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Der vollkommene Blick

Teju Cole ist studierter Kunsthistoriker, Kenner klassischer Musik und als passionierter Straßenfotograf ein New Yorker zu Fuß. Alle drei Leidenschaften verbindet sein Großstadtroman "Open City": Was Cole seinem Ich-Erzähler an Konzertberichten, Literaturkritiken, kunstkritischen Essays und philosophischen Notizen in den Text diktiert, das lässt den Flaneur zu einem echten Dandy werden.

Von Martin Zähringer | 20.09.2012
    Julius, der Ich-Erzähler dieses Romans, arbeitet als Psychiater an einer Klinik in Manhattan. Er befindet sich im letzten Jahr seiner Facharztausbildung. Julius hat sich eben von seiner Freundin getrennt, die deutsche Mutter und der nigerianische Vater sind in seinem sozialen Leben nicht präsent. Das biologische Erbe aber bleibt bedeutsam. Denn es ist letztlich das Schwarz-Weiß seiner Herkunft, das die perspektivische Spannung in diesem Roman produziert. Einmal mehr geht es um die Eroberung der Stadt, und sie erfolgt einmal mehr zu Fuß:

    "Eines Abends lief ich einfach immer weiter, bis zur Houston Street, die ungefähr sieben Meilen entfernt lag, und fand mich schließlich in einem Zustand verwirrter Müdigkeit wieder. Ich musste kämpfen, um auf den Beinen zu bleiben."

    Auch das Flanieren will gelernt sein, und die Ökonomie des Wanderns in Manhattan begreift Julius schnell. Man kann sie auf dem Stadtplan genau nachvollziehen. "Kontrapunkte zum Arbeitsalltag" sieht der Liebhaber klassischer Musik zunächst in seinen Spaziergängen, aber mehr noch hat die Entwicklung dieses Helden mit ästhetischer Erkenntnis zu tun. Die anfängliche Empfindlichkeit des postmodernen Flaneurs in New York erinnert fast an seine Ursprünge im modernen Großstadtroman:

    "Anfänglich erlebte ich die Straßen als eine unaufhörliche Geräuschkulisse, ein Schock nach der Konzentration und relativen Ruhe des Tages, so als zerrisse jemand die Stille einer abgeschiedenen Kapelle mit einem dröhnenden Fernseher."

    Und so besteht die wichtigste Aufgabe darin, aus der unaufhörlichen Geräuschkulisse und der Flut sinnloser Informationen die besonderen Momente herauszufinden:

    "Jedes Viertel schien aus einem andern Stoff zu bestehen, einen anderen Luftdruck zu haben, eine andere psychische Aufladung: die strahlenden Lichter und verlassenen Läden, die Sozialbauten und Luxushotels, die Feuerleitern und Stadtparks. Ich sortierte weiter, vergeblich, bis die Formen ineinander verschmolzen und abstrakte Gestalten annahmen, die nichts mit der tatsächlichen Stadt zu tun hatten."

    Aber das ändert sich bald. Teil I des Romans hat folgendes Motto: Der Tod ist eine Vervollkommnung des Blicks. Todessehnsucht ist hier nicht das Thema, die Perfektion des Blickes schon. Julius erwähnt den Fotografen Henri Cartier-Bresson und dessen Maxime vom "entscheidenden Augenblick". Und bald ordnet auch Julius für sich entscheidende Augenblicke. Sein längst pensionierter Englischprofessor Saito - er kultiviert das Gedächtnis als mentale Musik in Jamben und Trochäen - trägt weiter zur Eleganz der ästhetischen Ordnung bei. Ein Beispiel für ihre stilistische Umsetzung im Text:

    "Als ich am folgenden Tag zu einer Lyriklesung im 92Y Community Center ging, nahm ich wieder den Umweg durch den Park, wo die Blätter in strahlenden Farben ihr Leben ließen und inmitten der Laubmassen die Weißkehlammern ihre Lockrufe ausstießen, um dann abwartend zu lauschen. Es hatte zuvor geregnet, und die zerklüfteten Wolken schoben sich gegeneinander, durchbrochen von Sonnenstrahlen. Die Zweige der Ahorne und Ulmen regten sich nicht. Der schwebende Bienenschwarm über einer Buchsbaumhecke erinnerte mich an gewisse Yoruba-Beinamen für Oldumare, den höchsten Gott: Der-wie-eine-Bienenwolke-im-Himmel-sitzt, Der-Blut-in-Kinder-verwandelt."

