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Der verwundete Wald

In Manaus, mitten im Amazonasregenwald, wird seit 1902 das Flussniveau gemessen. Für 2009 vermerkten die Bücher den höchsten Wasserstand seit Beginn der Aufzeichnungen, ein Jahr später dagegen, 2010, den niedrigsten. Zwei Extremereignisse in nur zwei Jahren – ein Zufall? Noch wissen die Experten nicht, was sie davon halten sollen.

Von Gudrun Fischer | 02.06.2011
    Andréa Arana: "Das Amazonasgebiet trägt zur Regenbildung hier in Manaus bei und auch zum Regen auf dem gesamten Globus. Spuren von Feuchtigkeit aus dem Urwald finden sich noch in São Paulo, im Süden Brasiliens. Regionales und globales Klima beeinflussen sich gegenseitig."

    Carina Prado: "Bedenken Sie: Der Amazonasurwald ist der größte zusammenhängende Urwald der Welt! Deswegen ist es so spannend, am Amazonas zu forschen. Es geht um das globale Gleichgewicht."

    Ein rothaariger Wicht läuft durch den Urwald. Wie der Wind ist der Junge Curupira. Mit seiner Ferse klopft er an Bäume. Sind sie krank, werden sie fallen?

    Lívia Oliveira: "Hier steht unser Forschungsturm, er ist über 40 Meter hoch. Sehen Sie die weißen Röhrchen, die dort oben am Gerüst in verschiedenen Höhen in die Luft ragen? Durch diese Röhrchen wird die Luft über dem Urwald angesaugt, hier runter geleitet und durch einen Filter gepresst. So fangen wir Aerosole aus der Luft auf, das sind feinste Schwebeteilchen. Parallel dazu erheben wir meteorologische Daten. Drinnen im Container speichern Computer die Daten ab."

    Die Physikerin Lívia Oliveira steht mitten im Amazonasurwald, 100 Kilometer nördlich von Manaus. Neben der Physikerin ragt ein eiffelturmartiges Metallgerüst ins Blätterdach. Ein Bündel von Kabeln und Schläuchen führt von den Messinstrumenten hinab zu verschiedenen dröhnenden Maschinen, die unter einem Vordach stehen. Lívia Oliveira öffnet einen Messapparat und entnimmt zwei runde, wattierte Filter. Durch diese Filter ging die getrocknete Luft einer bestimmten Höhenschicht und hinterließ in der Watte ihre Fracht. Oliveira

    "Die Teilchen sind sehr klein, nur nanometergroß. Hier, schauen Sie, dieser gebrauchte Filter ist ein wenig gelb von den Aerosolen und dieser andere ganz weiß. Die Leute aus São Paulo schicken die Filter fertig zugeschnitten hierher. Jetzt setze ich die neuen Filter ein."

    Lívia Oliveira wickelt die gebrauchten Filter in Alu-Papier und steckt sie in eine Kühlbox, damit Bakterien oder Feuchtigkeit sie nicht verschmutzen. Die feuchten Winde, die vom Atlantik Richtung Manaus wehen, überqueren auf einer Strecke von 1500 Kilometern den Urwald ohne Kontakt zu schmutziger Luft. Die Luft über dem Amazonasurwald ist fast überall immer noch so sauber wie die Luft in vorindustrieller Zeit. Deswegen ist sie so interessant für die Forschung. Die Physik-Doktorandin geht zum Container, zieht ihre Sandalen aus und schließt hinter sich die Tür. Im Container brennt Licht. Entlang der Metallwände stabile Tische. Darauf zehn Laptops. Auf den Bildschirmen flimmern Kurven und Grafiken. Oliveira:

    "Pro Tag erstellen die Rechner eine Datei. Zum Beispiel dieses Gerät hier, es zeigt mir die Feuchtigkeit und die Uhrzeit an, zählt aber nicht. Gezählt wird mit den beiden Geräten, die daneben stehen. Schauen Sie, sie zeigen 93 Aerosole an. Erst wenn die trocknere Jahreszeit kommt, steigt die Zahl. Dieser Bildschirm zeigt die CO2 Konzentration, sie steht gerade bei 388,89 Teilchen pro Million, normal. Das ist Hightech im tiefsten Urwald."

