Der mittlerweile siebenundneunzigjährige Julien Green, ein Solitär auf der literarischen Bühne, ist ein Musterbeispiel, um derart heikle literaturkritische Fragen zu stellen. Sein imposantes, sich über alle Gattungen erstreckendes Oeuvre rangiert in Frankreich längst im Klassikerschrein der "Bibliothèque de la Pléiade", und seitdem der Hanser Verlag in den achtziger Jahren begann, Greens erzählerisches Werk zu edieren, spricht es sich auch hierzulande herum, was für ungewöhnliche und faszinierende Bücher das sind.
Der Roman "Der verruchte Ort" nimmt eine eigentümliche Fugenstellung innerhalb der Greenschen Entwicklung ein. 1977 erschien er im Original, drei Jahre später folgte unter dem Titel die deutsche Erstveröffentlichung, deren wenig glanzvolle Übersetzung für die Neuausgabe weitgehend übemommen wurde. "Der verruchte Ort" folgt auf "Der Andere" von 1971 und führt den Leser, so zumindest scheint es, zurück zu Greens Anfängen: zurück zu den fulminanten Romanen der zwanziger Jahre, zu "Mont-Cinère", "Adrienne Mesurat" und "Leviathan", die Green mit einem Schlag zu einem der anerkanntesten französischen Romanciers machten. Gleichzeitig bündelt "Der verruchte Ort" in einer Art Zwischenbilanz Leitthemen aus vielen Jahrzehnten und läßt im nachhinein erahnen, warum Green wenige Jahre später dazu überging, sein nachgerade monströses Spätwerk auszuarbeiten: die über zweitausend Seiten umfassende Südstaaten-TriIogie "Dixie".
"Der versuchte Ort" taucht ein in die sich distinguiert gebende Welt der wohlhabenden oder sich wenigstens wohlhabend gerierende Bourgeoisie. Gertrude, eine Witwe in den Vierzigern, der ihr donnerstäglicher Salon und die dazugehörigen kalorienenreichen Patisserien alles sind, hat Louise, die dreizehnjährige Tochter ihres verstorbenen Bruders, zu sich genommen. Was als großherziger Akt der Nächstenliebe gelten will, artet rasch zum Machtkarnpf zweier Menschen aus, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Gertrude nach Anerkennung und Reichtum schielt, wandelt Louise als strahlende Unschuld durch die gedämpften Räume des Romans. Ihr unbefleckter Reiz freilich zieht fatale Konsequenzen nach sich: Von allen Seiten erhält Louise Avancen triebbesessener alter Männer, diese kennen nur ein Ziel: die Unschuld zu besitzen und sie zu entweihen.
Julien Greens Roman rechnet - in schärferem Ton als seine Vorgänger - mit einem dekadenten Bürgertum ab, das von Gier zerfressen ist und dennoch um die Kraft reiner Moralität weiß. Eitelkeit und Lüsternheit machen aus angesehenen Fabrikbesitzern geile Intriganten, die kein Mittel scheuen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. "Die Menschen sind merkwürdig. Bein geringsten Anlaß kommen sie auf abwegige Gedanken", lautet die lapidare Erkenntnis. Greens Welt ist reich an grotesken Szenen, die die Jämmerlichkeit einer sich überlebenden Schicht dekuvrieren, ohne jemals ins Fahrwasser einer Thesenliteratur zu eraten. Selbst als Louise, um ihrem Onkel Gustave entzogen zu werden, in ein nobles Internat gebracht wird, ändert sich wenig: Lehrerinnen und Mitschülerinnen nähern sich der Lichtgestalt in eindeutiger Absicht, lassen ihr auch hier keinen Spielraum - verruchte Orte, wohin das Auge sich auch wendet.
Greens Roman ist kein Sittenbild der psychologisierenden Art. "Sie standen sich gegenüber wie zwei Gestalten aus einer antiken Tragödie", heißt es an einer Stelle, und genau darin liegt die verstörende Eigenart auch dieses Buches. So sehr seine Figuren dem hohlen mondänen Leben entlehnt sind, so vehement verkörpern sie mehr als das: Gertrude, Gustave, Louise oder der heruntergekommene Bordellgänger Brochard, sie alle fungieren als tragische Urgestalten einer mythisch interpretierten Welt, in der Tag- und Nachttraum mehr Wahrheit als die Oberflächenrealität beanspruchen. "Die Zerbrechlichkeit aller Dinge", die Louise erfährt, ist an allen Ecken und Enden präsent, und wo die Menschen zu agieren beginnen, walten sofort die zerstörerischen Kräfte von Leidenschaft und Gewalt. Diese archaischen Mächte sind nicht zu bändigen, nicht in den zivilisatorischen Griff zu bekommen, sie führen in selbstverständlicher Folgerichtigkeit ins Verderben: Louise, für deren Unschuld kein Platz in dieser Welt ist, verschwindet irgendwo in einer Schneelandschaft, und Gustave setzt seinem Doppelleben ein martialisches Ende: Auf einer Parkbank sitzend, spielende Kinder vor Augen, zieht er sich ein Rasiermesser durch die Kehle. Die Beklemmung, die von Julien Greens Romanen ausgeht, ist auch das Resultat einer ausgeprägten Ortssymbolik. Der unausgesprochene metaphysische Hintergrund in "Der verruchte Ort" konturiert sich etwa vor blitzlichtartig skizzierten Toreinfahrten und Straßenschluchten, in die sich die gehetzten Menschen flüchten. Und er wird angedeutet im Interieur von Wohnungen, deren Türen oder Dachluken mit jedem Sich-Öffnen und und mit jedem Sich-Schließen einen Abgrund verheißen. So errichtet auch "Der verruchte Ort" den unverwechselbaren Greenschen Kosmos, der ungeachtet seiner traditionell anmutenden Erzählkonstruktion die Alpträume unseres Jahrhunderts eindringlicher festhält als viele avantgardistisch auftrumpfende Texte der Moderne oder Postmodeme.
