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Der Völkermord im Osmanischen Reich

In der Nacht vom 24. auf den 25. April 1915 begann das jungtürkische Regime eine Welle von Verhaftungen, die armenische Notablen und Intellektuelle im ganzen Osmanischen Reicht traf. Es war der Beginn einer Vernichtungspolitik, die darauf zielte, die osmanischen Armenier als nationale Gruppe im anatolischen Kernland der heutigen Türkei zu eliminieren.

Von Niels Kadritzke | 24.04.2005
    Ein Taufgottesdienst in der armenischen Kirche von Beyoglou, mitten in Istanbul. Genau einen Monat vor dem Tag, an dem Armenier in aller Welt um die Opfer der Vernichtungsaktion trauern, die 1915 von der Kriegsjunta der Jungtürken angeordnet wurde.

    Die Tatsache, dass heute in Istanbul und anderen türkischen Städten noch armenische Gemeinden existieren, beutet der türkische Staat für die Behauptung aus, es habe keine Massenvernichtung gegeben. Auf die Frage, warum von den zwei Millionen Armeniern des Osmanischen Reiches nur ein paar Hunderttausend den Ersten Weltkrieg überlebten, lautet die stereotype Antwort: Die anatolischen Armenier kollaborierten mit dem russischen Feind, deshalb wurden sie deportiert. Dabei sind leider viele umgekommen. Im Übrigen habe der Krieg auch viele türkische Opfer von armenischer Hand gefordert.

    Es gibt allerdings türkische Intellektuelle, die sich jenseits der Staatsideologie um die historische Wahrheit bemühen:

    "Natürlich beschloss man offiziell nur die Deportation aus den Kriegszonen im Osten. Aber wir wissen, dass die armenische Bevölkerung insgesamt deportiert wurde, mit Ausnahme der Armenier von Istanbul und Izmir. Und wir wissen auch, dass das diktatorische Regime irreguläre Banden beauftragt hat, die deportierten Armenier großenteils zu liquidieren."

    Was der Publizist Sahin Alpay weiß, ist den meisten Türken unbekannt. In ihren Schulbüchern steht nichts von staatlich rekrutierten Mordbanden, die häufig aus rivalisierenden Kurden bestanden. Und nichts von den Hungermärschen, die in der syrischen Wüste endeten und für die Deportierten den sicheren Tod bedeuteten.

    Ob man von Völkermord sprechen soll, ist unter den Historikern umstritten. Unbestreitbar ist, dass die Planer des Vernichtungsprogramms ein Anatolien ohne Armenier schaffen wollten. Der Chefplaner, Innenminister Talat Pascha, brüstete sich ein Jahr danach gegenüber einem deutschen Diplomaten:

    "Die armenische Frage existiert nicht mehr."

    Die staatlich geplante Vernichtung von etwa einer Million Armeniern war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das seit 1950 völkerrechtlich geächtet ist. Die offizielle Türkei ist nicht bereit, dieses Verbrechen anzuerkennen oder auch nur offen darüber zu diskutieren.

    "In der Türkei haben die offizielle Politik und Ideologie die historischen Kenntnisse, die Erinnerung an dieses Kapitel unterdrückt. Nur langsam erlangen wir heute mehr Informationen, schreiben mehr und mehr Historiker über das Geschehen, es geht also langsam voran."

    Doch zur Selbstaufklärung der Türken über ihre eigene Geschichte, wie sie dem optimistischen Intellektuellen Alpay vorschwebt, ist es noch ein weiter Weg. Eine 80 Jahre währende Geschichtspolitik hat eine "gesellschaftliche Amnesie" herbei geführt, klagt der Historiker Taner Akcam:

    "Der türkische Staat hat wie jeder Nationalstaat in seinem Erziehungssystem eine nationalistische Geschichtsschreibung entwickelt. Das Ergebnis ist ein historisches Unwissen, das besonders spürbar wird bei der Übergangsphase vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik."

    Die Republik war zwar ein erklärter Bruch mit der osmanischen Vergangenheit, doch die offizielle Türkei hat zu dieser Vergangenheit auch heute noch ein gespaltenes Verhältnis:

    "Einerseits setzt sich die offizielle Ideologie der modernen Türkei von der osmanischen Vergangenheit negativ ab. Andererseits sieht man sich als Erbe und Fortsetzung des osmanischen Staates. Aber das rührt auch daher, dass die Türkei von anderen als Fortsetzung des osmanischen Staates behandelt wird."

    Deshalb können die Politiker der türkischen Bevölkerung einreden, ein Schuldeingeständnis werde finanzielle oder gar territoriale Forderungen des Nachbarstaats Armenien nach sich ziehen. Solange die Menschen das glauben, wird sich der Traum von Intellektuellen wie Sahin Alpay kaum erfüllen:

    "Lasst uns alle Fakten diskutieren, um zu sehen, was sich damals wirklich ereignet hat. Und dann werden wir allmählich die Reife erlangen und uns mit diesen historischen Ereignissen auseinander setzen."

    Der Mut zur Wahrheit wird jedoch nicht ausreichen, meint Taner Akcam:

    "Der Weg zu einem Neubeginn muss auch von Mitgefühl getragen werden. Ohne die Bitte um Vergebung und den Mut zu vergeben, wird es keine Versöhnung geben können."