    Eine Flut von Daten landet in diesem Forschungscontainer, einige Daten gehen via Radioantenne direkt nach Manaus und von dort weiter in alle Welt. Doch da Gewitter die Direktübertragung stören, holt Lívia Oliveira die wichtigsten Daten zwei Mal die Woche selbst im Urwald ab. Aerosole wirken wie Kondensationskerne für die feuchte Luft, nur mit ihrer Hilfe bilden sich Regentropfen. Es hat die ganze Nacht geregnet. Noch immer dampft der Wald, Nebelschlieren liegen zwischen den Bäumen. Es ist Mittagszeit. Livia Oliveira geht die matschige Urwaldstraße hinab zum Camp. Bevor sie das zweistöckige, von Mückennetzen verhüllte Holzgebäude betritt, wäscht sie ihre lehmigen Sandalen ab. Der Koch des Camps erwartet sie, das Essen steht auf dem Tisch.

    Mehr als 1000 Forscherinnen und Forscher erheben an 15 im Amazonasgebiet verteilten Türmen Daten. Sie arbeiten innerhalb des "LBA", des sogenannten "großflächigen Biosphären-Atmosphären" Projekts mit Sitz im Klimazentrum des Amazonasforschungsinstituts in Manaus. Die Forschungstürme stehen viele hundert Kilometer voneinander entfernt in verschiedenen Urwaldregionen. Die meisten Amazonas-Forschenden kommen aus dem industrialisierten Südbrasilien, viele auch aus den USA oder Europa. Sie beschäftigen sich mit den Böden, der Luft und der Flora und Fauna dieses Urwaldgebiets, das so groß ist wie Westeuropa.

    Gleich wird Lívia Oliveira noch die Regenwasserproben von einer Messstelle beim Camp holen. Dann bringt ein Fahrer sie zurück in die Millionenstadt Manaus. Manaus ist von Urwald und von den Flüssen Rio Negro und Solimoes umgeben. Kurz hinter Manaus fließen die beiden Flüsse zum Amazonas zusammen. Nur zwei Straßen führen in die Stadt, meist sind sie wegen Regens unpassierbar. Wer nach Manaus will, sollte besser fliegen oder per Schiff anreisen. In einem Wäldchen am Rande der Stadt liegt das Amazonasforschungsinstitut "INPA". 400 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten hier allein im Klimazentrum. Sie beschäftigen sich zur Zeit mit der beunruhigenden Frage, ob die Regenbildung über dem Amazonasurwald gestört ist. Die Biologin Carina Prado hat vor ein paar Monaten ihrer Masterarbeit über schnell zerfallende Aerosole in drei Höhen im Urwald abgeschlossen.

    "Ich habe auf einem 53 Meter hohen Forschungsturm gearbeitet. Die erste Probe habe ich morgens um sieben genommen, die nächste um zehn, dann um dreizehn Uhr und zuletzt nachmittags um drei. Immer unter Zeitdruck musste ich meinen Apparat, eine Art Pumpe, die Leiter des Turms hinaufschleppen. In der Pumpe steckt ein Stahlgefäß und darin ein Absorptionsmittel, das die organischen Verbindungen aus der Waldluft speichert. Ich habe auf einer Höhe von einem Meter begonnen, Luft angesaugt, bin schnell zehn Meter die Leiter hinaufgestiegen, habe wieder Luft angesaugt, dann musste ich weiter bis auf 20 Meter hoch, dort war Schluss. Der Turm hat eine steile Leiter, abends war ich völlig fertig."

