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Der Vorleser ist tot

Gert Westphal ist als Vorleser der Nation bezeichnet worden. Sein Reich war das Vorlesen auf der Bühne, für Schallplatten, Kassetten und CDs. Nicht nur den ganzen Thomas Mann, auch den ganzen Fontane hat er aufgenommen, außerdem Goethe, Heine, Hesse und Benn.

Christoph Schmitz im Gespräch mit dem Regisseur Bernd Plagemann und dem Schaupieler Will Quadflieg. | 11.11.2002
    Beitrag mit einem Ausschnitt aus den Buddenbrooks als Real-Audio

    Gert Westphal ist als Vorleser der Nation bezeichnet worden. Katja Mann, Thomas Manns Frau, nannte ihn 'des Dichters oberster Mund'. Unvergesslich Gert Westphals Lesung der 'Buddenbrooks'.

    1920 ist er in Dresden zur Welt gekommen. In Dresden hat er auch die Schauspielschule besucht. In Zürich gehörte er bis 1980 über 20 Jahre lang zum Ensemble des Schauspielhauses. Gert Westphal hat auch Regie für das Theater, für das Hörspiel geführt. Sein eigentliches Reich aber war das Vorlesen auf der Bühne, für Schallplatten, Kassetten und CDs. Nicht nur den ganzen Thomas Mann, auch den ganzen Fontane hat er aufgenommen, außerdem Goethe, Heine, Hesse und Benn, um nur einige Autoren zu nennen. Lange vor dem Hörbuch-Boom war er bei uns die Stimme der Weltliteratur. Im vergangenen Juli noch hat er im Deutschlandfunk Auskunft über seine Arbeit mit Texten gegeben:

    Gert Westphal: Es hängt zusammen mit der Mündlichkeit, die in einem guten Buch versteckt sein muss, und die muss man, wenn man Vorleser des Buches werden will, eben als solche erkennen. Bei Fontane, bei Thomas Mann ist die Mündlichkeit für mich so überwältigend, dass ich sie gar nicht stumm lesen könnte – auch privat nicht. Wenn ich nicht bei einem Text auf Seite 5 spätestens anfange laut zu murmeln, dann ist er nicht meiner. Dann wird das nichts. Man muss ja den selben Rhythmus im Blut wie der Autor haben, wenn man sein Vorleser sein will und werden will. Das ist der epische Fluss. Ich spreche ja auch nicht Komma und Punkt, sondern bei mir geht es weiter. Die Interpunktionszeichen sind Hilfen, aber keine Gesetze. Der epische Fluss Lebensmusik muss über Abschnitte, über ganze Enden von Passagen hinweg weitergehen. Das leistet Thomas Mann, der ja selber ein so exzellenter Vorleser seiner Sachen war, vorbildlich.

    Gert Westphal im Deutschlandfunk über seine literarische Vortragskunst. Einer der mit Gert Westphal über viele Jahre zusammengearbeitet hat ist Bernd Plagemann. Als Leiter der literarischen Produktionen der 'Deutschen Grammophon' hat Bernd Plagemann in Funktion des Produzenten und Regisseurs mit Gert Westphal unter anderem Thomas Mann und Theodor Fontane aufgenommen. Was hat Gert Westphal als Sprecher ausgezeichnet, habe ich Bernd Plagemann gefragt.

    Bernd Plagemann: Seine Kunst war, Sprache lebendig werden zu lassen. Seine Kunst bestand darin, Personen, einzelne Figuren nicht zu theatralisieren. Er war einfach der Geist der Erzählung. Er hat den Abstand von oben gewahrt und war der Geist der Erzählung – mit hohem intellektuellen Niveau, aber von innen gelesen und gesprochen.

    Heute, wenn man den Namen Gert Westphal hört, erkennt man seine große Leistung an, aber in den letzten Jahren hieß es dann doch immer mal wieder: Ach, Gert Westphal mit seiner alten Schule. Was war diese alte Schule? Was hat er geleistet, was man heute nicht mehr leistet?

