf, sie glaubt, dem Albtraum entronnen zu sein. Doch sie ist nur angekommen in einem neuerlichen Albtraum. Im Bett, an der Schulter des Freundes liegt eine andere.

    Mit diesen Verwirrungen einer jungen Frau, der die Schriftstellerin ihren eigenen Vornamen gegeben hat, beginnt "der verratene Sommer". Auch stammt ihre Protagonistin wie sie aus Chonqing, jener nebligen Bergstadt am Yangtse in der Provinz Szechuan.

    Die Schriftstellerin Hong Ying kam 1989 nach Peking, um an der Lu Xun Akademie Literatur zu studieren, ihr alter ego, die Dichterin Lin Ying, kam der Liebe wegen. Lin Ying hat Sinn für romantische Lieben. Nie hat Lin Ying sich für Parteipolitik interessiert, hat sich als Künstlerin, als Dichterin verstanden.

    Einfühlsam führt Hong Ying die Leser in die Kreise junger Literaten, Maler, bildender Künstler ein, und läßt sie teilhaben an deren Problemen, deren Diskussionen. Ob es besser sei, im Lande zu bleiben und unter großer Gefahr weiterzuarbeiten oder ob es besser sei, die Chance, wenn sie sich nur böte, ergreifen solle, ins Ausland zu gehen. Da dürfe man dann zwar alles schreiben, aber es interessiere niemanden. Tut die Politik der Dichtung gut oder die Dichtung der Politik? Und wie steht es mit außerchinesischen Einflüßen?

    Schriebe oder male man westlich, gelte man als blosser Epigone, bevorzuge man den chinesischen Stil, werde die Arbeit von ausländischer Seite als folkloristisch gesehen. Wann ist Kunst avantgardistisch oder ist sie es per se?

    Hier diskutiert Lin Ying mit ihren Freunden über abstrakte Probleme - dort, auf dem Tien Anmen, ist es längst ernst geworden. Die Studenten müssen sich entscheiden, wo sie hingehören. Maos Worte von der Revolution, die keine Teeparty sei, haben einen neuen Inhalt bekommen.

    Bei ihren Freunden stößt Lin Ying auf dieselbe Engstirnigkeit, die sie in ihrem Chonqinger Elternhaus als Tochter eines trinkenden Flößers und ihrer still leidenden Mutter so gehaßt hatte. Die meisten Männer reden. Lin Ying durchschaut sie. Schließlich ist sie eine Frau, und deren Rolle ist unter den nachdenklichen Schriftstellern und unter den feinsinnigen Künstlern keine andere als die einer Frau unter engstirnigen Bauern, unter abgekämpften Fabrikarbeitern.

    Die Männer sind erschreckt von ihr und ihresgleichen: Frauen, die sich einen Mann nehmen, wenn sie Lust darauf haben. Wilder, ausgelassener, hemmungsloser geben sich Lin Ying und ihre Freunde: sind sie doch so verzweifelt, daß sie nichts und niemanden mehr fürchten. Auch nicht den Tod.

    Der kurze chinesische Frühling ist vorbei. Gegen die Repression ist Widerstand zwecklos. Viele der Studenten flüchteten sich in ihrer Verzweiflung in wilde, hemmungslose - und doch freudlose - Orgien und in den Tod. Der Schriftsteller Yan Yan wirft sich vor einen Zug:

    "Als vor einem halben Jahr die Frau Yan Yans sich die Hauptschlagadern aufgeschnitten hatte, da hatte Yan Yan seinen Schmerz betäubt, indem er soff und rauchte und ganze Nächte allein durch die Gegend zog. Damals hatte Lin Ying tatsächlich befürchtet, daß er sich das Leben nehmen würde. Mit Beginn der Demonstrationen im Frühjahr war es lächerlich geworden, aus persönlichen Motiven Selbstmord zu begehen. Also hatte Yan Yan sich fanatisch am Hungerstreik beteiligt: Während die anderen sich gründlich satt aßen, bevor sie anfingen, ging er hungrig hin; Er wurde zweimal ohnmächtig ins Krankenhaus gebracht, eilte aber jedesmal zurück auf den Platz und machte weiter . ... Gestern Nacht hatte Yan Yan dann schlußendlich den Tod gewählt. Er hatte sein bereits zerstörtes Selbst in der Mitte durchtrennen lassen. Wenn man es sich recht überlegte, war das durchaus zu erwarten gewesen. Ein Leben selbst zu beenden, das seinen Sinn verloren hatte, das war kein Tod, sondern das Entstehen eines Sinnzusammenhanges. ... Die Namen der Freunde wurde einer nach dem anderen im Großen Buch der Wahrheit ausgestrichen. Diese Welt wurde so erschreckend fremd. In China bringen sich nicht zuviele Dichter um, sondern zu wenige."

    Lin Ying nimmt auf nichts und niemanden mehr Rücksicht. Sie weiß, daß sie sich nie wieder vor einer Bedrohung verstecken wird, weiß, daß ihre Flucht zu Ende ist, weiß, daß sie nichts mehr zu erwarten hat. Soviel Wut , Resignation, Zerstörung treibt einem bitteren Höhepunkt zu.

    Ihre geistige Mutter, die Autorin Hong Ying hat sich entschieden, hat China verlassen, lebt heute in London. Zumindest schriftstellerisch hat sie das Problem des Ost-West-Konfliktes gelöst. Stilistisch ist sie ganz und gar Chinesin: einfache Satzkonstruktionen, eine anschauliche, bildreiche Sprache. Gedanklich ist sie im Osten wie im Westen zu Hause. Die Fragen, die ihre Protagonisten sich stellen, sind ohnehin universell.