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"Der war so was von schwarz..."

Bei "Bild" war er Hans Esser, in den Fabriken des Ruhrgebiets hieß er Ali und war ganz unten. Jetzt ist Enthüllungsjournalist Günter Wallraff als Schwarzer durch Deutschland gereist.

Von Mirko Smiljanic | 19.10.2009
    Günter Wallraff war wieder unterwegs und hat schier unglaubliche Geschichten mitgebracht aus einem, wie sein Verlag Kiepenheuer & Witsch schreibt, "reichen, armen Land". Wallraff hat undercover für den Discounter Lidl Brötchen gebacken, er hat die "unfeine Küche" eines Edelrestaurants kennengelernt, das erbärmliche Leben von Obdachlosen im Winter, die Abzocke im Callcenter, er war ratsuchender Unternehmer bei einem Arbeitgeberanwalt, und natürlich ist er in die Rolle seines Lebens geschlüpft, in die eines Machtlosen, eines Menschen, der ganz unten steht und die Breitseiten des alltäglichen Rassismus täglich abbekommt: Wallraff hat sich als Schwarzer verkleidet! Nach einer Wohnungsbesichtigung in Köln-Nippes zum Beispiel befragt seine Mitarbeiterin - ebenfalls getarnt als Wohnungssuchende - die Vermieterin, wer denn der Schwarze gewesen sei, der da gerade das Haus verlassen habe:

    "Der war so was von schwarz und dann die Haare und ... nein! Ich komme da gar nicht drüber weg. Ich kann das am Telefon ja gar nicht erkennen. Er sprach ja ein gutes Deutsch. Das kann man ja nicht sehen, ob der schwarz ist. Also, der war so schwarz wie der Heidi Klum ihrer. Deswegen war ich so entsetzt."

    Alltäglicher Rassismus in Köln, alltäglicher Rassismus aber auch beim Wandern im Bergischen Land, auf einem Campingplatz im Teutoburger Wald und in einer Berliner Schrebergartenkolonie: Viele gehen auf Distanz zum "Neger", er hat schlechte Karten. Ist das erstaunlich? Leider nein! Muss man sich, um das herauszubekommen, mit Theaterschminke und Perücke in einen Farbigen verwandeln, dessen Maskerade übrigens ungewollt komische Assoziationen zum Kölner Karneval wachruft? Ebenfalls nein! Dass in Deutschland bestimmte gesellschaftliche Kreise Farbigen mit Ablehnung gegenüberstehen, ist nichts Neues, die Warnung des ehemaligen Regierungssprechers Uwe-Karsten Heye, als Schwarzer bestimmte Gegenden in Brandenburg zu meiden, noch in guter Erinnerung. Weder neu noch überraschend sind auch Wallraffs Erlebnisse in einem Callcenter. Wie man Systemlotto-Scheine verkauft, erklärt sein Coach so:

    "Das Gespräch weich aufbauen, dann festklopfen! Behaupten, wir hätten vor Jahren schon mehrfach den Jackpot geknackt. Das können die ja doch nicht überprüfen. Und immer nur positiv argumentieren. Wenn euch jemand blöd kommt mit den Argument, ich will gar kein Lotto spielen, haltet dagegen: Das ist ja richtig, deswegen rufe ich Sie ja an. Hartz-IV-Empfängern und anderen Mittellosen sollen wir flüstern: Auch Sie sollten endlich mal auf der Sonnenseite des Lebens stehen."

    So reihen sich Wallraffs Expeditionserlebnisse aus Deutschlands Landesinnerem in gewohnter Manier aneinander. Packend bis empörend auf 208 Seiten beschreibt er das Elend derer, die ganz unten und ohne Perspektive sind, die nichts weiter haben als ihre Arbeitskraft und schamlos ausgebeutet werden. Zum Beispiel in einer Großbäckerei im Hunsrück, die für den Billigdiscounter Lidl Brötchen backt: "Lidl lohnt sich".

    "Wenn Lidl Druck macht, werden Erholungszeiten nicht eingehalten und Arbeitsschutzbestimmungen außer Kraft gesetzt. Dann kommt es vor, dass jemand um sechs Uhr von der Nachtschicht kommt, 40 Kilometer nach Hause fährt und zur Spätschicht um 14 Uhr wieder antreten muss. Die vom Gesetzgeber vorgeschriebene mindestens elfeinhalbstündige Erholungszeit gilt hier nicht."

    Auch das ist weder neu und aktuell schon gar nicht, die Lidl-Geschichte liegt mehr als eineinhalb Jahre zurück und wurde breit in den Medien behandelt. Vergleichbares gilt auch für die anderen Geschichten. Warum also erscheint dieses Buch zu diesem Zeitpunkt? Drei Antworten gibt es auf diese Frage: weil sich Bücher im Umfeld der Frankfurter Buchmesse gut verkaufen! Weil der Film zum Buch morgen in Köln Premiere hat! Und drittens, weil Günter Wallraff einfach noch mal wissen will, ob seine Methode noch funktioniert! Undercover in die Rolle von Rechtlosen und Ausgebeuteten schlüpfen, um ihnen eine Stimme zu geben. Dies ist wahrscheinlich das Erstaunlichste: Die Methode funktioniert immer noch. Obwohl der Empörungsjournalismus Wallraff'scher Prägung mittlerweile gewisse Abnutzungserscheinungen zeigt; obwohl dieses Buch nur vordergründig die Armen und Entrechteten ins Zentrum rückt, denn im Mittelpunkt steht vor allem einer: Günter Wallraff. Allein auf dem Einband ist er vier Mal abgebildet, im gesamten Buch rund 25 Mal. Trotzdem ist das Buch gut und notwendig, und zwar wegen einer simplen Tatsache: Die beschriebenen Missstände sind so verbreitet, dass dagegen ankämpfende Stimmen gar nicht laut genug sein können.

    "Mittlerweile arbeitet fast jeder vierte Beschäftigte für einen Niedriglohn, die Zahl der Leiharbeiter schnellt nach oben; ihre Arbeitsbedingungen gehören im westdeutschen Vergleich zu den schlechtesten. Auch dank Wolfgang Clement, Wirtschafts- und Arbeitsminister unter Gerhard Schröder und zuständig für die entsprechenden Gesetze im Interesse der Leiharbeitsunternehmen, der später zu einem der größten dieser Branche auf einen hoch dotierten Beraterposten wechselte."

    Auch das macht den Charme diese Buches aus: Freund und Feind sind klar definiert, lästige Überschneidungen kommen nur selten vor. Günter Wallraff schreibt schnörkellos und direkt, nennt Namen und scheut keine Auseinandersetzung. Das ist gut so, zumal er bei seinen Expeditionen ins Landesinnere mit Schrecken festgestellt hat:

    "Ganz unten ist überall."

    Günter Wallraff: Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen ins Landesinnere. Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.
    208 Seiten, 13, 95 Euro.