Der Roman "Der verruchte Ort" nimmt eine eigentümliche Fugenstellung innerhalb der Greenschen Entwicklung ein. 1977 erschien er im Original, drei Jahre später folgte unter dem Titel die deutsche Erstveröffentlichung, deren wenig glanzvolle Übersetzung für die Neuausgabe weitgehend übemommen wurde. "Der verruchte Ort" folgt auf "Der Andere" von 1971 und führt den Leser, so zumindest scheint es, zurück zu Greens Anfängen: zurück zu den fulminanten Romanen der zwanziger Jahre, zu "Mont-Cinère", "Adrienne Mesurat" und "Leviathan", die Green mit einem Schlag zu einem der anerkanntesten französischen Romanciers machten. Gleichzeitig bündelt "Der verruchte Ort" in einer Art Zwischenbilanz Leitthemen aus vielen Jahrzehnten und läßt im nachhinein erahnen, warum Green wenige Jahre später dazu überging, sein nachgerade monströses Spätwerk auszuarbeiten: die über zweitausend Seiten umfassende Südstaaten-TriIogie "Dixie".
"Der versuchte Ort" taucht ein in die sich distinguiert gebende Welt der wohlhabenden oder sich wenigstens wohlhabend gerierende Bourgeoisie. Gertrude, eine Witwe in den Vierzigern, der ihr donnerstäglicher Salon und die dazugehörigen kalorienenreichen Patisserien alles sind, hat Louise, die dreizehnjährige Tochter ihres verstorbenen Bruders, zu sich genommen. Was als großherziger Akt der Nächstenliebe gelten will, artet rasch zum Machtkarnpf zweier Menschen aus, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Gertrude nach Anerkennung und Reichtum schielt, wandelt Louise als strahlende Unschuld durch die gedämpften Räume des Romans. Ihr unbefleckter Reiz freilich zieht fatale Konsequenzen nach sich: Von allen Seiten erhält Louise Avancen triebbesessener alter Männer, diese kennen nur ein Ziel: die Unschuld zu besitzen und sie zu entweihen.
Julien Greens Roman rechnet - in schärferem Ton als seine Vorgänger - mit einem dekadenten Bürgertum ab, das von Gier zerfressen ist und dennoch um die Kraft reiner Moralität weiß. Eitelkeit und Lüsternheit machen aus angesehenen Fabrikbesitzern geile Intriganten, die kein Mittel scheuen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. "Die Menschen sind merkwürdig. Bein geringsten Anlaß kommen sie auf abwegige Gedanken", lautet die lapidare Erkenntnis. Greens Welt ist reich an grotesken Szenen, die die Jämmerlichkeit einer sich überlebenden Schicht dekuvrieren, ohne jemals ins Fahrwasser einer Thesenliteratur zu eraten. Selbst als Louise, um ihrem Onkel Gustave entzogen zu werden, in ein nobles Internat gebracht wird, ändert sich wenig: Lehrerinnen und Mitschülerinnen nähern sich der Lichtgestalt in eindeutiger Absicht, lassen ihr auch hier keinen Spielraum - verruchte Orte, wohin das Auge sich auch wendet.
Greens Roman ist kein Sittenbild der psychologisierenden Art. "Sie standen sich gegenüber wie zwei Gestalten aus einer antiken Tragödie", heißt es an einer Stelle, und genau darin liegt die verstörende Eigenart auch dieses Buches. So sehr seine Figuren dem hohlen mondänen Leben entlehnt sind, so vehement verkörpern sie mehr als das: Gertrude, Gustave, Louise oder der heruntergekommene Bordellgänger Brochard, sie alle fungieren als tragische Urgestalten einer mythisch interpretierten Welt, in der Tag- und Nachttraum mehr Wahrheit als die Oberflächenrealität beanspruchen. "Die Zerbrechlichkeit aller Dinge", die Louise erfährt, ist an allen Ecken und Enden präsent, und wo die Menschen zu agieren beginnen, walten sofort die zerstörerischen Kräfte von Leidenschaft und Gewalt. Diese archaischen Mächte sind nicht zu bändigen, nicht in den zivilisatorischen Griff zu bekommen, sie führen in selbstverständlicher Folgerichtigkeit ins Verderben: Louise, für deren Unschuld kein Platz in dieser Welt ist, verschwindet irgendwo in einer Schneelandschaft, und Gustave setzt seinem Doppelleben ein martialisches Ende: Auf einer Parkbank sitzend, spielende Kinder vor Augen, zieht er sich ein Rasiermesser durch die Kehle. Die Beklemmung, die von Julien Greens Romanen ausgeht, ist auch das Resultat einer ausgeprägten Ortssymbolik. Der unausgesprochene metaphysische Hintergrund in "Der verruchte Ort" konturiert sich etwa vor blitzlichtartig skizzierten Toreinfahrten und Straßenschluchten, in die sich die gehetzten Menschen flüchten. Und er wird angedeutet im Interieur von Wohnungen, deren Türen oder Dachluken mit jedem Sich-Öffnen und und mit jedem Sich-Schließen einen Abgrund verheißen. So errichtet auch "Der verruchte Ort" den unverwechselbaren Greenschen Kosmos, der ungeachtet seiner traditionell anmutenden Erzählkonstruktion die Alpträume unseres Jahrhunderts eindringlicher festhält als viele avantgardistisch auftrumpfende Texte der Moderne oder Postmodeme.