    Demnächst beginnt Carina Prado mit ihrer Doktorarbeit, doch davor baut sie am Klimazentrum ein neues Labor auf, damit in Zukunft gasförmige Aerosolproben in Manaus selbst untersucht werden können. Die Biologin musste mit ihren Proben noch an das Nationale Klimaforschungsinstitut in Boulder in die USA fliegen, um sie mit einem speziellen Gaschromatographen und einem Massenspektrometer zu analysieren. Prado:

    "In zwanzig Metern Höhe habe ich große Mengen von Isopren gefunden. Dagegen gab es in zehn Metern Höhe viele Monoterpene. Sie sind sekundäre Metaboliten und entstehen, wenn die Pflanze gegen einen Krankheitserreger angeht. Von Sesqui-Terpenen habe ich nur geringe Mengen gefunden, denn die sind besonders reaktiv und flüchtig. Wir haben auch den Boden untersucht, aber der gibt wenig Terpene ab. Ich habe herausgefunden, dass den größten Einfluss auf die chemischen Reaktionen in der Atmosphäre die Isoprene haben, die flüchtigen Stoffe, die von den Blättern in den oberen Schichten des Urwalds abgeben werden."

    Die von Carina Prado in der Urwaldluft gemessenen Isoprene, Monoterpene und Sesqui-Terpene gehören zu den Terpenen, einer großen chemischen Stoffklasse. Ein Beispiel für Terpene sind Harze. Terpene gehören zu den sekundären Aerosolen. Denn sie sind gasartig und flüchtig. Stabiler sind die primären Aerosole. Diese feinen Stäube hat die Industriechemikerin Andréa Arana in der Luft über dem Urwald untersucht. Andréa Arana fährt nur sporadisch ins Forschungsgebiet, weil sie auf Daten zurückgreifen kann, die andere vom Container im Forschungsurwald anliefern.

    "Mein Doktorvater Paulo Artaxo begann mit seinen Arbeiten über Aerosole schon in den 80er-Jahren. Da war ich noch gar nicht geboren! Aber in den letzten zehn Jahren haben wir hier am Amazonas die Aerosolforschung intensiviert. Wir fanden heraus – und dazu trug meine Masterarbeit bei – dass der Wald selbst kleinste, feste Teilchen in die Luft abgibt. Das sind Teilchen von Pilzen, von Bakterien, Pollen, mikroskopisch kleine Teilchen von Blättern. Das alles schwebt in der Atmosphäre. Dazu kommen Salze vom Atlantik, Chlor und Natrium."

    Im Amazonasgebiet regnet es bis zu 3000 Milliliter pro Jahr. Das ist mehr als das Vierfache dessen, was Deutschland im Jahr abbekommt. Dieser Regen wird zu einem Teil gespeist von feuchter Luft, die vom Atlantik über das Amazonasgebiet zieht. Einen weiteren Teil des Regens verdunstet der Wald selbst über Evapotranspiration. Dass der Urwald nicht nur Feuchtigkeit, sondern biogene Aerosole abgibt, die zur Regenbildung beitragen, ist eine der jüngeren Erkenntnisse aus dem Klimazentrum des Amazonasinstituts. Das bedeutet, dass der Urwald seinen Wasserkreislauf fast komplett eigenständig reguliert. Andréa Arana kartierte die biogenen Aerosole nördlich von Manaus. Da die Artenvielfalt der Bäume sehr groß ist, gehen sie und ihre Kollegen seit neuestem davon aus, dass jede Region des Urwaldes mit ihren Aerosolen eine Art Fingerabdruck hinterlässt. Dass Spuren von Sand aus der Sahara und auch Aschepartikel im Aerosolmix über dem Urwald schweben, entdeckten Forscher schon vor ein paar Jahren. Jetzt werden es immer mehr Teilchen, die von immer größeren gerodeten Flächen in die Atmosphäre steigen. Obwohl ohne Aerosole kein Regen entsteht, kann eine zu hohe Teilchen-Dichte die Regenbildung verhindern. Das erkannte der Atmosphärenphysiker Paulo Artaxo, Doktorvater von Andréa Arana. Er kommt regelmäßig von São Paulo, wo er an der staatlichen Universität lehrt, nach Manaus:

