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Der Völkerphilosoph

Der französische Ethnologe Claude Levy-Strauss gilt als Begründer des ethnologischen Strukturalismus. Noch heute, hundert Jahre nach seiner Geburt, ist sein wissenschaftlicher Ansatz vor allem in der Sozialwissenschaft von entscheidender Bedeutung. Zu seinem hundertsten Geburtstag widmet ihm die Fondation Cartier eine Ausstellung von Paul Virilio und Raymond Depardon. Und das Musee du Quai Branly steht einen Tag ganz im Zeichen des berühmten Ethnologen.

Von Kathrin Hondl |
    Bon anniversaire Monsieur Lévi-Strauss! Der französische Altmeister der Ethnologie und Anthropologie Claude Lévi-Strauss feiert heute seinen 100. Geburtstag. Im Pariser Musée du Quai Branly, dem Museum für außereuropäische Kunst und Kulturen ist heute der ganze Tag allein Claude Lévi-Strauss gewidmet. Und auch jenseits dieser "journée spéciale" zum 100. Geburtstag zeigt sich die Aktualität des Denkens von Lévi-Strauss. Etwa in einer Ausstellung in der Fondation Cartier mit dem Titel "Terre Natale - Ailleurs commence ici" - auf Deutsch "Heimat(erde) - anderswo beginnt hier" - ein Gemeinschaftsprojekt des Filmemachers und Fotografen Raymond Depardon und des Urbanisten und Geschwindigkeitstheoretikers Paul Virilio.

    Bis 21 Uhr wollen sie heute durchlesen: Kulturministerin Christine Albanel und Jérôme Clément von arte, Julia Kristeva, Marc Augé, Bernard-Henri Lévy und alle, die sonst noch Rang und Namen haben in der Pariser "Intelligentsia". Alle lesen sie Lévi-Strauss im Musée du quai Branly. Dazu gibt es Sonderführungen durch die Sammlung, eine Foto-Ausstellung und die Enthüllung einer Ehrenplakette am Eingang des Théâtre Claude Lévi-Strauss. Ein halbes Jahrhundert nachdem sein erstes Buch erschien - Strukturale Anthropologie -, ist Claude Lévi-Strauss immer noch aktuell, sagt der Filmemacher und Fotograf Raymond Depardon:

    "Dieser Monsieur ist ein Schamane, ein Stammvater, ein alter Weiser. Wären wir ein Indianerstamm, wir würden ihn verehren. Und vielleicht sind wir ja so etwas wie ein Naturvolk, denn wir huldigen ihm. Und es ist tatsächlich sehr interessiert, Lévi-Strauss wieder zu lesen. Er hat sehr schöne Texte über die "zwei Welten" geschrieben, die eine, die er die Handelswelt nennt und die andere, die "terra indigena"."Terre natale" - Heimaterde heißt nun die Ausstellung in der Fondation Cartier, für die Raymond Depardon einen Film gedreht hat, den er als eine Hommage an den Altmeister Lévi-Strauss begreift.

    Auf einer riesigen Leinwand stehen uns überlebensgroß zwei Frauen vom Stamm der Yanomami-Indianer gegenüber: Nackte Oberkörper inmitten tiefgrüner Amazonas-Pflanzen, Anita und Salomé schauen uns an und reden.

    "Ich will unsere Wald-Erde schützen", so übersetzen Untertitel die Worte von Salomé. "Ich will keine Weißen hier haben. Wenn ich Hunger habe, esse ich Fisch, den ich selbst totschlage. Abends kann ich zufrieden schlafen gehen."Wenn Lévi-Strauss über diese vergessenen Völker, diese "Eingeborenen" spricht, darüber, dass er viel von ihnen gelernt hat, dann verstehe ich ihn sehr gut. All diese Völker, die man immer noch "primitiv" nennt, sind überhaupt nicht primitiv. Wir wissen, dass sie etwas haben, was vielleicht immer wertvoller wird. Sie haben gesunden Menschenverstand."

    Und ein geschärftes Bewusstsein für ihre dramatisch gefährdete Situation. Wie Gabriela, eine alte Frau vom Stamm der Kawesqar, die Depardon in Chile filmte und deren eigentümliche Sprache bald niemand mehr auf der Welt sprechen wird.

    "Die Kawesqar verschwinden", sagt Gabriela. "Wir sind nur noch zehn. Ich bin die einzige Frau. Wer wird den Dingen einen Namen geben können, wenn ich tot bin?"

    "Donner la parole" - "das Wort erteilen", so hat Raymond Depardon seinen eindrucksvollen Film genannt, der auch eine Bretonin von der Ile de Sein zu Wort kommen lässt oder Menschen vom Stamm der Afar in Äthiopien, die eine "Hymne an die Erde" singen.

    Ganz ohne Ton kommt dagegen Depardons zweiter Film aus - Bilder von einer Reise um die Welt in 14 Tagen - von Washington über Los Angeles, Honolulu, Tokio, Hoh-Chi-Min-Stadt und Singapur bis Kapstadt. Eine Reise, die Depardon unternommen hat, so sagt er, um sich Paul Virilio anzunähern, dem Urbanisten und Geschwindigkeitstheoretiker, verantwortlich für den zweiten Teil der Ausstellung. "Sesshaft ist, wer überall zu hause ist", sagt Virilio, "mit Mobiltelefon und Notebook, im Aufzug, Flugzeug oder ICE".

    "Das 21. Jahrhundert wird ein Jahrhundert großer Bevölkerungs-Bewegungen", erklärt er in einem Video, und er illustriert das mit einer Bilderflut. 48 Flachbildschirme zeigen Nachrichtenbilder - Bilder von Kriegen und Naturkatastrophen, von Grenzmauern und Flüchtlingslagern. Eine zweite Installation visualisiert statistische Daten der Migrationsbewegungen:

    "Wir erfahren, wie sich die Bevölkerungsdichte entwickelt, wieviel Geld Migranten jährlich in ihre Herkunftsländer schicken, aus welchen Ländern Flüchtlinge wohin strömen und: dass das Jahr 2007 einen historischen Wendepunkt markierte: Seit 2007 lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten."

    Und wie geht es weiter mit unserer "terre natale"? Vielleicht noch besser als die Statistik sagt es ein Yanomami-Indianer in dem Film von Raymond Depardon:

    "Wenn die Weißen mit ihren Maschinen in unsere 'Wald-Erde' kommen, werden sie das Wasser verschmutzen. Und Ihr werdet alle sterben wie wir. Glaubt nicht, dass allein die Yanomami sterben werden."