    Die ästhetische Idylle trügt. Julius hat kein poetisches Verhältnis zu dem afrikanischen Erbe in sich. Auch mit der schwarzen Kultur in New York wird er nicht so recht warm. Eine Reise nach Brüssel, wo er die deutsche Großmutter sucht, bringt intelligente Gespräche mit einem marokkanischen Intellektuellen über rassistische Zuschreibung, gewollte Differenz und postkoloniale Strukturen der Macht. Das ist Identitätsdiskurs auf der Höhe der Zeit. Aber auch Europa, die Wiege antiker wie aktueller Philosophie, ist kein archimedischer Punkt, von dem aus die eigene Bedeutung endlich zu fassen wäre. Und Nigeria bietet schon gar keinen Halt:

    "Wir erleben unser Dasein als Kontinuum, und erst wenn es hinter uns liegt, Vergangenheit wird, nehmen wir seine Brüche wahr. Die Vergangenheit, sofern man überhaupt davon sprechen kann, ist vor allem ein leerer Raum, eine Weite des Nichts, darin schwebend ein paar relevante Personen und Ereignisse. So war Nigeria für mich: größtenteils vergessen."

    Die Wiederkehr des psychisch Verdrängten erfolgt für Julius, als eine Frau aus seiner nigerianischen Jugend auftaucht. Sie wird den moralischen Aufriss seiner fragilen Identität erheblich stören. Aber die Desillusionierung des jungen Mannes hat in "Open City" eine sehr spezielle Funktion. Teil II hat zwar das Augustinus-Motto: "Ich habe in mir selbst gesucht". Doch sie kommen nicht von innen, die echten Denkanstöße. Der Musikfreund Julius erfährt sie in der Carnegie Hall - bei Sir Simon Rattle, dem New York Symphonic Orchestra und seinem Publikum:

    "Wenn ich in der Pause in der Warteschlange vor der Toilette stehe, werde ich manchmal angesehen wie Ota Benga, der Mann vom kongolesischen Mbuti-Stamm, der 1906 im Affenhaus des Bronx Zoo zur Schau gestellt wurde."

    Selbst die Universalität der Kunst schützt nicht vor den Exklusionen des Anderen, und nicht einmal in New York. Gustav Mahler gehört den Weißen. Und deshalb wird Julius' ästhetische Aufmerksamkeit politisch geschärft. Eine Geschichte unter vielen: der Psychiater Julius betreut eine Patientin, die ein Buch über das Monster von New Amsterdam geschrieben hat. Sie ist Assistenzprofessorin an der New York University und Mitglied des Delaware-Stammes, und das Monster war ein holländischer Bürgermeister und Indianerschlächter im New York des 17. Jahrhunderts. Die Autorin, von ihren Recherchen auch psychisch belastet, beklagt im Gespräch die Abwesenheit jeglicher Native Americans im heutigen Manhattan. Gleichzeitig spricht sie vom kollektiven Unwillen zur Erinnerung. Und gerade mit solchen Geschichten bringt dieser Flaneur das kollektiv Verdrängte in New York zum Ausdruck. Das sind "entscheidende Augenblicke" einer anderen Erinnerungskultur in einem ausgezeichneten New York Roman.


    Teju Cole: "Open City". Roman, Aus dem Amerikanischen von Christine Richter-Nilsson. Suhrkamp 2012, 335 Seiten. 22, 95 Euro