    "Wir haben Versuche durchgeführt in Regionen, die von Menschen zerstört wurden, zum Beispiel im südlichen Amazonasstaat Rondônia, wo bereits 40 Prozent des Urwaldes abgeholzt wurden. Wir fanden heraus, dass die Wolken dort völlig andere Eigenschaften hatten als normale Wolken. Normalerweise hat die Atmosphäre im Amazonasgebiet 300 Aerosole pro Kubikzentimeter. In Rondônia sind es 7000 bis 10.000 Teilchen. Wenn es bei gleichbleibender Luftfeuchtigkeit mehr Partikel gibt, sind die Regentropfen, die an den Partikeln kondensieren, sehr viel kleiner. Dann verdunsten sie und werden verweht, bevor sie abregnen. In der Folge entsteht über abgeholzten Flächen kaum Regen."

    Dunkle Rußpartikel aus Waldbränden nehmen mehr Sonnenenergie auf als helle Aerosole. Dadurch erwärmt sich die Luft um die Rußpartikel. Auch deswegen verdunstet die an Rußpartikeln kondensierte Feuchtigkeit anstatt schwere Tropfen zu bilden.

    Ein rothaariger Wicht läuft durch den Urwald. Wie der Wind ist der Junge Curupira. Mit seiner Ferse klopft er an Bäume. Sind sie krank, stürzen sie bald? Curupiras Fersen zeigen nach vorn, seine Zehen nach hinten. Wer seinen Spuren folgt, schlägt die falsche Richtung ein.

    Die illegale Abholzung des Amazonasurwalds wird in Brasilien als einzigem Land der Welt per Satellit dokumentiert. Im Park des Amazonasforschungsinstituts sitzt unter Bäumen der Agraringenieur Arnaldo Carneiro, vor ihm ein Laptop mit einer Serie von Satellitenfotos. Das Problem lässt sich unschwer erkennen.Die gerodeten Flächen werden in Weiden und Felder verwandelt und erscheinen auf den Satellitenbildern rosarot. Arnaldo Carneiro deutet auf einen rosarot gefärbten Bogen. Er umschließt am Südrand die dunkelgrüne Fläche des Amazonasgebiets.

    "Die Abholzung konzentriert sich auf den Süden und Südosten des Amazonasgebiets. Im Laufe der letzten 30 Jahre entstand ein sogenannter Abholzungsgürtel am Südrand des Urwalds. Viel weniger Abholzung haben wir im Zentrum, oder im Norden. Das heißt, das Entwaldungsproblem ist nicht gleichmäßig auf den Urwald verteilt."

    In Brasilien beobachten Wissenschaftler wie Arnaldo Carneiro mit Besorgnis das, was sie "das Vordringen der Agrarfront" nennen. In den Jahren zwischen 1995 und 2004 fiel jedes Jahr eine Urwaldfläche fast so groß wie Belgien den Kettensägen zum Opfer. Carneiro:

    "Sojaplantagen besetzen ehemalige Weidegebiete. Als Ersatz für diese verlorenen Viehweiden werden neue Flächen im Urwald gerodet. Die Viehweiden verlagern sich Richtung Norden und so trägt der Sojaanbau indirekt zur Abholzung bei."

