Meurer: Wenn Blocher klar die Wahlen gewinnt, stärkste Partei wird, was spricht dagegen, ihn in die Regierung aufzunehmen?
Gross: Dagegen sprach für mich, dass die Schweiz lernen muss, sich zu entscheiden. Man kann nicht mehr einfach alle Großen in die Regierung stellen, und Feuer und Wasser zusammen in die Regierung stellen. Die Schweiz hat lange Zeit nicht mehr gelernt, sich zu entscheiden. Gestern hat die Bundesversammlung entschieden, aber gegen die Linke und für einen Rechtsrutsch in der Schweiz-Regierung, für Blocher.
Meurer: Würden Sie dann sagen, das Prinzip des Konsenses, also alle Parteien gehören in die Regierung, ist jetzt gescheitert?
Gross: Formal noch nicht ganz, aber faktisch schon. Ich glaube auch nicht, dass man von einem Konsensmodell sprechen kann. Seit 1959 gab es eine arithmetische und eine inhaltliche Konkordanz, eine sachpolitische Gemeinschaft, in der man deshalb die Stärksten reinnahm, weil man sich davor schützen oder bewahren wollte, ständig Volksbegehren und Referenden zu ergreifen. Heute ist aber die sachpolitische Gemeinsamkeit erschöpft. Die Schweiz muss entscheiden, ob sie in der Regierung eher eine rechte Ausrichtung oder eine sozialliberale Ausrichtung möchte, ohne dass sie deswegen die Rahmenumstände zum Beispiel der direkten Demokratie in Frage stellen muss.
Meurer: Nun nennt sich ja, Herr Gross, dieses Modell "Zauberformel". Das heißt, im Bundesrat sitzen 7 Regierungsmitglieder, zwei von drei großen Parteien, bisher einer von der Schweizerischen Volkspartei, jetzt mit Christoph Blocher zwei. Würden Sie sagen, jetzt ist Schluss mit der Zauberformel?
Gross: Die Zauberformel bezog sich auf die Formel der Zusammensetzung, die man 1959 in der Hochkonjunktur, im Kalten Krieg, als es der Schweiz sehr gut ging, gewählt hatte. Diese Formel ist jetzt geknackt worden. Seit 131 Jahren zum ersten Mal ist jetzt ein Bundesrat abgewählt worden, leider, nämlich die dritte Frau, die in die Regierung hineinkam. Diese Formel ist weg. Die Grundstruktur, die zu dieser Formel führte, ist noch nicht weg. Ich glaube aber schon, dass die Schweiz merkt, dass die Regierung kein Dach mehr ist für das ganze Volk, sondern heute eigentlich nur noch den rechtsbürgerlichen Teil der Bevölkerung im wesentlichen abdeckt. Es geht auch niemandem darum, dass man in der Regierung wechselnde Mehrheiten hinkriegt. Das ist vielleicht für deutsche Ohren sehr seltsam. Die neue Regierung hat aber so ein Schwergewicht im rechten Teil, dass es kaum anzunehmen ist, dass die beiden Sozialdemokraten ab und zu eine Mehrheit kriegen. Das widerspricht der bisherigen schweizerischen Regierungskultur.
Meurer: Empfehlen Sie dann, Herr Gross, dass die Sozialdemokraten aus dem Bundesrat ausziehen sollen?
Gross: In der Politik, Herr Meurer, sollte man nie freiwillig Machtpositionen aufgeben. Deshalb wird das nicht unmittelbar und bald der Fall sein. Es gibt eine Diskussion in der sozialdemokratischen Partei darüber. Es wird in Graz im März einen außerordentlichen Parteitag geben. Die Frage wird sich aber erst dann stellen, wenn einer oder beide Bundesräte aus anderen Gründen, aus Altersgründen und so weiter zurücktreten werden, oder wenn die, sagen wir mal, die Sozialdemokraten oder die nicht Privilegierten in der Schweiz merken, dass sie in der Regierung zu Alibifiguren geworden sind, die keine Wirkung haben. Dann werden wir uns fragen, ob sich das lohnt, ob es nicht andere Wege gibt, die eher zum besseren Ziel führen?
Meurer: Zu Christoph Blocher: Wir haben ja einige Beispiele, wo Volkstribune, Rechtspopulisten dann scheitern, wenn sie Regierungsverantwortung übernehmen. Kann das nicht auch im Falle Blocher so sein?
Gross: Das war eine der optimistischen Thesen. Man wird damit aber dem Herrn Blocher nicht gerecht, glaube ich. Der Vergleich mit Schill ist auch ein bisschen falsch. Das ist, als ob man eine Regionalliga, also die Hamburger Regionalliga, mit München oder Dortmund in der Champions League vergleicht. Der richtige Vergleich mit Deutschland ist eher der mit Franz-Josef Strauß. Der Blocher ist ein schweizerischer Franz-Josef Strauß, mit viel Geld noch dazu. Das hatte Franz-Josef Strauß in dieser Form glaube ich nicht. Man darf auch sagen: Die CSU ist von ihrem Typus her eine moderne, traditionsbewusste, aber auch sehr in der alten Kultur verhaftete Partei, und sie war und ist das Vorbild der SVP. Die SVP ist sehr vergleichbar mit der CSU. Wenn, dann ist Blocher eher mit Strauß vergleichbar, vielleicht auch ein bisschen mit Berlusconi und weniger mit Schill, Haider oder Le Pen.
Meurer: Welchen Schluss ziehen Sie daraus? Wie wird sich Blocher in der Regierung verhalten?
Gross: Blocher wird in der Regierung weiterhin versuchen, die Kombination eines populistischen Volkstribuns mit einem Staatsmann in einem Spagat zu vereinen. Er wird noch für viel Aufregung sorgen. Der Zuwachs der nationalkonservativen Bewegung in der Schweiz wird noch zunehmen, und zwar in dem Ausmaß, wie die Europa-Frage in der Schweiz wieder aktuell werden wird. So schnell werden wir Blocher leider nicht auf dem Misthaufen der Geschichte landen sehen.
Meurer: Der Schweizer Nationalrat Andreas Gross von der Sozialdemokratischen Partei bei uns im Deutschlandfunk. Herr Gross, vielen Dank und auf Wiederhören.
Gross: Danke Ihnen auch.