    Bernd Plagemann: Die alte Schule war erst einmal einfach Bildung und Kultur. Da war nichts mit so einmal kurz drüberlesen. Nein, er war wie sein Kollegen Will Quadflieg. Ich habe ja mit denen gemeinsam Goethe und Schiller gemacht - 'Der Götter zweite Jugend', auch als Theaterstück. Es war vergeistigt beseelt.

    Wie war denn der menschliche Umgang mit ihm während der Arbeit?

    Bernd Plagemann: Großartig. Vor allen Dingen auch mit seiner Frau zusammen, Gisela Zoch, die ja auch selbst Autorin ist und zum Beispiel den Nachlass von Mascha Kaleko verwaltet. Nein, nein, das war Freundschaft, im übertragenen Sinne Liebe.

    Der Regisseur Bernd Plagemann über Gert Westphal. Einer von Westphals engsten Freunden war – gerade wurde er erwähnt – der Schauspieler Will Quadflieg, sechs Jahre älter als sein verstorbener Freund, mit dem er oft zusammengearbeitet hat. Auch mit Will Quadflieg habe ich über sein Verhältnis mit Gert Westphal gesprochen:

    Will Quadflieg: Es war eine gute Freundschaft, eine ehrliche Freundschaft. Wir haben uns nie etwas vorgemacht. Wir haben immer zusammengearbeitet und immer das festgestellt, was das Trockenste und Richtigste und Stimmenste bei einer Sache war. Er hat ja auch viel Regie in Salzburg geführt. Wir haben in Salzburg viel zusammengemacht, und ich bin immer sehr pünktlich gewesen, wenn wir zusammen aufgetreten sind. Das ist ja leider nur einmal bei dieser Goethe-Schiller-Sache auch wirklich zustande gekommen. Wir haben dann ganz klar und vernünftig die Dinge nebeneinander gesagt, die in dem Manuskript standen und die so interessant für die Begegnung dieser großen Geister waren. Wenn Schiller an einer bestimmten Stelle sagte - Ich betrachte ihn wie eine stolze Prüde, der man ein Kind machen muss, um sie vor der Welt zu demütigen -, dann war das damals eine ungeheure Sensation. Aber danach haben die beiden Männer ja Unbeschreibliches und noch wunderbare Dinge zusammen gemacht und zusammen geschrieben, und ihre Briefe sind das Schönste, das Aufregendste und das Beste, was ich jedem jungen Menschen anbieten und auch vorschlagen darf. Deshalb ist auch seine Fähigkeit, die deutsche Sprache zu sprechen, vorzutragen, so einzigartig gewesen. So beneidenswert einzigartig. Wenn der Thomas Mann gelesen hat, dann war das eine so klare und durchdachte Sache, wo die Atemzüge an der richtigen Stelle saßen, und wissen Sie, das ist das Entscheidende bei Betonungen.

    Wie haben Sie denn, Herr Quadflieg, Gert Westphal als Schauspieler gesehen?

    Will Quadflieg: Als Schauspieler kannte ich ihn weniger. Ich kannte ihn nur als Sprecher und das war für mein Gefühl vorbildlich und einzigartig. Wissen Sie, das ist eine Sache der Persönlichkeit. Genau das ist das Geheimnis, worum es eigentlich geht. Ihm hat man ja immer zugehört, und sehr genau zugehört, weil er einfach in seinen Betonungen genau stimmend und richtig war. Er hat nie über etwas hinweggelesen. Er hat einfach die Dinge, die der Dichter ihm angeboten hat, klar und vernünftig ausgesprochen, und das war natürlich das Geheimnisvolle bei der ganzen Sache.

    Will Quadflieg über den Schauspieler und Sprecher Gert Westphal, der gestern im Alter von 82 Jahren gestorben ist.

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