    Brasilien reagiert inzwischen schneller auf die Satellitenbilder mit ihren frischen Entwaldungsflächen. Einige Male schickte die Regierung sogar das Militär in den Urwald, um illegale Sägereien zu schließen. Doch der Trend ist noch lange nicht gestoppt. Und selbst wenn es gelingen sollte, das Problem unter Kontrolle zu bringen, bleibt die Frage, ob der Amazonas nicht längst Opfer eine neuen Bedrohung geworden ist: des Klimawandels. Die Jahre 2005 und 2010 zeigten erschreckend lange Trockenphasen. Das Niveau der Flüsse und Seen im Amazonasgebiet sank so stark, dass tonnenweise Fisch auf dem Trockenen lag. Sogar Trinkwasser wurde knapp und in einigen Regionen musste der Notstand ausgerufen werden. Die Behörden sind nervös. Was steckt hinter diesen Klimaextremen? Und wie wird der Urwald darauf reagieren? Atmosphärenphysiker Paulo Artaxo wehrt sich gegen Panikmache:

    "Die beiden Trockenheiten von 2005 und 2010 waren extrem, keine Frage. Aber zwei Einzelereignisse können wir nicht der globalen Klimaerwärmung oder menschlichem Einfluss zuschreiben. Zugegeben, wir finden neu ausgebildete Trockengebiete. Doch ich muss warnen: Nach nur 15 Jahren Klimaforschung im Amazonasgebiet können wir statistisch nicht belegen, ob es weniger, oder mehr, oder anders geregnet hat. Dass Temperaturen und Niederschläge hier extrem schwanken, ist normal."

    Ein rothaariger Wicht läuft durch den Urwald. Wie der Wind ist der Junge Curupira. Curupiras Fersen zeigen nach vorn, seine Zehen nach hinten. Wer seinen Spuren folgt, schlägt die falsche Richtung ein. Curupira verwirrt die Menschen: Die, die dem Wald nicht wohl wollen. Sie verlaufen sich, wenn sie Curupira sehen.

    Im Urwald ist es laut. Die Geräusche kommen von Grillen, Fröschen, Vögeln, Affen. Ein großes Tier ist wahrscheinlich nicht in der Nähe. Und wenn, dann wäre es leise. Über dem Blätterdach dagegen ist es still. Bis hier herauf dringen kaum Geräusche. Sanft überfliegen Vögel die Baumwipfel, Wolken entleeren alle paar Stunden ihre Wasserfracht, denn noch ist Regenzeit. Demnächst beginnt die trocknere Periode über dem Amazonasurwald, die bis September dauert. Im Moment ist die Sicht gestochen scharf.

    Auf der obersten Plattform des Forschungsturms stehen die Forstwissenschaftlerin Suelen Felizatto und der Biologe Bruce Nelson. Bis zum Horizont dehnt sich das wellige, grüne Blättergeflecht der Baumkronen. Von oben sehen die Urwaldbäume aus wie eine weiche, moosige Matratze. Bruce Nelson und Suelen Felizatto sind hier, weil sie wissen wollen, wie der Urwald auf die Trockenheiten reagiert. Sie betrachten einen kleinen Ausschnitt von etwa 50 Bäumen unterhalb des Turms. Diesen Ausschnitt fotografiert ihre fest installierte Videokamera seit vier Monaten alle zehn Minuten. Die beiden gehen einer neuen, völlig konträren These nach: Der, dass der Wald während der Trockenheit mehr Blätter ausbildet. Bruce Nelson:

    "Was unsere Arbeit angestoßen hat, war eine Serie von Artikeln in den letzten vier oder fünf Jahren über das sogenannte 'greening up', das Ergrünen des Amazonaswaldes. Hinter der Vermutung, dass der Urwald in Trockenzeiten mehr Blätter entwickelt, steht die Idee, dass der Urwald um einiges widerstandsfähiger ist als viele dachten. Dass er gegen längere Trockenperioden, die wegen der Klimaerwärmung zu erwarten sind, sehr gut gewappnet ist."

    Suelen Felizatto: "Es gibt die Theorie der Savannifizierung bestimmter Gebiete im Amazonasurwald. Doch wird aus Urwald wirklich Steppe werden? Oder wird der Wald einfach wachsen und noch mehr CO2 als bisher aus der Atmosphäre aufnehmen? Das ist die große Frage."

