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Der virtuelle Chemie-Testkasten

Vor einem guten Jahrzehnt noch hatten Behörden und Industrie jährlich nur an die zehn, zwanzig chemische Stoffe ob ihrer potentiellen Gefährlichkeit zu bewerten. Doch in den 90er Jahren warnten dann Umweltschützer vor zunehmenden Gefahren einer chemischen Vielfalt. Nachdem die EU die sogenannte REACH-Richtlinie beschlossen hat, müssen die Chemiefirmen nun diese Wissenslücken schließen. Das kostet Geld, und Tierversuche sollen möglichst vermieden werden. Hilfe verspricht ein virtueller Werkzeugkasten, den die OECD ins Internet gestellt hat. Dank der Toolbox soll die Bewertung chemischer Stoffe erleichtert werden.

Von Suzanne Krause |
    Mit ein paar Mausklicks stöbert Bob Diderich durch die Toolbox. Diderich ist bei der OECD - der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - verantwortlich für die Umweltabteilung und das neue Computerprogramm zur vereinfachten Bewertung chemischer Substanzen. Dieser digitale Werkzeugkasten basiert auf einem einfachen Prinzip, QSAR-Methodik genannt:

    "Ein Toxikologe, wenn er einen Stoff bewertet, guckt er sich zuerst die Struktur an und sagt sich, so einen ähnlichen Stoff habe ich schon mal bewertet, vorgestern. Und der hatte die und die Eigenschaften. Wahrscheinlich hat der Stoff, den ich jetzt bewerte, ähnliche Eigenschaften. Und dann erst guckt er sich die Tierversuchsresultate an und bewertet die Gefährlichkeit des Stoffes. Und wir haben also versucht, mit dieser Toolbox diesen Gedankengang wieder herzustellen."

    Bei der Toolbox wurden erstmals alle existierenden QSAR-Modelle in einer Anwendung zusammengefasst. Die Datenbank umfasst 200.000 chemische Substanzen, ist also sehr reich bestückt. Diderich tippt eine chemische Struktur ein, einen Benzolring. Als erstes führt er einen Strukturvergleich mit anderen Stoffen durch. In Sekundenschnelle listet das Programm alle dem zu untersuchenden Benzolring ähnlichen Stoffe auf und vergleicht sie miteinander. Damit hat der Anwender einen Überblick über die Eigenschaften der Grundstruktur. Eigenschaften, die bei einem Teil der Vergleichsstoffe durch Tests schon erfasst wurden.

    "Zum Beispiel finde ich, dass ich für diesen Stoff eine wirklich spezifische Reaktionsmöglichkeit mit Eiweißen, mit Proteinen habe. Also dieser Stoff kann eine ganz spezifische Reaktion mit Proteinen eingehen. Es kann auch eine ganz spezifische Reaktion mit DNA, mit Erbgut eingehen. Das heißt also, dieser Stoff hat Möglichkeiten, gewisse Effekte in Säugetieren hervorzurufen. Ich weiß aber nicht, welche."

    Dass dieser Benzolring auf Proteine reagieren kann, bedeutet: Es ist möglich, dass die Substanz Hautallergien auslöst. Nach entsprechenden Tiertestresultaten sucht Diderich vergeblich. So erweitert er die Recherche auf die Stoffe, die dasselbe Reaktionsvermögen haben wie der Benzolring. Und wird fündig.

    "Wenn ich nach Stoffen suche, die dieselbe Möglichkeit haben, sich an Eiweiß zu binden, finde ich nur Stoffe, die im Tierversuch ein starkes Allergievermögen haben. Das heißt also, ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass mein Stoff, für den ich kein Tierversuchsresultat habe, dasselbe Resultat in einem Tierversuch ergeben würde."

    Bislang liefern die Toolbox-Daten Aufschluss über potentielle Schäden durch chemische Substanzen bei Wasserlebewesen und in Form von Hautallergien, Erbgutveränderungen und der Erzeugung von Krebs. Bob Diderich und seine Kollegen arbeiten außerdem daran, das QSAR-Computerprogramm aufzustocken, mit Angaben zur Auswirkung darüber, inwieweit chemische Substanzen sich auf die Geschlechtsorgane, auf das Nerven- und auch das Immunsystem auswirken können.

    "Über die nächsten Monate werden wir weitere Datenbanken zur Verfügung stellen, die der Benutzer selbst einladen kann, um das Programm noch nützlicher zu machen."

    Schulungen zur QSAR-Methode und zur OECD-Toolbox finden mittlerweile immer mehr Interesse bei all denen, die chemische Substanzen zu bewerten haben. Die Skepsis gegenüber dieser Analyse-Methode, die den Zulassungsbehörden bislang zu wenig transparent war, sinkt. Zur großen Freude von OECD-Experte Bob Diderich. Denn er ist überzeugt: Dank der Toolbox lassen sich in Kürze wesentlich mehr chemische Substanzen zuverlässig bewerten und damit Kosten sparen und viele Tierversuche überflüssig machen.