    Die Aussicht auf eine "Savannifizierung" des Urwaldes beunruhigt die wissenschaftliche Gemeinde seit einigen Jahren. Der Amazonas gilt als grüne Lunge des Planeten und liefert reichlich Sauerstoff. Zusätzlich gilt er auch als sogenannte CO2-Senke. Denn er nimmt eine große Menge des menschgemachten, klimaschädlichen CO2 aus der Atmosphäre auf und bindet es in seinen Blättern und seinem Holz. Nelson:

    "Wir fragen uns, ob das Wachstum des Amazonaswaldes vom Licht oder vom Regen abhängt. Wenn es mehr vom Licht abhängt, könnten Trockenperioden das Wachstum sogar beschleunigen."

    Suelen Felizatto: "Die Idee dahinter ist, dass bei Trockenheit die Lichtstrahlen besser zu den Bäumen durchdringen, weil es weniger Wolken gibt. Die Bäume nutzen das Mehr an Energie, um neue, junge Blätter auszubilden und erzielen so einen höheren Stoffumsatz."

    Suelen Felizatto hat mit etlichen Messproblemen zu kämpfen. Je nach Lichteinfall entstehen Schatten auf den Fotos, die ihre Berechnungen verderben. Heute hat sie feststellen können, dass ihre Kamera immer noch stabil steht. Aber leider schaukelt der Turm und auch die Bäume bewegen sich im Wind. Von den unzähligen Fotos der letzten vier Monate kann die Forstwissenschaftlerin nur 60 Fotos verwenden. Heute misst sie mit einem Lasergerät die Entfernung zu jedem einzelnen Baum. Dazu teilte sie ihr Foto in 200 Kästchen. Jedes Kästchen entspricht einem Baumausschnitt. Der bekommt, je nach Entfernung zur Kamera, einen Gewichtungsfaktor. Damit vermeidet die Forscherin eine Überbewertung der Bäume im Vordergrund. Der Vorteil ihrer Messmethode im Vergleich zu Satellitenbeobachtungen ist, dass ihr keine Wolken ins Bild kommen. Wird der Urwald ohne Regen klar kommen? Wird er sogar grüner? Noch können Bruce Nelson und Suelen Felizatto dazu nichts sagen. Nur eines wissen sie, so Nelson:

    "Die Temperaturen im Amazonasgebiet sind gestiegen. Wie überall auf der Welt wird es auch hier wärmer."

    Suelen Felizatto: "Wir haben noch nicht genug Daten, aber alle Leute hier sagen, dass es heißer und trockener geworden ist."

    Für das Amazonasgebiet liegen die Prognosen für den Temperaturanstieg laut Weltklimarat, dem IPCC, um 30 Prozent über denen für andere Regionen der Welt. Pessimisten veranschlagen bis zum Jahr 2100 ein Plus von acht Grad. Nach drei Stunden Arbeit auf dem Turm kündigt sich mit einem Rauschen eine tropische Regenfront an. Schnell beginnen Bruce Nelson und Suelen Felizatto den Abstieg auf den steilen Aluminiumleitern. Sie sind die Höhe und die steilen Leitern gewöhnt, aber ein Gewitter möchten sie hier oben nicht erleben. Die Taschen mit der Laserkamera und anderen Geräten haben sie oben in den Seilzug gehängt und hinabgleiten lassen. Unten angekommen nehmen sie mit einem Vierradmotorrad den mit Holzplatten befestigten Weg zurück zum Basiscamp.

    Wie wird der Regenwald am Amazonas auf den Klimawandel reagieren? – Verfechter der These vom Ergrünen des Urwalds stützen sich auf Satellitendaten. Auch Dalton Valeriano, Biologe und Umweltanalytiker am Raumfahrtinstitut São José dos Campos analysiert Satellitenfotos. Doch er kann darauf keine Hinweise für ein "Ergrünen" erkennen.

    "Neue Arbeiten zeigen, dass diese angeblich grüneren Urwaldsatellitenbilder Artefakte sind. Wolken verfälschen die Bilder, sie färben sie dunkler. Eine weitere Fehlerquelle sind die aus dem Urwaldschirm herausragenden Bäume. Sie verlieren in der Trockenzeit Blätter, was normal ist. Auch das verändert die Farbe der Fotos. Das ist wirklich eine fragwürdige These, dass der Urwald in der Trockenzeit mehr Blätter ausbildet, weil er dann das Sonnenlicht besser ausnutzen kann. Am Amazonas ist das Sonnenlicht nie ein begrenzender Faktor gewesen! Ich halte viele Publikationen zu dem Thema für übereilt. Wir wissen doch: Es gibt einen enormen Druck, schnell Ergebnisse zu veröffentlichen."

    Andererseits kann Dalton Valeriano sehr wohl belegen, dass ein Teil des Urwalds bereits geschädigt ist. Und das nicht nur dort, wo Kettensägen tiefe Wunden in den alten Wald geschlagen haben.

    "Das Klima im Abholzungsgürtel und auch das in der Nachbarschaft könnte sich bis zum Jahr 2070 von einem tropisch-feuchten in eine Art Savannenklima ändern. Das kommt der These der Savannifizierung nahe, gilt aber nur für diese Randregionen. Die Leute, die vor Jahren die Theorie der Savannifizierung entwickelten, benutzen heute ein weniger drastisches Vokabular. Sie nennen ihre Beobachtungen 'Sekundärwaldentwicklung'. Das heißt, der Wald am Rande des Abholzungsgürtels wird empfindlicher, gerät leichter in Brand. Die Primärwälder werden weniger, die Artenvielfalt wird abnehmen."

    Die These der Savannifizierung wurde nach den Trockenzeiten von 2005 und 2010 auch von den Medien als Schreckensszenario aufgegriffen. Noch weiß der Meteorologe Antônio Ocimar Manzi vom Klimazentrum im Amazonasforschungsinstitut in Manaus nicht, was er davon halten soll:

    "Seit 1902 wird hier in Manaus das Flussniveau gemessen. 2009 hatten wir im Hafen von Manaus den höchsten Wasserstand seit 100 Jahren. Dagegen hatten wir aber im vergangenen Jahr, 2010, den niedrigsten Wasserstand seit 100 Jahren. Diese Trockenheit von 2010 und auch die Trockenheit von 2005 betraf uns besonders hier im Westen des Amazonasgebiets. Ich denke, es ist nicht falsch zu sagen, dass diese Wetterextreme mit den globalen Klimaveränderungen zu tun haben könnten."

    Messungen aus den trockenen Jahren 2005 und 2010 zeigen, dass der Regenwald, der sonst wie eine CO2-Senke wirkt, kein CO2 mehr aus der Luft aufgenommen hat. Das sind beunruhigende Daten, denn sie zeigen: Trockenjahre am Amazonas könnten den Klimawandel global beschleunigen. Falls die Theorie des robusten Amazonasurwaldes, der in Trockenzeiten wächst und gedeiht, sich als falsch erweist, kann eines Tages der Kipp-Punkt erreicht sein: der Punkt, an dem das artenreiche Waldgebiet am Amazonas unweigerlich Stück für Stück austrocknet. Mit unkalkulierbaren Folgen für die ganze Welt.

    Wie der Wind ist der Junge Curupira. Die, die dem Wald nicht wohl wollen, führt Curupira in die Irre. Sie haben nur eine Wahl: sie müssen aus Lianen ein Gewebe flechten, es zu einer Kugel drücken, ein Ende hängt lose heraus. Das werfen sie Curupira zu und rufen, "Suche den Anfang." Curupira setzt sich unter einen Baum und sucht den Anfang. Er hat für nichts anderes mehr Augen. Jetzt findet der Verirrte seinen Weg nach Hause.